Nach Unterleuten und Leere Herzen der neue Bestseller von Juli Zeh Lanzarote am Neujahrsmorgen: Henning will mit dem Fahrrad den Steilaufstieg zum Pass von Fermés bezwingen. Während er gegen Wind und Steigung kämpft, denkt er über sein Leben nach. Eigentlich ist alles in bester Ordnung. Er liebt seine Frau, hat zwei gesunde Kinder und einen passablen Job. Aber Henning geht es schlecht. Familienernährer, Ehemann, Vater – in keiner Rolle findet er sich wieder. Er leidet unter Angstzuständen und Panikattacken, die ihn regelmäßig heimsuchen. Als Henning schließlich den Pass erreicht, trifft ihn die Erkenntnis wie ein Schlag: Er war als Kind schon einmal hier. Damals hat sich etwas Schreckliches zugetragen, das er bis heute verdrängt hat ... Gelesen von Florian Lukas. (Laufzeit: 5h 4)
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.09.2018Schnullerpanik
Ist Gleichberechtigung nicht wahnsinnig anstrengend? Juli Zehs Roman „Neujahr“ über einen
modernen Vater in der Krise stellt die eher unpopulären Fragen der Gegenwart
VON KARIN JANKER
Ganz gleich wie sehr einer
sich schindet, sich selbst entkommt er doch nicht. Und Henning quält sich sehr an diesem Neujahrstag auf Lanzarote. Er tritt in die Pedale seines Fahrrads, bis ihm die Muskeln versagen, bis sie zittern und krampfen. Henning fährt gerne Radtouren, Radfahren entspannt ihn, sagt er sich. Vor allem aber bringt es ihn ein paar Stunden weg von seinen Verpflichtungen. Von seiner Familie, um genau zu sein. Henning ist ein moderner Vater – und konstant überfordert.
Seine Frau Theresa und er teilen sich die Familienarbeit auf, beide sind berufstätig, sie erfolgreicher als er, weshalb er ein bisschen mehr Hausarbeit übernimmt, „was Theresa, wie sie ihn spüren lässt, auch erwartet“. Beide kümmern sich um die Kinder, Bibbi und Jonas, zwei und vier Jahre alt. Trotzdem laufen die Kleinen öfter zu ihr als zu ihm, wenn sie sich wehgetan haben, wenn sie krank sind oder müde; dann sagt Hennings Frau: „Ihr habt einen Vater, und der hat Hände und Füße, warum fragt ihr nicht den?“ Henning müht sich ab, und versagt doch immer wieder. Er ist bereit, ein emanzipierter Mann zu sein: „Er will es. Glaubt er.“
Juli Zehs neuer Roman „Neujahr“ kreist um eine Figur, die in der Literatur noch recht ungewöhnlich ist, um den überforderten Vater. Man kennt aus den großen Romanen des 19. Jahrhunderts schon den überforderten Geliebten, den überforderten Künstler, den überforderten Großstädter. Sie alle scheitern an den Umständen, an ihrem Milieu oder an den Frauen. Aber Juli Zehs Protagonist Henning, ein mittelalter weißer Mann mit Ehefrau und zwei Kindern, ist keiner von denen. Henning ist historisch schon einen Schritt weiter: Er wehrt sich keineswegs gegen den Abbau der alten Rollenklischees und den Verlust seiner Privilegien. Er akzeptiert den Wandel nicht nur, sondern betreibt und lebt ihn geradezu vorbildlich. Doch gerade das macht ihn zu einer tragischen Figur.
