Ein Buch, auf das die Welt 60 Jahre warten musste: große Literatur, in der Aktivismus und Poesie in explosiver Weise aufeinandertreffen "Nachbarn" ist eines jener seltenen Werke in der Literatur, die ihre Zeit einfangen und ihr doch weit voraus sind. Diane Oliver erkundet darin die sich wandelnden sozialen Umstände: Beäugt von den Nachbarn, fragen sich Ellie und ihre Familie, ob es richtig ist, den kleinen Bruder morgen als einziges Kind auf die Schule der Weißen zu schicken. Ein Paar wird durch rassistische Übergriffe dazu getrieben, im Wald zu leben, und entwickelt eine mörderische Wut. Meg heiratet einen Schwarzen, doch die Liebe fordert über die Grenzen der Hautfarbe ihren Preis. Über allem könnte die Frage stehen: Gibt es einen Unterschied zwischen dem, was für die Gesellschaft am besten ist, und dem, was das Individuum braucht? Oliver geht es immer um beides, um das Politische und das Persönliche, und damit um allgemeingültige Fragen unserer Existenz und unseres Miteinanders. "Diane Oliver ist die größte amerikanische Autorin des 20. Jahrhunderts. Mit ihr reise ich in die Zeit der Bürgerrechtsbewegung und in die Seele der Menschen. Wenn Nina Simone die High Priestess of Soul war, ist Diane Oliver die High Priestess of Literature." Julia Franck "Diane Olivers überwältigende Geschichten tauchen in einer Zeit wieder auf, in der uns die Brutalität des Rassismus immer wieder vor Augen geführt werden muss. Oliver ist weder an Raum noch an Zeit gebunden und gibt uns ergreifende Einblicke in das Leben derjenigen, deren Menschlichkeit ständig verleugnet wird." Emilia Roig
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Wie kann man mit 22 Jahren schon so souverän schreiben, fragt sich Rezensentin Nora Karches nach der Lektüre von Diane Olivers Kurzgeschichten. Oliver starb zwar sehr früh, hinterließ aber viele Kurzgeschichten, die sich vor allem mit der "psychischen Dimension von Rassismus" beschäftigen, erfahren wir. Dabei sei nicht jede Geschichte, Oliver wechselt oft das Genre, gelungen, aber die meisten überzeugten durch eine hohe Qualität, findet die Kritikerin. Die Autorin erzählt sehr plastisch, so Karches, beispielsweise von einer Mutter von fünf Kindern, die sich eigentlich nur ein ruhiges Leben wünscht oder von dem schwarzen Jungen Tommy, dessen Eltern sich unsicher sind, ob sie ihn auf eine weiße Schule gehen lassen sollten. Oliver macht all diese Dilemmata erfahrbar und zeigt die gesellschaftspolitischen Verwerfungen jener Jahre, in denen Rassentrennung verboten, aber gelebte Praxis war, lobt die Kritikerin schließlich.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Ein sensationeller Fund.« Süddeutsche Zeitung 20240131
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.01.2024Ein sensationeller Fund
Diane Oliver kam 1966 mit nur 22 Jahren ums Leben.
Jetzt erst entdeckt die Literaturwelt, was sie da verloren hat.
VON MARIE SCHMIDT
Es war der berühmteste erste Schultag der Vereinigten Staaten. Und die Frage ist bis heute, ob seine Geschichte gut ausgeht.
Am Montag, den 14. November 1960, wird die sechsjährige Ruby Bridges von vier U. S. Marshalls in die William-Frantz-Grundschule in New Orleans gebracht. Die Polizisten sind zu ihrem Schutz da und raten, sich nicht umzuschauen, damit sie die rassistischen Transparente nicht sieht, mit denen Eltern anderer Kinder und Unbeteiligte gegen ihren Schulbesuch demonstrieren. Als sie im Klassenzimmer ankommt, ist sie die einzige Schülerin. Die Eltern der anderen haben ihre Kinder von der Schule genommen.
