Skandalumwittert: das Romandebüt der Starautorin – bewegend gelesen von Maria Schrader Wir wissen nicht, was der Erzählerin in diesem halben Jahr wirklich geschah. Die junge Frau, die noch nicht einmal ihren Namen verrät, tischt uns eine Geschichte nach der anderen auf. Nur eins scheint klar: Sie hat Mann und Tochter für ihren Geliebten verlassen und nun zerbricht sie daran. Der Spiegel, den sie sich erzählend vorhält, scheint in Stücke gesprungen und in jeder Scherbe schillert eine andere Version. Trauer, Verlassenheit, Angst und Wut lassen sie die Welt als Apokalypse des Schmerzes erleben … Als dieser provokante wie hochliterarische Klagegesang erschien, rief er in Israel wütende Empörung hervor. Erst jetzt, fast 30 Jahre später, scheint endlich die Zeit reif für dieses frühe literarische Meisterwerk einer Weltautorin. »Erst als ich ›Schicksal‹, meinen 7. Roman, geschrieben hatte, wagte ich, mein Debüt wieder zu lesen. Endlich spürte ich die Bereitschaft, ihn als Teil von mir anzunehmen, auch wenn er nicht ich ist.« Zeruya Shalev
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»Zeruya Shalevs erster Roman 'Nicht ich' ist eines der kühnsten Werke der postmodernen israelischen Literatur. Man könnte ihn als die Urquelle ihrer gesamten Erzählkunst bezeichnen.« Avner Holtzman
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Skurril, unerbittlich, zeitlos: so lobt Rezensentin Tina Hartmann Zeruya Shalevs Debütroman, der nach dreißig Jahren "endlich" auf Deutsch erschienen ist. Shalev erzählt von einer Frau, deren Lebensweg von Geburt an vorgezeichnet ist: zunächst braves Mädchen, später Ehefrau und auf jeden Fall Mutter. Diesem Schicksal versucht Shalevs Protagonistin durch sexuelle Abenteuer zu entkommen. Hartmann gefällt vor allem der vehemente Ton von Shalves Roman. Darstellungen von Sexualität liefen oft Gefahr, selbst sexistisch zu werden, selbst wenn Sex als Ausweg aus familiärer Unterdrückung gesehen werde. Nicht bei Shalev, meint die Rezensentin. Hier sei keine Sexszene "pornografisch konsumierbar", denn Sex dient vor allem zur Bewältigung des Alltags. Die drastischen Sexdarstellungen, der dezidiert feministische Grundton der Erzählung - Shalev war ihrer Zeit weit voraus. Und doch erkennt Hartmann auch ein Manko von Shalevs Debüt: In Anlehnung an die Philosophie des deutschen Idealismus bediene sich die Autorin einer Nicht-Ich-Erzählerin, um gleichzeitig eine allgemeine Geschichte und ihre eigene Geschichte mit all ihren Dilemmata und ihrem Weg zur Autorin erzählen zu können. Auch wenn die Rezensentin überrascht ist, wie die "romantische Konventionalität" der Selbstfindung "am Ende das Unlösbare kappt", schmälert das ihrer Meinung nach nicht die Relevanz des Textes.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.05.2024Frappierend zeitlos
Nach dreißig Jahren erscheint
Zeruya Shalevs Debütroman "Nicht ich" endlich auf Deutsch. Es ist ihr wichtigstes Buch geblieben.
Zu Beginn überreicht die Erzählerin in Zeruya Shalevs Roman "Nicht ich" dem Ex-Mann ihre Gebärmutter, dazu Schwangerschaftskleidung und gute Ratschläge. "Schon immer wollte ich stillen, und noch mehr wollte ich Kinder kriegen", freut er sich, und in seinem Bauch beginnt es zu wachsen. Ein Krebsgeschwür, so lautet der lakonische Kommentar der Erzählerin (Thomas Mann lässt grüßen). Angesteckt vom Ex-Geliebten, dessen Sterben die erste ihrer Beobachtungsetappen ist, schleppt die Erzählerin kahlköpfig und im Krankenhauskittel den literarischen Schatten der Aids-Epidemie mit sich - in Gestalt einer sexuell übertragenen Krebsinfektion, die den Zeugungsorganen kurz vor dem Exodus ein auswucherndes Eigenleben beschert. Einen Geliebten gibt es auch, doch der ist der Erzählerin keine große Hilfe, denn seit sie geschieden ist, schläft er nur noch. Die Männer ihres Lebens vereinigen sich zu chorischen "Moralpredigten: Warum gibst du dich nicht hin? Warum kannst du nicht lieben? Warum kannst du dich nicht freuen? Was schämst du dich deiner Liebe?" Und auf jeden Schritt verfolgt sie das Bild eines kleinen Mädchens in weißen und bunten Kleidchen, Spangen und Schleifen in den sorgsam vom Vater frisierten Locken. Mal wurde es von Soldaten entführt, dann wieder wohnt es als "neue Geliebte" zusammen mit dem Ex-Mann im "Tempel" der ehemals gemeinsamen, nun aschebedeckten Wohnung, während die Erzählerin mit ihrem Geliebten im "Schrottmuseum" das Spiel spielt, wer sich am längsten von seinen Kindern trennen kann.