Das Phänomen, von dem Juli Zeh erzählt, ist unpopulär. Überforderung wird oft als ein Problem gesellschaftlich Randständiger abgetan. Der Roman zeigt der emanzipierten Gesellschaft, was sie lieber nicht sehen möchte: dass auch die, die an der Spitze der Emanzipation stehen, sich damit selbst überfordern können, wenn sie versuchen, mehrere Leben gleichzeitig zu leben. Die Identitätskrise, ausgelöst durch den Verlust alter Gewissheiten, bekommt Juli Zeh literarisch zu fassen, indem sie Henning in ein erzählerisches Konstrukt hineinsetzt wie einen Hamster ins Rad. Die Handlung von „Neujahr“ ist exakt in der Mitte gescheitelt: Der erste Teil erzählt – unter strenger Wahrung der aristotelischen Einheit von Zeit, Ort und äußerer Handlung – von Hennings Fahrradtour die kanarische Bergstraße hinan. Henning schwitzt und leidet. Und bemitleidet sich selbst. Den ganzen Weg hinauf bis zum Gipfel des Atalaya-Vulkans.
„Henning beginnt, stumm im Takt
der Tritte zu skandieren: Scheiß-Wind, Scheiß-Wind, Scheiß-Wind. Die Wut gibt ihm Kraft. Das Treten scheint ein wenig leichter zu gehen. Es ist eine allgemeine Wut. Nicht nur auf Straße, Wind und Berg. Es ist eine Wut auf alles, eine Wut wie ein Energiefeld, wie Hitze oder Licht. Henning brennt innerlich. Scheiß-Job, Scheiß-ES, Scheiß-Welt.“ Und dann bricht es aus ihm heraus: Scheiß-Theresa, Scheiß-Jonas, Scheiß-Bibbi, Scheiß-Kinder, Scheiß-Familie. „Er denkt es nicht mehr, er schreit. Er hat keine Ahnung, was er damit meint. Es gibt niemanden auf der Welt, den er so sehr liebt.“
Henning ist ein moderner Mann. Und doch beneidet er die Männer, die an diesem Morgen nicht auf dem Fahrrad sitzen, sondern ihren Rausch ausschlafen, „Männer, die keine Kinder haben. Oder es besser hinkriegen als er.“ Und er zweifelt, ob die Schwiegereltern nicht vielleicht doch recht haben, wenn sie dieses zeitgemäße Familienmodell infrage stellen. Denn die sind ganz sicher nie „auf Knien durchs Haus gekrochen, um einen Schnuller oder das aktuelle Lieblingsstofftier zu suchen“. Henning aber kriecht und reibt sich auf. So sehr, dass irgendwann ES ihn befallen hat wie eine Krankheit. ES, das sind Panikattacken, die ihn erst nachts, dann auch tagsüber heimsuchen, ihm noch die letzte Kraft rauben, die ihm die „schmale Schneise zwischen Beruf und Familie“ lässt. Die Panik, die Zweifel, der Hass – all das steigt auf, während Henning sich den Berg hinaufkämpft. Der Minimalismus der Handlung, Henning fährt 90 Seiten lang Fahrrad, lässt die Konflikte aus diesem Protagonisten herausquellen. Probleme, die erst aufscheinen, nachdem die Gleichberechtigung erreicht ist, nachdem sie zum neuen „So gehört es sich eben“ geworden ist.
Genau in der Mitte des Romans erreicht Henning den Gipfel. Doch er findet dort keine Rast. Was folgt, ist erzählerisch als freier Fall in die eigene Vergangenheit konzipiert, in eine Kindheitserinnerung an ein Erlebnis, das Henning zu dem Menschen gemacht hat, der er heute ist. „Neujahr“ erzählt von der Unfreiheit, die Herkunft und Identität bedeuten; aber auch von jener, die man sich selber schafft. Und von den Abgründen, die sich auftun, wenn man sich auch dieser Unfreiheit entledigt hat.
Juli Zehs literarisches Verfahren, das ihre Fans so begeistert, wie es ihre Kritiker verärgert, besteht wie schon in früheren Büchern auch in „Neujahr“ in einer Versuchsanordnung, wobei der Ausgang des Versuchs nie wirklich offen ist. Jeder Roman dient Zeh dazu, etwas zu verdeutlichen, was in der Gesellschaft oft unausgesprochen schwelt: Dynamiken des Zusammenlebens und der menschlichen Psyche.