Erst kurz zuvor hatte der Bundesstaat Louisiana die Segregation an Grundschulen in New Orleans aufgehoben, 1954 erklärte das Oberste Gericht der USA in einem unter dem Namen „Brown v. Board of Education“ bekannten Grundsatzurteil getrennte Schulen für weiße und für afroamerikanische Kinder für verfassungswidrig. Ruby, das jüngste der ersten schwarzen Kinder ihrer Schule, erlebte die „Integration“ als monatelangen Spießrutenlauf.
Ruby Bridges ist heute, im Jahr 2024, eine Bürgerrechtsikone und ihr Schulzeit lange her. Könnte man meinen. Wenn nicht seit einigen Jahren Elternverbände in Bundesstaaten wie Tennessee, Florida und Texas versuchen würden, ihre Bücher oder eine Verfilmung ihrer Lebensgeschichte von den Schulen ihrer Kinder zu verbannen. Mit dem verdrehten Argument, Geschichten über die Segregation, die Bürgerrechtsbewegung und den rassistischen Backlash würden Kinder mit gesellschaftlicher Ungleichheit konfrontieren und könnten in ihnen „Unwohlsein“ oder „Schuld“ auslösen. Mit Bestimmungen, die einen täuschenden Moment lang klingen, als wären sie gegen Vorurteile gegen Hautfarben, Geschlecht und solche Merkmale gerichtet, betreiben diese Gruppen offen die Verdrängung gewaltvoller Teile der amerikanischen Geschichte.
Zugleich erscheint jetzt ein Buch, in dem ein paar ihrer schmerzhaftesten Augenblicke aufgehoben sind, wie in einer Flaschenpost aus der Vergangenheit: die Short Storys von Diane Oliver, die 1966 als Beifahrerin bei einem Motorradunfall ums Leben kam. In ihrer bekanntesten Geschichte „Nachbarn“ erzählt sie, was so ein erster Schultag wie der von Ruby Bridges für eine Familie der frühen Sechziger bedeutete. Wie er sich angefühlt hat.
Diane Oliver war erst 22, als sie starb. Sie machte gerade ihren Master im berühmten Writer’s Workshop der Universität in Iowa – als eine der sehr wenigen schwarzen Studierenden dort – und hatte schon vier Storys in Zeitschriften veröffentlicht. Nach ihrem Tod erschienen zwei weitere. Dann wurde sie vergessen. Für „Nachbarn“ war sie mit einem Literaturpreis ausgezeichnet worden. Jetzt gibt diese Erzählung einer Sammlung den Titel, die auch bislang unentdeckte Texte enthält. Die britische Literaturagentin Elise Dillsworth hat sie bei der Schwester und der Nichte von Diane Oliver auftreiben können.
Diese Zeitkapsel zu öffnen, ist ein erschütterndes Erlebnis. Die Unsicherheit einer Autorin, die sich mit dem Schreiben als Handwerk erst vertraut macht, kontert Oliver mit nüchterner Klarheit. Erst mal aufs Papier bringen, was da ist, was sie vor Augen hat, scheint ihr Ziel zu sein. Das mag noch nicht die große, subtile Kunst ergeben, aber gerade in seiner angreifbaren Geradlinigkeit wirkt dieses Erzählen völlig unverstaubt.
Diane Olivers Ton könnte an die nüchternen Realistinnen ihrer Zeit denken lassen, an Sylvia Plath, Marlen Haushofer. Aber auch heute noch könnte jemand so schreiben, allemal so wie die präzise, unaufdringliche deutsche Übersetzung klingt. Zugleich beschäftigen sich alle ihre überlieferten Erzählungen mit dem historischen Moment, den Oliver erlebte: Als die Gleichberechtigung der Schwarzen in den USA durch die Kämpfe der Bürgerrechtsbewegung und maßgebliche Gerichtsentscheidungen in greifbare Nähe gerückt war. Und die dominierenden Weißen sie scharf bekämpften, um genau die Privilegien zu bewahren, von denen Elternverbände heute noch nicht möchten, dass sie vor ihren Kindern thematisiert werden.