Die Erzählerin, so kristallisiert sich langsam heraus, hat die Familie verlassen. Der Skandal daran ist: nicht aus Liebe! Denn "Ficken hab' ich gemocht, aber Sex hab' ich gehasst". Buchstäblich im Vorübergehen brauchte sie den Energiekick, um einen erschöpfenden Alltag zu bewältigen. "Einmal zum Beispiel war der Geliebte nicht in seinem Zimmer, als ich kam, und ich versuchte, ohne diesen Fick weiterzugehen, und wurde schließlich am Eingang des Kindergartens ohnmächtig." Waren Fürsorge und Verzicht vergeblich, wenn auf verstörende Weise nicht einmal mehr klar ist, ob das Mädchen - ein Geschöpf zwischen "Venus" und "Virus", Göttin und Zwerg, Puppe und Totgeburt - je existierte?
Mit ihren prismatisch gebrochenen Geschichten verweigert die Erzählerin zugleich erzählerische wie psychologisch-psychoanalytische Kausalität. "Wenn ihr alles glaubt, was ich bisher erzählt habe, irrt ihr euch." Die mit ihrer Kleinfamilie Gescheiterte ruft zur Begründung übliche Mama-Papa-Kind- Stereotype auf und dekonstruiert sie, indem sie sich selbst als Un-Mutter anklagt und zugleich den eigenen Eltern wegen Lieblosigkeit den Prozess macht. Der Vater mutiert über ihrer Anklage zur Kuckucksuhr, doch der Mutter empfiehlt die Erzählerin, statt eines Psychologen "den Uhrmacher" zu holen.
Statt Erklärungen zu liefern, spiralt sich daraus in skurrilen, drastischen, komischen, fast nie vorhersehbaren Bildern und immer neuen Verschränkungen ein Lamento auf zur DNA des Verlusts. Darin werden Metaphern zu Geschichtsfragmenten, die feuerwerksartig als Bilder aufsteigen, explodieren und verpuffend bleibenden Eindruck hinterlassen. Sie verleihen dem schwer fasslichen, doch hochgradig stimmigen Text eine musikalische Faktur, die mit ratloser Klarheit Erklärungen zweiter Ordnung liefert. Etwa wenn die Erzählerin mit Spielzeug einen winterlichen Kreisverkehr bepflanzt und sich in diesem Trauergarten einschneien lässt, um später auf der Suche nach der Tochter in eine an Tarkowskis spätsowjetischen Science-Fiction-Film "Stalker" gemahnende Kibbuz-Landschaft der verwaisten selbstmordenden Mütter zu gelangen.
Kaum zu glauben, dass dieser Text schon dreißig Jahre alt ist. Der Ruf drastischer Sexdarstellungen eilt ihm voraus - zu Unrecht. Nicht selten entlarvt ein größerer zeitlicher Abstand selbst emanzipatorische Sexualitätsdarstellungen als sexistisch, weil die Autorinnen den Sexismus ihrer Zeit verinnerlicht hatten. Hier nicht, denn es gibt keinen Punkt, von dem aus die Schilderungen pornographisch konsumierbar würden. Daher erstaunen die "aggressiven" (so Shalev) Reaktionen bei Erscheinen des Romans 1993 kaum. Sex dient der Erzählerin zur Energiegewinnung in der fremdbestimmten Tretmühle des Funktionierens. Angetrieben vom Verlangen, der eigenen Taubheit nur irgendeine Empfindung entgegenzusetzen, wird Sex die Alternative zum Ritzen heutiger Teenagerinnen.