Der promovierten Juristin Zeh, die neben ihrem Job als Schriftstellerin noch einen zweiten Job als engagierte Bürgerin ausübt, wird bisweilen unterstellt, sie verkünde in Talkshows nur Erwartbares und politisch Korrektes. Dabei wird, was sie sagt, oft erst zu etwas, das erwartet werden kann, indem es von einer öffentlichen Figur wie ihr ausgesprochen wird. Und ihr neuer Roman zeigt gerade, dass ihr Schreiben das Erwartbare und Korrekte auch hinterfragen kann. Zeh ist auf diese Weise auch eine uneitle Autorin, sie will verstanden werden und verständlich machen.
Henning und Theresa verfolgen ehrgeizig das, was sie als den richtigen Lebensentwurf ausgemacht haben. „Sie teilen sich Kinder und Beruf. Das ist ihnen wichtig. Sie haben einiges auf sich genommen, um ihr Modell bei den Arbeitgebern durchzusetzen.“ Man ahnt, dass die Panikattacken, die Henning durchlebt, Symptom dieser konstanten Selbstüberforderung sind. Juli Zeh ironisiert dieses Scheitern nicht. Wie sie ihre Figuren an die Grenzen des selbst gewählten Lebens bringt, das ist beinahe klassischer Tragödienstoff.
Wenn in der zweiten Hälfte die Familiengeschichte um ein altes Trauma, eine verdrängte Episode aus Hennings Kindheit erweitert wird, biegt der Roman nur vordergründig in eine andere Richtung ab. Eigentlich geht es auch hier um das Gefühl der Überforderung, um Elternschaft, Verantwortung und Pflichtgefühl. Und nicht zuletzt um die Frage der eigenen Identität.
In einem Interview mit der Berliner Zeitung sagte Zeh vor einigen Monaten etwas, das im Nachhinein wie ein Schlüsselsatz zu ihrem Buch wirkt: „In den vergangenen Jahren wurden unter dem Stichwort Emanzipation viele Gewissheiten über Bord geworfen, auf denen sich sozialer Zusammenhalt stützte. Das war auch richtig. Es wurde allerdings nicht daran gedacht, dass das den Einzelnen überfordern kann.“ Da sprach die Autorin über ihre politische Sorge um Deutschland, über den Erfolg von Rechtspopulisten und nicht über ihren neuen Roman. Doch stellt eine ähnliche Diagnose: Der Verlust eines Gottes, eines Patriarchen, einer Heimat treibt Menschen nicht zuerst zur AfD, sondern in die Verzweiflung.
„Neujahr“ macht diese Dynamik erzählerisch erfahrbar – ohne didaktischen Zeigefinger, aber auch mit dem Privileg von Literatur, nicht gleich eine politische Lösung parat haben zu müssen. Man muss den Roman deshalb noch lange nicht als Parabel lesen und täte ihm auch unrecht, würde man ihn auf ein Gleichnis reduzieren. Die gesellschaftspolitische Ebene ließe sich beim Lesen ausklammern; es bliebe dann immer noch ein gut geschriebenes und klug konstruiertes Buch, eine Art Psychothriller. Aber weil beides, der Thriller und die Gesellschaftsanalyse, hier so dicht ineinandergreifen, ist „Neujahr“ vielleicht Juli Zehs bislang bestes Buch.
Juli Zeh: Neujahr. Roman. Luchterhand Verlag, München 2018. 192 Seiten, 20 Euro.
„Eine Wut wie ein Energiefeld,
wie Hitze oder Licht.
Henning brennt innerlich.“
Die Panikattacken sind
Symptom der Überforderung
durch selbstgesetzte Ansprüche
Schriftstellerin und engagierte Bürgerin: Juli Zeh, geboren 1974 in Bonn.