Die Titelgeschichte spielt am Tag vor dem ersten Schultag von Tommy. Oliver erzählt aus der Sicht der älteren Schwester Ellie und schält das Ereignis aus ihrem Alltag, ihren Familienpflichten heraus. Im Vordergrund der Geschichte sieht man, wie Ellie von der Arbeit nach Hause läuft, um ihren kleinen Bruder zu baden, ihn ins Bett zu bringen, mit der Mutter Essen zu machen. Im Hintergrund ist scharf zu erkennen, dass der Schulbesuch des nächsten Tages ein Politikum ist: „Ihr war klar, dass die Eltern Tommy nie an die Jefferson Davis hätten gehen lassen, wenn ihnen im August jemand gesagt hätte, dass er der Einzige wäre.“ Briefe kommen, in denen die Familie bedroht wird, im Wohnzimmer sitzen Bürgerrechtler mit dem Vater zusammen, Zeitungen berichten. Ein Sprengsatz fliegt in den Vorgarten, die Polizei schneit herein, die Nachbarn gucken weg: „Sie hatten Angst, ihr Haus würde das nächste sein“.
Von einem tapferen Moment in der Geschichte der afroamerikanischen Emanzipation, von dem man heute zu Recht mit Pathos spricht, bleibt hier im Kern eine verängstigte Familie, die sich fragt, was man einem Kind abverlangen darf: „Ich versuche mir einzureden“, sagt der Vater, „dass jemand der Erste sein muss, aber dann fällt mir wieder ein, wie still er die ganze Woche war.“
Dass Gleichberechtigung in unzähligen mühsamen Schritten von Einzelpersonen erkämpft werden muss, die irgendwo mit irgendwas „die Ersten“ und „die Einzigen“ sind, wird in gesellschaftlichen Debatten heute oft gesagt. Auch deswegen wirken Diane Olivers Geschichten irritierend aktuell. Gleich in der nächsten Story kommt eine junge Frau auf ein weißes Südstaaten-College, offenbar sind die Eltern Bürgerrechtler, die ihren Platz kraftvoll beanspruchen – „aber sie war es leid, das Experiment zu sein“. Die Mitschülerinnen lästern, das Mobbing scheint sich von selbst zu ergeben. Der Versuch des Mädchens, sich in dieser Situation pragmatisch zu verhalten, endet damit, dass sie sich in die Kleiderkammer ihres Dorm-Rooms zurückzieht und auf die Außenwelt nicht mehr reagiert.
Das könnte die Botschaft sein, die Diane Oliver mit ihrem furchtbar früh vollendeten Werk hinterlassen hat: Sich einer unerträglich ungerechten Situation anpassen zu müssen, irritiert nie die Nutznießer der Ungerechtigkeit, sondern raubt den Angepassten die Sinne und macht gerade die Vernünftigen unter den Unterdrückten verrückt. Ein anderes Mal erzählt Oliver von einer Frau, die ihre vier Kinder allein aufziehen muss. Eines soll sie impfen lassen und nimmt alle vier mit zum „Gesundheitsdienst“, vor dem schon zu viele andere Schlange stehen. „Wir sagen euch Leuten immer, dass unser Wartezimmer kein Kindergarten ist“, schnappt die Krankenschwester. „You people“, die schmallippigen Codes des Rassismus. Aber nicht darüber denkt die Frau nach, sondern wie sie die Kinder beruhigen soll, wenn das Warten so lange dauert, dass sie Hunger kriegen. Sie hat nichts zu essen dabei, Snacks aus dem Automaten kann sie sich nicht leisten. Über dieser Sorge vergeht die Zeit. Die Sprechstunde ist vorbei. Unverrichteter Dinge steht sie mit allen vieren wieder auf der Straße.