Die frappierende Zeitlosigkeit von "Nicht ich" mag auch daran liegen, dass der jüdisch-israelische Feminismus dem deutschen um Jahrzehnte voraus ist. Vielleicht trifft er auch deshalb zielsicher auf viele heutige Dilemmata zu, weil sich in jüdischen Gesellschaften beim Thema Mutter- und Elternschaft anstelle der christlichen Binarität aus weiblich, weich, mütterlich auf der einen und männlich, hart, nestflüchtig auf der anderen Seite die Geschlechtsvorstellungen schon länger durchkreuzen und umschlingen. Wer einmal mit einem Kleinkind den Schabbat in einem israelischen Hotel verbrachte, bekommt eine Ahnung davon, was Kinder in Israel bedeuten.
Braut und Bräutigam - wie in Zeruya Shalevs Roman träumt in jiddischen Liedern schon das Baby in der Wiege oder zumindest seine davorsitzende Mutter davon, und am Ende des Romans stillt die Mutter des Ex-Mannes ihren Sohn im Hochzeitsanzug. Das zeigt den Druck auf Frauen, aber auch, wie fundamental anders patriarchale Mühlen mahlen, wenn im mütterlichen Ex-Gatten Gebärneid und neuer Mann zusammenfließen. Er ist es, der das Mädchen anzieht, frisiert und in den Kindergarten bringt, während die schlechte Mutter im Bett liegt, bis selbst das Kind sagt: "Mama, steh auf."
Vom familiären Kinderwunsch fühlte sie sich vergewaltigt, da sie selbst noch pubertär empfand. Das unter eigentümlich eifersüchtigen Bedingungen geborene Mädchen wird zur Wiedergeburt einer ewigen mütterlich-töchterlichen Fehlentwicklung. Als Kern des Lebens der Erzählerin sind Anwesenheit und Fehlen des Mädchens dasselbe Problem. Da es sie ehedem bis zur vollständigen Verdrängung des mütterlichen Ichs ausfüllte, bleibt mit dem Verschwinden nur noch deren Nicht-Ich übrig. Treffender ist das unlösbare Dilemma der Mutterschaft vielleicht nie beschrieben worden. Heute ist "Regretting Motherhood" einer der meistdiskutierten und meistmissverstandenen Begriffe für dieses psychologische Paradoxon. Als Orna Donath es vor knapp zehn Jahren als Studie mit israelischen Frauen vorstellte, war Zeruya Shalevs literarische Formulierung bereits mehr als zwanzig Jahre in der Welt. "Regretting Motherhood" gilt mittlerweile als internationales Phänomen.
Die Erzählerin ist ausdrücklich das Nicht-Ich der Autorin, die vor dreißig Jahren vor dem Kindergarten ihrer Tochter wartend die ersten Sätze dieses Romans auf Rückseiten eines von ihr lektorierten Manuskripts schrieb. In ihrem Vorwort zur ersten deutschen Übersetzung ruft Shalev mit dieser Entstehungsgeschichte die Subjekttheorie des deutschen Idealismus auf. Als Setzung des Ichs umfasst das Nicht-Ich bei Johann Gottlieb Fichte die Gesamtheit der räumlichen Welt inklusive des empirischen Selbst. Nicht-Ich wird damit als künstlerische Setzung lesbar, um das Dilemma des eigenen Seins begreifbar zu machen und damit als Voraussetzung des Autorin-Werdens.
Gegenüber dieser komplexen Hinführung mag die romantische Konventionalität der Ich-Werdung überraschen, mit der der Roman am Ende das Unlösbare kappt. Das ändert jedoch nichts daran, dass mit "Nicht ich" Shalevs nun endlich wichtigstes Werk in deutscher Sprache vorliegt. TINA HARTMANN
Zeruya Shalev: "Nicht ich". Roman.
Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer.
Berlin Verlag, Berlin 2024. 208 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nach dreißig Jahren erscheint
Zeruya Shalevs Debütroman "Nicht ich" endlich auf Deutsch. Es ist ihr wichtigstes Buch geblieben.
