Sie sind Freundinnen seit Kindertagen. Sie sind auf der Suche nach Liebe. Sie verlieben sich in den selben Mann. Judith Hermann erzählt von Situationen und Begegnungen, die scheinbar einen Wendepunkt darstellen, jedoch nur eine kurze Flucht aus dem Alltag sind. Judith Hermann hat drei Erzählungen ausgewählt, die einen unwiderstehlichen Sog und unergründlichen Bann entwickeln. Sie liest sie hier mit der ihr eigenen Melancholie. (Laufzeit: ca. 3h 10)
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.01.2003Liebst Du mich?
Judith Hermanns Erzählband „Nichts als Gespenster”
Es gibt Menschen, die einen Zug besteigen können, heute, im hellsten Licht der Gegenwart, und denen dabei wunderliche Dinge widerfahren: „Die Fahrt von Berlin nach Würzburg dauerte sechs Stunden, und in diesen sechs Stunden war ich glücklich.” Sechs Stunden. Wie mag dieser Zug gefahren sein – über Meiningen und Bebra oder über Bayreuth und Bamberg? In welchem Zeitloch, in welchem romantischen Tunnel ging er verloren? Und wunderlich geht diese Fahrt fort: „Ich ging eine Zigarette rauchen im Zugbistro, da saßen krumme Gestalten vor Biergläsern, schweigend, die Landschaft vor den getönten Fensterscheiben hügelig und grün, die Felder schon abgeerntet, auf den schwingenden Telegrafenleitungen kleine Vögel in einer langen, dunklen Kette.” Getönt sind die Fensterscheiben, gewiss – aber spätestens seit den frühen siebziger Jahren sind alle Hauptstrecken der deutschen Eisenbahnen elektrifiziert, und schon deshalb werden ihnen entlang keine Telegrafenmasten mehr gestanden haben. Wie groß muss der Umweg gewesen sein, den dieser Zug machte? Schlug er einen Bogen durch Anton Tschechows Steppen? Warum geriet diese längst braun angelaufene Schwarz-Weiß-Fotografie zwischen die bunten Bilder von deutscher Gegenwart, und warum bemerkte keiner diesen Irrtum?
Fast fünf Jahre haben die Leser nach dem überwältigenden Erfolg von Judith Hermanns Debüt „Sommerhaus, später” auf ein zweites Buch gewartet, fünf Jahre, in denen das madonnenhafte Gesicht der Autorin zu einer allgegenwärtigen Begleitung des literarischen Betriebs wurde, fünf Jahre, in denen Judith Hermann Stipendium nach Stipendium und Auszeichnung nach Auszeichnung erhielt – vor gut einem Jahr noch den renommierten Kleistpreis. Mit Spannung nimmt man daher das neue Buch in die Hand, denn hier hat sich ein großes Versprechen zu erfüllen, ein Versprechen zwar, für das die Autorin nicht selbst verantwortlich sein kann, das aber auf ihr lasten muss wie eine allzu große Hypothek auf dem Gewissen eines Hausbesitzers mit ungewissen beruflichen Aussichten.
Und schon bevor die erste Zeile gelesen wurde, ist deutlich, wie die Raten bezahlt werden sollen: Fünf Erzählungen hatte das erste Buch enthalten. „Sommerhaus, später” war ein dünnes und sehr leichtes Werk von gut hundertfünfzig Seiten. „Nichts als Gespenster” ist schwerer, fast doppelt so dick, bis zu sechzig Seiten Länge zählen einige der insgesamt sieben Erzählungen. Die Zeit der schmalen, schlanken Geschichten ist vorbei, hier will jemand in eine größere Form: „Ich erinnere mich” heißt das Treibmittel, das aus kleinen, luftigen Szenen epische Entwürfe machen soll: „Obwohl es mich müde macht, immer und immer wieder die alten Geschichten zu erzählen, kann ich nicht widerstehen und erzähle sie doch.” Und tatsächlich sehen die Erinnerungen aus nicht wie sie sind, sondern wie sie nach allgemeinem Urteil auszusehen haben. „Ich saß auf einem Stuhl, und der Projektor summte, und auf der weißen Wand lief ein Kind, das ich einmal gewesen sein sollte, über eine Sanddüne.” Judith Hermann hat einen Bedeutungsgenerator angeworfen, und dieses Gerät ist so schwer, dass es zu einem Risiko des Erzählens wird.