Im Nachhinein erzählt man die Geschichte des Kampfs gegen die Unterdrückung oft als eine heroischer Momente: Rosa Parks steht im Bus nicht auf. „I have a dream.“ Der Marsch von Selma. In Diane Olivers Erzählungen dagegen sind die alltäglichen, vergeblichen Momente dieses Kampfs gespeichert.
Ein einziges Mal lehnen sich ihre Figuren explizit auf. Eine Geschichte spielt in der Schweiz und lässt an James Baldwins Besuch in Leukerbad 1951 denken. Eine einzige Erzählung ist aus der Perspektive einer weißen Frau erzählt. Ein Text wirkt wie ein Schreibexperiment. Offensichtlich war Diane Oliver gerade dabei, sich verschiedene Register zu erarbeiten. Und schon ihre ersten Geschichten sind so überraschend, dass man das Buch, das ihr schmales Werk enthält, nur mit dem Gedanken zuschlagen kann: Was für eine Autorin wäre das wohl geworden, wenn sie älter als 22 Jahre hätte werden dürfen? Was würde sie heute über Amerika sagen?
Einer muss der Erste sein,
der die Gleichberechtigung
einfordert
„Sie war es leid, das Experiment zu sein“: Diane Oliver wurde 1943 in Charlotte, North Carolina,
ins schwarze Bildungsbürgertum hineingeboren. Foto: Privat / Aufbau Verlag
Diane Oliver: Nachbarn. Storys. Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit und Volker Oldenburg.
Aufbau, Berlin 2024.
304 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Diane Oliver kam 1966 mit nur 22 Jahren ums Leben.
Jetzt erst entdeckt die Literaturwelt, was sie da verloren hat.
VON MARIE SCHMIDT
Es war der berühmteste erste Schultag der Vereinigten Staaten. Und die Frage ist bis heute, ob seine Geschichte gut ausgeht.
Am Montag, den 14. November 1960, wird die sechsjährige Ruby Bridges von vier U. S. Marshalls in die William-Frantz-Grundschule in New Orleans gebracht. Die Polizisten sind zu ihrem Schutz da und raten, sich nicht umzuschauen, damit sie die rassistischen Transparente nicht sieht, mit denen Eltern anderer Kinder und Unbeteiligte gegen ihren Schulbesuch demonstrieren. Als sie im Klassenzimmer ankommt, ist sie die einzige Schülerin. Die Eltern der anderen haben ihre Kinder von der Schule genommen.
Erst kurz zuvor hatte der Bundesstaat Louisiana die Segregation an Grundschulen in New Orleans aufgehoben, 1954 erklärte das Oberste Gericht der USA in einem unter dem Namen „Brown v. Board of Education“ bekannten Grundsatzurteil getrennte Schulen für weiße und für afroamerikanische Kinder für verfassungswidrig. Ruby, das jüngste der ersten schwarzen Kinder ihrer Schule, erlebte die „Integration“ als monatelangen Spießrutenlauf.
Ruby Bridges ist heute, im Jahr 2024, eine Bürgerrechtsikone und ihr Schulzeit lange her. Könnte man meinen. Wenn nicht seit einigen Jahren Elternverbände in Bundesstaaten wie Tennessee, Florida und Texas versuchen würden, ihre Bücher oder eine Verfilmung ihrer Lebensgeschichte von den Schulen ihrer Kinder zu verbannen. Mit dem verdrehten Argument, Geschichten über die Segregation, die Bürgerrechtsbewegung und den rassistischen Backlash würden Kinder mit gesellschaftlicher Ungleichheit konfrontieren und könnten in ihnen „Unwohlsein“ oder „Schuld“ auslösen. Mit Bestimmungen, die einen täuschenden Moment lang klingen, als wären sie gegen Vorurteile gegen Hautfarben, Geschlecht und solche Merkmale gerichtet, betreiben diese Gruppen offen die Verdrängung gewaltvoller Teile der amerikanischen Geschichte.