Zu Beginn überreicht die Erzählerin in Zeruya Shalevs Roman "Nicht ich" dem Ex-Mann ihre Gebärmutter, dazu Schwangerschaftskleidung und gute Ratschläge. "Schon immer wollte ich stillen, und noch mehr wollte ich Kinder kriegen", freut er sich, und in seinem Bauch beginnt es zu wachsen. Ein Krebsgeschwür, so lautet der lakonische Kommentar der Erzählerin (Thomas Mann lässt grüßen). Angesteckt vom Ex-Geliebten, dessen Sterben die erste ihrer Beobachtungsetappen ist, schleppt die Erzählerin kahlköpfig und im Krankenhauskittel den literarischen Schatten der Aids-Epidemie mit sich - in Gestalt einer sexuell übertragenen Krebsinfektion, die den Zeugungsorganen kurz vor dem Exodus ein auswucherndes Eigenleben beschert. Einen Geliebten gibt es auch, doch der ist der Erzählerin keine große Hilfe, denn seit sie geschieden ist, schläft er nur noch. Die Männer ihres Lebens vereinigen sich zu chorischen "Moralpredigten: Warum gibst du dich nicht hin? Warum kannst du nicht lieben? Warum kannst du dich nicht freuen? Was schämst du dich deiner Liebe?" Und auf jeden Schritt verfolgt sie das Bild eines kleinen Mädchens in weißen und bunten Kleidchen, Spangen und Schleifen in den sorgsam vom Vater frisierten Locken. Mal wurde es von Soldaten entführt, dann wieder wohnt es als "neue Geliebte" zusammen mit dem Ex-Mann im "Tempel" der ehemals gemeinsamen, nun aschebedeckten Wohnung, während die Erzählerin mit ihrem Geliebten im "Schrottmuseum" das Spiel spielt, wer sich am längsten von seinen Kindern trennen kann.
Die Erzählerin, so kristallisiert sich langsam heraus, hat die Familie verlassen. Der Skandal daran ist: nicht aus Liebe! Denn "Ficken hab' ich gemocht, aber Sex hab' ich gehasst". Buchstäblich im Vorübergehen brauchte sie den Energiekick, um einen erschöpfenden Alltag zu bewältigen. "Einmal zum Beispiel war der Geliebte nicht in seinem Zimmer, als ich kam, und ich versuchte, ohne diesen Fick weiterzugehen, und wurde schließlich am Eingang des Kindergartens ohnmächtig." Waren Fürsorge und Verzicht vergeblich, wenn auf verstörende Weise nicht einmal mehr klar ist, ob das Mädchen - ein Geschöpf zwischen "Venus" und "Virus", Göttin und Zwerg, Puppe und Totgeburt - je existierte?
Mit ihren prismatisch gebrochenen Geschichten verweigert die Erzählerin zugleich erzählerische wie psychologisch-psychoanalytische Kausalität. "Wenn ihr alles glaubt, was ich bisher erzählt habe, irrt ihr euch." Die mit ihrer Kleinfamilie Gescheiterte ruft zur Begründung übliche Mama-Papa-Kind- Stereotype auf und dekonstruiert sie, indem sie sich selbst als Un-Mutter anklagt und zugleich den eigenen Eltern wegen Lieblosigkeit den Prozess macht. Der Vater mutiert über ihrer Anklage zur Kuckucksuhr, doch der Mutter empfiehlt die Erzählerin, statt eines Psychologen "den Uhrmacher" zu holen.
Statt Erklärungen zu liefern, spiralt sich daraus in skurrilen, drastischen, komischen, fast nie vorhersehbaren Bildern und immer neuen Verschränkungen ein Lamento auf zur DNA des Verlusts. Darin werden Metaphern zu Geschichtsfragmenten, die feuerwerksartig als Bilder aufsteigen, explodieren und verpuffend bleibenden Eindruck hinterlassen. Sie verleihen dem schwer fasslichen, doch hochgradig stimmigen Text eine musikalische Faktur, die mit ratloser Klarheit Erklärungen zweiter Ordnung liefert. Etwa wenn die Erzählerin mit Spielzeug einen winterlichen Kreisverkehr bepflanzt und sich in diesem Trauergarten einschneien lässt, um später auf der Suche nach der Tochter in eine an Tarkowskis spätsowjetischen Science-Fiction-Film "Stalker" gemahnende Kibbuz-Landschaft der verwaisten selbstmordenden Mütter zu gelangen.
Kaum zu glauben, dass dieser Text schon dreißig Jahre alt ist. Der Ruf drastischer Sexdarstellungen eilt ihm voraus - zu Unrecht. Nicht selten entlarvt ein größerer zeitlicher Abstand selbst emanzipatorische Sexualitätsdarstellungen als sexistisch, weil die Autorinnen den Sexismus ihrer Zeit verinnerlicht hatten. Hier nicht, denn es gibt keinen Punkt, von dem aus die Schilderungen pornographisch konsumierbar würden. Daher erstaunen die "aggressiven" (so Shalev) Reaktionen bei Erscheinen des Romans 1993 kaum. Sex dient der Erzählerin zur Energiegewinnung in der fremdbestimmten Tretmühle des Funktionierens. Angetrieben vom Verlangen, der eigenen Taubheit nur irgendeine Empfindung entgegenzusetzen, wird Sex die Alternative zum Ritzen heutiger Teenagerinnen.