Zwischen dem Umfang dieses Buches und den in die Irre gelaufenen Telegrafenmasten besteht ein unmittelbarer Zusammenhang. Es ist der Wille zur epischen Gestalt, und deswegen schießen von allen Seiten Leihgaben in die Geschichten hinein: geborgte und manchmal falsch verwendete Bilder, Gemeinplätze wie der vom großen Jungen mit den Taschen voller Kram – „Angelhaken, Vogelfedern, Nüsse und eine Paketschnur, einen kleinen, blauen Stein von der französischen Atlantikküste, ein Token für die Untergrundbahn in New York” – und jede Menge Pathosformeln aus der populären Kultur: „Silvester war der Tag des Jahres, an dem ich mit Sicherheit unglücklich sein würde, jedes Jahr anders und jedes Jahr gleich.” Judith Hermann bedient sich aus einer Art Modulbaukasten des landläufigen Erzählens.
Zwischen Fugen und Floskeln
Das Buch beginnt schon mit einem solchen Standbild, das auf banale Art lebendig gemacht wird: „Sie saß auf dem Stuhl am Fenster, die nackten Beine hochgezogen, sie hatte geduscht und sich die Haare gewaschen, sie trug nur Unterwäsche, ein Handtuch um den Kopf geschlungen.” Später gibt es dieses Bild noch einmal, doch dann ist die Figur ganz nackt. Und was so erzählt wird, entspricht einem bekannten Foto, das so oder ähnlich auf vielen Buchumschlägen benutzt wurde, zuletzt auf dem Cover zu „Becky Bernstein Goes Berlin” von Holly Jane Rahlens (rororo 2003). Ein anderes Fertigteil stammt aus der deutschen Bewunderung für den amerikanischen Westen: „Im ersten Stock waren die Fenster mit Brettern zugenagelt, aber im Erdgeschoss blinkte eine Budweiser-Leuchtreklame in einem verstaubten Fenster, ihr Neon sah im Tageslicht seltsam aus.” Und in den Fugen kleben Floskeln, am häufigsten lange Adjektivreihen mit vielen „und”.
Einst wurde Judith Hermann als junge Meisterin der „short story” gelobt und für ihre „Kunst des Aussparens und Andeutens” bewundert. Doch eine „short story” besitzt eine kleine, dünne Geschichte, die knapp gehalten wird, um ihr Echo so groß wie möglich erscheinen zu lassen, und immer steht das wenige Gesagte für eine übergroße Menge von Nicht-Gesagtem. So betrachtet, sind die Geschichten von „Nichts als Gespenster” keine „short stories” mehr. Jeder Einfall ist bis ins Detail ausgemalt, aufgeschwemmt und vergrößert. Aber der Weg von der „short story” zum Roman führt nicht über die Verlängerung des Vorhandenen.
Es ist der Wille zur Poesie, dem so gehuldigt wird. Aber was dabei entsteht, ist weniger Dichtung als ein dauerndes Ablutschen und Ausschlürfen von Gegenwart nach Gegenständen und Ereignissen, die einen poetischen Geschmack, eine poetische Stimmung besitzen, die einen Anlass zur Selbstverzauberung bieten könnten: „Wir saßen vielleicht zwei Stunden an diesem Tisch”, heißt es vorn im Buch aus Würzburg, „in diesem Restaurant, in dem sich die ganze Zeit über kein weiterer Gast blicken ließ, es war, als wäre die Welt draußen untergegangen und als seien nur wir übrig geblieben.” Und irgendwo in der Mitte: „Die Welt war zusammengeschrumpft auf dieses Karlovy Vary, nichts mehr außer warmem Salzwasser und ein südliches Licht und der vage Gedanke, dass mir im Grunde alles egal sein könnte, vollständig egal, und vielleicht war es das auch, für einen Augenblick”. So könnte man weitermachen und Belege über Belege heranschleppen. Aber es lohnt nicht mehr. Und alles, was man nicht weiß, ist, ob hier ein Missverständnis der Form die ewige Pubertät hervorgetrieben hat oder umgekehrt.