Foto: Peter von Felbert
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Ist Gleichberechtigung nicht wahnsinnig anstrengend? Juli Zehs Roman „Neujahr“ über einen
modernen Vater in der Krise stellt die eher unpopulären Fragen der Gegenwart
VON KARIN JANKER
Ganz gleich wie sehr einer
sich schindet, sich selbst entkommt er doch nicht. Und Henning quält sich sehr an diesem Neujahrstag auf Lanzarote. Er tritt in die Pedale seines Fahrrads, bis ihm die Muskeln versagen, bis sie zittern und krampfen. Henning fährt gerne Radtouren, Radfahren entspannt ihn, sagt er sich. Vor allem aber bringt es ihn ein paar Stunden weg von seinen Verpflichtungen. Von seiner Familie, um genau zu sein. Henning ist ein moderner Vater – und konstant überfordert.
Seine Frau Theresa und er teilen sich die Familienarbeit auf, beide sind berufstätig, sie erfolgreicher als er, weshalb er ein bisschen mehr Hausarbeit übernimmt, „was Theresa, wie sie ihn spüren lässt, auch erwartet“. Beide kümmern sich um die Kinder, Bibbi und Jonas, zwei und vier Jahre alt. Trotzdem laufen die Kleinen öfter zu ihr als zu ihm, wenn sie sich wehgetan haben, wenn sie krank sind oder müde; dann sagt Hennings Frau: „Ihr habt einen Vater, und der hat Hände und Füße, warum fragt ihr nicht den?“ Henning müht sich ab, und versagt doch immer wieder. Er ist bereit, ein emanzipierter Mann zu sein: „Er will es. Glaubt er.“
Juli Zehs neuer Roman „Neujahr“ kreist um eine Figur, die in der Literatur noch recht ungewöhnlich ist, um den überforderten Vater. Man kennt aus den großen Romanen des 19. Jahrhunderts schon den überforderten Geliebten, den überforderten Künstler, den überforderten Großstädter. Sie alle scheitern an den Umständen, an ihrem Milieu oder an den Frauen. Aber Juli Zehs Protagonist Henning, ein mittelalter weißer Mann mit Ehefrau und zwei Kindern, ist keiner von denen. Henning ist historisch schon einen Schritt weiter: Er wehrt sich keineswegs gegen den Abbau der alten Rollenklischees und den Verlust seiner Privilegien. Er akzeptiert den Wandel nicht nur, sondern betreibt und lebt ihn geradezu vorbildlich. Doch gerade das macht ihn zu einer tragischen Figur.
Das Phänomen, von dem Juli Zeh erzählt, ist unpopulär. Überforderung wird oft als ein Problem gesellschaftlich Randständiger abgetan. Der Roman zeigt der emanzipierten Gesellschaft, was sie lieber nicht sehen möchte: dass auch die, die an der Spitze der Emanzipation stehen, sich damit selbst überfordern können, wenn sie versuchen, mehrere Leben gleichzeitig zu leben. Die Identitätskrise, ausgelöst durch den Verlust alter Gewissheiten, bekommt Juli Zeh literarisch zu fassen, indem sie Henning in ein erzählerisches Konstrukt hineinsetzt wie einen Hamster ins Rad. Die Handlung von „Neujahr“ ist exakt in der Mitte gescheitelt: Der erste Teil erzählt – unter strenger Wahrung der aristotelischen Einheit von Zeit, Ort und äußerer Handlung – von Hennings Fahrradtour die kanarische Bergstraße hinan. Henning schwitzt und leidet. Und bemitleidet sich selbst. Den ganzen Weg hinauf bis zum Gipfel des Atalaya-Vulkans.