Die frappierende Zeitlosigkeit von "Nicht ich" mag auch daran liegen, dass der jüdisch-israelische Feminismus dem deutschen um Jahrzehnte voraus ist. Vielleicht trifft er auch deshalb zielsicher auf viele heutige Dilemmata zu, weil sich in jüdischen Gesellschaften beim Thema Mutter- und Elternschaft anstelle der christlichen Binarität aus weiblich, weich, mütterlich auf der einen und männlich, hart, nestflüchtig auf der anderen Seite die Geschlechtsvorstellungen schon länger durchkreuzen und umschlingen. Wer einmal mit einem Kleinkind den Schabbat in einem israelischen Hotel verbrachte, bekommt eine Ahnung davon, was Kinder in Israel bedeuten.
Braut und Bräutigam - wie in Zeruya Shalevs Roman träumt in jiddischen Liedern schon das Baby in der Wiege oder zumindest seine davorsitzende Mutter davon, und am Ende des Romans stillt die Mutter des Ex-Mannes ihren Sohn im Hochzeitsanzug. Das zeigt den Druck auf Frauen, aber auch, wie fundamental anders patriarchale Mühlen mahlen, wenn im mütterlichen Ex-Gatten Gebärneid und neuer Mann zusammenfließen. Er ist es, der das Mädchen anzieht, frisiert und in den Kindergarten bringt, während die schlechte Mutter im Bett liegt, bis selbst das Kind sagt: "Mama, steh auf."
Vom familiären Kinderwunsch fühlte sie sich vergewaltigt, da sie selbst noch pubertär empfand. Das unter eigentümlich eifersüchtigen Bedingungen geborene Mädchen wird zur Wiedergeburt einer ewigen mütterlich-töchterlichen Fehlentwicklung. Als Kern des Lebens der Erzählerin sind Anwesenheit und Fehlen des Mädchens dasselbe Problem. Da es sie ehedem bis zur vollständigen Verdrängung des mütterlichen Ichs ausfüllte, bleibt mit dem Verschwinden nur noch deren Nicht-Ich übrig. Treffender ist das unlösbare Dilemma der Mutterschaft vielleicht nie beschrieben worden. Heute ist "Regretting Motherhood" einer der meistdiskutierten und meistmissverstandenen Begriffe für dieses psychologische Paradoxon. Als Orna Donath es vor knapp zehn Jahren als Studie mit israelischen Frauen vorstellte, war Zeruya Shalevs literarische Formulierung bereits mehr als zwanzig Jahre in der Welt. "Regretting Motherhood" gilt mittlerweile als internationales Phänomen.
Die Erzählerin ist ausdrücklich das Nicht-Ich der Autorin, die vor dreißig Jahren vor dem Kindergarten ihrer Tochter wartend die ersten Sätze dieses Romans auf Rückseiten eines von ihr lektorierten Manuskripts schrieb. In ihrem Vorwort zur ersten deutschen Übersetzung ruft Shalev mit dieser Entstehungsgeschichte die Subjekttheorie des deutschen Idealismus auf. Als Setzung des Ichs umfasst das Nicht-Ich bei Johann Gottlieb Fichte die Gesamtheit der räumlichen Welt inklusive des empirischen Selbst. Nicht-Ich wird damit als künstlerische Setzung lesbar, um das Dilemma des eigenen Seins begreifbar zu machen und damit als Voraussetzung des Autorin-Werdens.
Gegenüber dieser komplexen Hinführung mag die romantische Konventionalität der Ich-Werdung überraschen, mit der der Roman am Ende das Unlösbare kappt. Das ändert jedoch nichts daran, dass mit "Nicht ich" Shalevs nun endlich wichtigstes Werk in deutscher Sprache vorliegt. TINA HARTMANN
Zeruya Shalev: "Nicht ich". Roman.
Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer.
Berlin Verlag, Berlin 2024. 208 S., geb., 24,- Euro.
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Rezensent Carsten Hueck freut sich über die deutsche Erstveröffentlichung von Zeruya Shalevs Debütroman. Dass der Text über die Selbstbefreiung einer jungen Mutter so frisch wirkt, liegt für Hueck einerseits am Thema, das vor 30 Jahren so noch kaum jemand anpackte, andererseits an Shalevs "eruptiver", dichter Darstellung von Gewaltfantasien und Verzweiflung. Manchmal scheint es Hueck, als kotze sich die Protagonistin die Seele aus. Gegen die (damaligen) Rollenklischees der israelischen Gesellschaft setzen sich Figur und Text gleichermaßen beeindruckend zur Wehr, findet Hueck.
© Perlentaucher Medien GmbH
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