Die Müden und Unfertigen
Sonderbare Menschen bevölkern diese Geschichten. Sie sind um die dreißig Jahre alt und befinden sich in einem Übergang, der von Ferne an den zwischen Studium und Berufsleben erinnert. Aber diese Phase scheint sich endlos auszudehnen. Von irgendwo her scheint stets ein wenig Geld zu kommen, nicht viel, aber doch genug, um das Leben der Bohème zu finanzieren und ihr die pausenlose Anwesenheit in mehr oder minder fernen Ländern, in Tschechien und auf Island, in den Vereinigten Staaten und in Paris zu gestatten. „Ich stand eine Stunde lang mit einem Glas Sekt an der Heizung, bevor ich zurück ins Hotel ging, am nächsten Tag wieder abreiste, nach Hause oder irgendwohin.”
Ein Übermaß an Privatleben zeichnet diese Gestalten aus, und es mag sein, dass diese Trennung vom Leben, dieses Vakuum die Voraussetzung dafür ist, die zarte, melancholische Stimmung für das Eigentliche an der Dichtung zu halten. „Vielleicht ist es so”, spricht eine der Heldinnen, „dass du dich immer selbst suchst und dich wirklich wieder und wieder selbst sehen kannst, und dass ich im Gegensatz zu dir mich verlieren will, von mir selber entfernen, und am ehesten kann ich das, wenn ich reise”. Es sind die Freunde, von denen diese Geschichten handeln, es kommen in ihnen kaum andere Menschen vor als tatsächliche oder mögliche oder gescheiterte Freunde. Man könnte das auch soziologisch und böse formulieren: Die Voraussetzung dieser Geschichte ist der entfaltete und staatlich alimentierte Kulturbetrieb.
Judith Hermann kann schreiben, manchmal sind ihre Formulierungen sogar elegant. Aber oft missraten ihr die Wendungen, und um so häufiger, je höher sie hinauswill: „Ich erzählte von Berlin und von meiner Arbeit und, in Andeutungen, von eventuellen Lieben, Begegnungen und Nächten.” Nachlässig sagt sie „umsonst”, wenn sie „vergeblich” meint, benutzt ganz ohne Distanz Formulierungen wie „nicht wirklich” oder setzt „scheinbar” statt „anscheinend”. Ihre Übergänge sind immer wieder nach demselben Muster gebaut: ein langsamer Beginn, und dann ein plötzliches Voranstolpern: „Wir lagen nebeneinander in diesem Bett herum, zerschlagen, verkatert und glücklich.” Aber es ist zu befürchten, dass solche Mängel die Attraktivität dieser Geschichten eher vergrößern als verkleinern.
Judith Hermanns Literatur reagiert auf ein großes Bedürfnis. Sie bietet scheinbar eine Antwort auf die Frage, was späte und späteste Jugend ist. Sie paktiert mit den Sorgen und der Hilflosigkeit der Eltern. Sie offeriert eine Möglichkeit der Identifikation für all die vielen Unsicheren und Unfertigen, die sein wollten wie Bruno Ganz oder Monika Maron oder wie Britney Spears, und die sich allmählich eingestehen müssen, dass aus solchen Plänen nichts mehr werden wird. Die Melancholie aber steht als Ausweg noch offen, und vielleicht sogar, kleine melancholische Geschichten wie diese zu schreiben. Auch deswegen sieht Judith Hermann ihren Heldinnen zum Verwechseln ähnlich.
Liebt man mich noch, ist die Frage hinter diesen Geschichten. Sie enthalten eine Aufforderung, sich um die Müden und Unfertigen zu kümmern. Und unterwürfig sind sie auch, diese Heldinnen, und wenn einer ruft, ein Peter oder ein Raoul, dann kommen sie, nach Würzburg, nach Karlsbad, ja sogar nach Tromsö im norwegischen Norden. Denn sie sind wie der Rauch der Zigaretten, flüchtig, unzuverlässig, selbstzerstörerisch und ganz dem Augenblick geweiht. „Die Zigarette schmeckte rauh und bitter und schön.” Sie ist das eigentliche Zentrum dieser Simulation von Poesie: „Ich ignorierte die Schilder mit der Aufschrift Don-t smoke und zündete mir eine Zigarette an.” Sie steht für die existentialistische Pose, für das Spiel mit etwas Geistigem, mit dem Inhalieren und Ausatmen. „Er drehte Minutenlang an der Zigarette herum, zündete sie an und inhalierte tief, eine gute Zigarette, die beste der Welt.” Wer das für Koketterie hält, muss ein Banause sein.