„Henning beginnt, stumm im Takt
der Tritte zu skandieren: Scheiß-Wind, Scheiß-Wind, Scheiß-Wind. Die Wut gibt ihm Kraft. Das Treten scheint ein wenig leichter zu gehen. Es ist eine allgemeine Wut. Nicht nur auf Straße, Wind und Berg. Es ist eine Wut auf alles, eine Wut wie ein Energiefeld, wie Hitze oder Licht. Henning brennt innerlich. Scheiß-Job, Scheiß-ES, Scheiß-Welt.“ Und dann bricht es aus ihm heraus: Scheiß-Theresa, Scheiß-Jonas, Scheiß-Bibbi, Scheiß-Kinder, Scheiß-Familie. „Er denkt es nicht mehr, er schreit. Er hat keine Ahnung, was er damit meint. Es gibt niemanden auf der Welt, den er so sehr liebt.“
Henning ist ein moderner Mann. Und doch beneidet er die Männer, die an diesem Morgen nicht auf dem Fahrrad sitzen, sondern ihren Rausch ausschlafen, „Männer, die keine Kinder haben. Oder es besser hinkriegen als er.“ Und er zweifelt, ob die Schwiegereltern nicht vielleicht doch recht haben, wenn sie dieses zeitgemäße Familienmodell infrage stellen. Denn die sind ganz sicher nie „auf Knien durchs Haus gekrochen, um einen Schnuller oder das aktuelle Lieblingsstofftier zu suchen“. Henning aber kriecht und reibt sich auf. So sehr, dass irgendwann ES ihn befallen hat wie eine Krankheit. ES, das sind Panikattacken, die ihn erst nachts, dann auch tagsüber heimsuchen, ihm noch die letzte Kraft rauben, die ihm die „schmale Schneise zwischen Beruf und Familie“ lässt. Die Panik, die Zweifel, der Hass – all das steigt auf, während Henning sich den Berg hinaufkämpft. Der Minimalismus der Handlung, Henning fährt 90 Seiten lang Fahrrad, lässt die Konflikte aus diesem Protagonisten herausquellen. Probleme, die erst aufscheinen, nachdem die Gleichberechtigung erreicht ist, nachdem sie zum neuen „So gehört es sich eben“ geworden ist.
Genau in der Mitte des Romans erreicht Henning den Gipfel. Doch er findet dort keine Rast. Was folgt, ist erzählerisch als freier Fall in die eigene Vergangenheit konzipiert, in eine Kindheitserinnerung an ein Erlebnis, das Henning zu dem Menschen gemacht hat, der er heute ist. „Neujahr“ erzählt von der Unfreiheit, die Herkunft und Identität bedeuten; aber auch von jener, die man sich selber schafft. Und von den Abgründen, die sich auftun, wenn man sich auch dieser Unfreiheit entledigt hat.
Juli Zehs literarisches Verfahren, das ihre Fans so begeistert, wie es ihre Kritiker verärgert, besteht wie schon in früheren Büchern auch in „Neujahr“ in einer Versuchsanordnung, wobei der Ausgang des Versuchs nie wirklich offen ist. Jeder Roman dient Zeh dazu, etwas zu verdeutlichen, was in der Gesellschaft oft unausgesprochen schwelt: Dynamiken des Zusammenlebens und der menschlichen Psyche.
Der promovierten Juristin Zeh, die neben ihrem Job als Schriftstellerin noch einen zweiten Job als engagierte Bürgerin ausübt, wird bisweilen unterstellt, sie verkünde in Talkshows nur Erwartbares und politisch Korrektes. Dabei wird, was sie sagt, oft erst zu etwas, das erwartet werden kann, indem es von einer öffentlichen Figur wie ihr ausgesprochen wird. Und ihr neuer Roman zeigt gerade, dass ihr Schreiben das Erwartbare und Korrekte auch hinterfragen kann. Zeh ist auf diese Weise auch eine uneitle Autorin, sie will verstanden werden und verständlich machen.