Zugleich erscheint jetzt ein Buch, in dem ein paar ihrer schmerzhaftesten Augenblicke aufgehoben sind, wie in einer Flaschenpost aus der Vergangenheit: die Short Storys von Diane Oliver, die 1966 als Beifahrerin bei einem Motorradunfall ums Leben kam. In ihrer bekanntesten Geschichte „Nachbarn“ erzählt sie, was so ein erster Schultag wie der von Ruby Bridges für eine Familie der frühen Sechziger bedeutete. Wie er sich angefühlt hat.
Diane Oliver war erst 22, als sie starb. Sie machte gerade ihren Master im berühmten Writer’s Workshop der Universität in Iowa – als eine der sehr wenigen schwarzen Studierenden dort – und hatte schon vier Storys in Zeitschriften veröffentlicht. Nach ihrem Tod erschienen zwei weitere. Dann wurde sie vergessen. Für „Nachbarn“ war sie mit einem Literaturpreis ausgezeichnet worden. Jetzt gibt diese Erzählung einer Sammlung den Titel, die auch bislang unentdeckte Texte enthält. Die britische Literaturagentin Elise Dillsworth hat sie bei der Schwester und der Nichte von Diane Oliver auftreiben können.
Diese Zeitkapsel zu öffnen, ist ein erschütterndes Erlebnis. Die Unsicherheit einer Autorin, die sich mit dem Schreiben als Handwerk erst vertraut macht, kontert Oliver mit nüchterner Klarheit. Erst mal aufs Papier bringen, was da ist, was sie vor Augen hat, scheint ihr Ziel zu sein. Das mag noch nicht die große, subtile Kunst ergeben, aber gerade in seiner angreifbaren Geradlinigkeit wirkt dieses Erzählen völlig unverstaubt.
Diane Olivers Ton könnte an die nüchternen Realistinnen ihrer Zeit denken lassen, an Sylvia Plath, Marlen Haushofer. Aber auch heute noch könnte jemand so schreiben, allemal so wie die präzise, unaufdringliche deutsche Übersetzung klingt. Zugleich beschäftigen sich alle ihre überlieferten Erzählungen mit dem historischen Moment, den Oliver erlebte: Als die Gleichberechtigung der Schwarzen in den USA durch die Kämpfe der Bürgerrechtsbewegung und maßgebliche Gerichtsentscheidungen in greifbare Nähe gerückt war. Und die dominierenden Weißen sie scharf bekämpften, um genau die Privilegien zu bewahren, von denen Elternverbände heute noch nicht möchten, dass sie vor ihren Kindern thematisiert werden.
Die Titelgeschichte spielt am Tag vor dem ersten Schultag von Tommy. Oliver erzählt aus der Sicht der älteren Schwester Ellie und schält das Ereignis aus ihrem Alltag, ihren Familienpflichten heraus. Im Vordergrund der Geschichte sieht man, wie Ellie von der Arbeit nach Hause läuft, um ihren kleinen Bruder zu baden, ihn ins Bett zu bringen, mit der Mutter Essen zu machen. Im Hintergrund ist scharf zu erkennen, dass der Schulbesuch des nächsten Tages ein Politikum ist: „Ihr war klar, dass die Eltern Tommy nie an die Jefferson Davis hätten gehen lassen, wenn ihnen im August jemand gesagt hätte, dass er der Einzige wäre.“ Briefe kommen, in denen die Familie bedroht wird, im Wohnzimmer sitzen Bürgerrechtler mit dem Vater zusammen, Zeitungen berichten. Ein Sprengsatz fliegt in den Vorgarten, die Polizei schneit herein, die Nachbarn gucken weg: „Sie hatten Angst, ihr Haus würde das nächste sein“.