THOMAS STEINFELD
JUDITH HERMANN: Nichts als Gespenster. Erzählungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 318 Seiten, 17, 90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Judith Hermanns Erzählband „Nichts als Gespenster”
Es gibt Menschen, die einen Zug besteigen können, heute, im hellsten Licht der Gegenwart, und denen dabei wunderliche Dinge widerfahren: „Die Fahrt von Berlin nach Würzburg dauerte sechs Stunden, und in diesen sechs Stunden war ich glücklich.” Sechs Stunden. Wie mag dieser Zug gefahren sein – über Meiningen und Bebra oder über Bayreuth und Bamberg? In welchem Zeitloch, in welchem romantischen Tunnel ging er verloren? Und wunderlich geht diese Fahrt fort: „Ich ging eine Zigarette rauchen im Zugbistro, da saßen krumme Gestalten vor Biergläsern, schweigend, die Landschaft vor den getönten Fensterscheiben hügelig und grün, die Felder schon abgeerntet, auf den schwingenden Telegrafenleitungen kleine Vögel in einer langen, dunklen Kette.” Getönt sind die Fensterscheiben, gewiss – aber spätestens seit den frühen siebziger Jahren sind alle Hauptstrecken der deutschen Eisenbahnen elektrifiziert, und schon deshalb werden ihnen entlang keine Telegrafenmasten mehr gestanden haben. Wie groß muss der Umweg gewesen sein, den dieser Zug machte? Schlug er einen Bogen durch Anton Tschechows Steppen? Warum geriet diese längst braun angelaufene Schwarz-Weiß-Fotografie zwischen die bunten Bilder von deutscher Gegenwart, und warum bemerkte keiner diesen Irrtum?
Fast fünf Jahre haben die Leser nach dem überwältigenden Erfolg von Judith Hermanns Debüt „Sommerhaus, später” auf ein zweites Buch gewartet, fünf Jahre, in denen das madonnenhafte Gesicht der Autorin zu einer allgegenwärtigen Begleitung des literarischen Betriebs wurde, fünf Jahre, in denen Judith Hermann Stipendium nach Stipendium und Auszeichnung nach Auszeichnung erhielt – vor gut einem Jahr noch den renommierten Kleistpreis. Mit Spannung nimmt man daher das neue Buch in die Hand, denn hier hat sich ein großes Versprechen zu erfüllen, ein Versprechen zwar, für das die Autorin nicht selbst verantwortlich sein kann, das aber auf ihr lasten muss wie eine allzu große Hypothek auf dem Gewissen eines Hausbesitzers mit ungewissen beruflichen Aussichten.
Und schon bevor die erste Zeile gelesen wurde, ist deutlich, wie die Raten bezahlt werden sollen: Fünf Erzählungen hatte das erste Buch enthalten. „Sommerhaus, später” war ein dünnes und sehr leichtes Werk von gut hundertfünfzig Seiten. „Nichts als Gespenster” ist schwerer, fast doppelt so dick, bis zu sechzig Seiten Länge zählen einige der insgesamt sieben Erzählungen. Die Zeit der schmalen, schlanken Geschichten ist vorbei, hier will jemand in eine größere Form: „Ich erinnere mich” heißt das Treibmittel, das aus kleinen, luftigen Szenen epische Entwürfe machen soll: „Obwohl es mich müde macht, immer und immer wieder die alten Geschichten zu erzählen, kann ich nicht widerstehen und erzähle sie doch.” Und tatsächlich sehen die Erinnerungen aus nicht wie sie sind, sondern wie sie nach allgemeinem Urteil auszusehen haben. „Ich saß auf einem Stuhl, und der Projektor summte, und auf der weißen Wand lief ein Kind, das ich einmal gewesen sein sollte, über eine Sanddüne.” Judith Hermann hat einen Bedeutungsgenerator angeworfen, und dieses Gerät ist so schwer, dass es zu einem Risiko des Erzählens wird.