Henning und Theresa verfolgen ehrgeizig das, was sie als den richtigen Lebensentwurf ausgemacht haben. „Sie teilen sich Kinder und Beruf. Das ist ihnen wichtig. Sie haben einiges auf sich genommen, um ihr Modell bei den Arbeitgebern durchzusetzen.“ Man ahnt, dass die Panikattacken, die Henning durchlebt, Symptom dieser konstanten Selbstüberforderung sind. Juli Zeh ironisiert dieses Scheitern nicht. Wie sie ihre Figuren an die Grenzen des selbst gewählten Lebens bringt, das ist beinahe klassischer Tragödienstoff.
Wenn in der zweiten Hälfte die Familiengeschichte um ein altes Trauma, eine verdrängte Episode aus Hennings Kindheit erweitert wird, biegt der Roman nur vordergründig in eine andere Richtung ab. Eigentlich geht es auch hier um das Gefühl der Überforderung, um Elternschaft, Verantwortung und Pflichtgefühl. Und nicht zuletzt um die Frage der eigenen Identität.
In einem Interview mit der Berliner Zeitung sagte Zeh vor einigen Monaten etwas, das im Nachhinein wie ein Schlüsselsatz zu ihrem Buch wirkt: „In den vergangenen Jahren wurden unter dem Stichwort Emanzipation viele Gewissheiten über Bord geworfen, auf denen sich sozialer Zusammenhalt stützte. Das war auch richtig. Es wurde allerdings nicht daran gedacht, dass das den Einzelnen überfordern kann.“ Da sprach die Autorin über ihre politische Sorge um Deutschland, über den Erfolg von Rechtspopulisten und nicht über ihren neuen Roman. Doch stellt eine ähnliche Diagnose: Der Verlust eines Gottes, eines Patriarchen, einer Heimat treibt Menschen nicht zuerst zur AfD, sondern in die Verzweiflung.
„Neujahr“ macht diese Dynamik erzählerisch erfahrbar – ohne didaktischen Zeigefinger, aber auch mit dem Privileg von Literatur, nicht gleich eine politische Lösung parat haben zu müssen. Man muss den Roman deshalb noch lange nicht als Parabel lesen und täte ihm auch unrecht, würde man ihn auf ein Gleichnis reduzieren. Die gesellschaftspolitische Ebene ließe sich beim Lesen ausklammern; es bliebe dann immer noch ein gut geschriebenes und klug konstruiertes Buch, eine Art Psychothriller. Aber weil beides, der Thriller und die Gesellschaftsanalyse, hier so dicht ineinandergreifen, ist „Neujahr“ vielleicht Juli Zehs bislang bestes Buch.
Juli Zeh: Neujahr. Roman. Luchterhand Verlag, München 2018. 192 Seiten, 20 Euro.
„Eine Wut wie ein Energiefeld,
wie Hitze oder Licht.
Henning brennt innerlich.“
Die Panikattacken sind
Symptom der Überforderung
durch selbstgesetzte Ansprüche
Schriftstellerin und engagierte Bürgerin: Juli Zeh, geboren 1974 in Bonn.
Foto: Peter von Felbert
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Petra Kohse hat den Verdacht, dass Juli Zehs Romane ihren eigenen Mitteln nicht trauen. Da sitzt erzählerisch eigentlich alles, ist fest im Alltagsleben verankert, hat Spannung und liest sich flott, erklärt Kohse, und doch bleibt bei der Rezensentin ein schaler Geschmack. Die Ängste eines Familienvaters aus dem akademischen Milieu, von Zeh laut Kohse detailliert und fokussiert entworfen, wirken im Text auf die Rezensentin mitunter wie auserzähltes Schulfunkwissen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Mit leichter Feder kombiniert Juli Zeh eine kluge Meditation über moderne Männerrollen mit einem düsteren Buch über ein Kindheitstrauma zum Psychothriller.« Denis Scheck / Der Tagesspiegel
»Weil beides, der Thriller und die Gesellschaftsanalyse, hier so dicht ineinandergreifen, ist 'Neujahr' vielleicht Juli Zehs bislang bestes Buch.« Karin Janker / Süddeutsche Zeitung