Von einem tapferen Moment in der Geschichte der afroamerikanischen Emanzipation, von dem man heute zu Recht mit Pathos spricht, bleibt hier im Kern eine verängstigte Familie, die sich fragt, was man einem Kind abverlangen darf: „Ich versuche mir einzureden“, sagt der Vater, „dass jemand der Erste sein muss, aber dann fällt mir wieder ein, wie still er die ganze Woche war.“
Dass Gleichberechtigung in unzähligen mühsamen Schritten von Einzelpersonen erkämpft werden muss, die irgendwo mit irgendwas „die Ersten“ und „die Einzigen“ sind, wird in gesellschaftlichen Debatten heute oft gesagt. Auch deswegen wirken Diane Olivers Geschichten irritierend aktuell. Gleich in der nächsten Story kommt eine junge Frau auf ein weißes Südstaaten-College, offenbar sind die Eltern Bürgerrechtler, die ihren Platz kraftvoll beanspruchen – „aber sie war es leid, das Experiment zu sein“. Die Mitschülerinnen lästern, das Mobbing scheint sich von selbst zu ergeben. Der Versuch des Mädchens, sich in dieser Situation pragmatisch zu verhalten, endet damit, dass sie sich in die Kleiderkammer ihres Dorm-Rooms zurückzieht und auf die Außenwelt nicht mehr reagiert.
Das könnte die Botschaft sein, die Diane Oliver mit ihrem furchtbar früh vollendeten Werk hinterlassen hat: Sich einer unerträglich ungerechten Situation anpassen zu müssen, irritiert nie die Nutznießer der Ungerechtigkeit, sondern raubt den Angepassten die Sinne und macht gerade die Vernünftigen unter den Unterdrückten verrückt. Ein anderes Mal erzählt Oliver von einer Frau, die ihre vier Kinder allein aufziehen muss. Eines soll sie impfen lassen und nimmt alle vier mit zum „Gesundheitsdienst“, vor dem schon zu viele andere Schlange stehen. „Wir sagen euch Leuten immer, dass unser Wartezimmer kein Kindergarten ist“, schnappt die Krankenschwester. „You people“, die schmallippigen Codes des Rassismus. Aber nicht darüber denkt die Frau nach, sondern wie sie die Kinder beruhigen soll, wenn das Warten so lange dauert, dass sie Hunger kriegen. Sie hat nichts zu essen dabei, Snacks aus dem Automaten kann sie sich nicht leisten. Über dieser Sorge vergeht die Zeit. Die Sprechstunde ist vorbei. Unverrichteter Dinge steht sie mit allen vieren wieder auf der Straße.
Im Nachhinein erzählt man die Geschichte des Kampfs gegen die Unterdrückung oft als eine heroischer Momente: Rosa Parks steht im Bus nicht auf. „I have a dream.“ Der Marsch von Selma. In Diane Olivers Erzählungen dagegen sind die alltäglichen, vergeblichen Momente dieses Kampfs gespeichert.
Ein einziges Mal lehnen sich ihre Figuren explizit auf. Eine Geschichte spielt in der Schweiz und lässt an James Baldwins Besuch in Leukerbad 1951 denken. Eine einzige Erzählung ist aus der Perspektive einer weißen Frau erzählt. Ein Text wirkt wie ein Schreibexperiment. Offensichtlich war Diane Oliver gerade dabei, sich verschiedene Register zu erarbeiten. Und schon ihre ersten Geschichten sind so überraschend, dass man das Buch, das ihr schmales Werk enthält, nur mit dem Gedanken zuschlagen kann: Was für eine Autorin wäre das wohl geworden, wenn sie älter als 22 Jahre hätte werden dürfen? Was würde sie heute über Amerika sagen?
Einer muss der Erste sein,
der die Gleichberechtigung
einfordert
„Sie war es leid, das Experiment zu sein“: Diane Oliver wurde 1943 in Charlotte, North Carolina,
ins schwarze Bildungsbürgertum hineingeboren. Foto: Privat / Aufbau Verlag
Diane Oliver: Nachbarn. Storys. Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit und Volker Oldenburg.
Aufbau, Berlin 2024.
304 Seiten, 24 Euro.
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