Zwischen dem Umfang dieses Buches und den in die Irre gelaufenen Telegrafenmasten besteht ein unmittelbarer Zusammenhang. Es ist der Wille zur epischen Gestalt, und deswegen schießen von allen Seiten Leihgaben in die Geschichten hinein: geborgte und manchmal falsch verwendete Bilder, Gemeinplätze wie der vom großen Jungen mit den Taschen voller Kram – „Angelhaken, Vogelfedern, Nüsse und eine Paketschnur, einen kleinen, blauen Stein von der französischen Atlantikküste, ein Token für die Untergrundbahn in New York” – und jede Menge Pathosformeln aus der populären Kultur: „Silvester war der Tag des Jahres, an dem ich mit Sicherheit unglücklich sein würde, jedes Jahr anders und jedes Jahr gleich.” Judith Hermann bedient sich aus einer Art Modulbaukasten des landläufigen Erzählens.
Zwischen Fugen und Floskeln
Das Buch beginnt schon mit einem solchen Standbild, das auf banale Art lebendig gemacht wird: „Sie saß auf dem Stuhl am Fenster, die nackten Beine hochgezogen, sie hatte geduscht und sich die Haare gewaschen, sie trug nur Unterwäsche, ein Handtuch um den Kopf geschlungen.” Später gibt es dieses Bild noch einmal, doch dann ist die Figur ganz nackt. Und was so erzählt wird, entspricht einem bekannten Foto, das so oder ähnlich auf vielen Buchumschlägen benutzt wurde, zuletzt auf dem Cover zu „Becky Bernstein Goes Berlin” von Holly Jane Rahlens (rororo 2003). Ein anderes Fertigteil stammt aus der deutschen Bewunderung für den amerikanischen Westen: „Im ersten Stock waren die Fenster mit Brettern zugenagelt, aber im Erdgeschoss blinkte eine Budweiser-Leuchtreklame in einem verstaubten Fenster, ihr Neon sah im Tageslicht seltsam aus.” Und in den Fugen kleben Floskeln, am häufigsten lange Adjektivreihen mit vielen „und”.
Einst wurde Judith Hermann als junge Meisterin der „short story” gelobt und für ihre „Kunst des Aussparens und Andeutens” bewundert. Doch eine „short story” besitzt eine kleine, dünne Geschichte, die knapp gehalten wird, um ihr Echo so groß wie möglich erscheinen zu lassen, und immer steht das wenige Gesagte für eine übergroße Menge von Nicht-Gesagtem. So betrachtet, sind die Geschichten von „Nichts als Gespenster” keine „short stories” mehr. Jeder Einfall ist bis ins Detail ausgemalt, aufgeschwemmt und vergrößert. Aber der Weg von der „short story” zum Roman führt nicht über die Verlängerung des Vorhandenen.
Es ist der Wille zur Poesie, dem so gehuldigt wird. Aber was dabei entsteht, ist weniger Dichtung als ein dauerndes Ablutschen und Ausschlürfen von Gegenwart nach Gegenständen und Ereignissen, die einen poetischen Geschmack, eine poetische Stimmung besitzen, die einen Anlass zur Selbstverzauberung bieten könnten: „Wir saßen vielleicht zwei Stunden an diesem Tisch”, heißt es vorn im Buch aus Würzburg, „in diesem Restaurant, in dem sich die ganze Zeit über kein weiterer Gast blicken ließ, es war, als wäre die Welt draußen untergegangen und als seien nur wir übrig geblieben.” Und irgendwo in der Mitte: „Die Welt war zusammengeschrumpft auf dieses Karlovy Vary, nichts mehr außer warmem Salzwasser und ein südliches Licht und der vage Gedanke, dass mir im Grunde alles egal sein könnte, vollständig egal, und vielleicht war es das auch, für einen Augenblick”. So könnte man weitermachen und Belege über Belege heranschleppen. Aber es lohnt nicht mehr. Und alles, was man nicht weiß, ist, ob hier ein Missverständnis der Form die ewige Pubertät hervorgetrieben hat oder umgekehrt.
Die Müden und Unfertigen
Sonderbare Menschen bevölkern diese Geschichten. Sie sind um die dreißig Jahre alt und befinden sich in einem Übergang, der von Ferne an den zwischen Studium und Berufsleben erinnert. Aber diese Phase scheint sich endlos auszudehnen. Von irgendwo her scheint stets ein wenig Geld zu kommen, nicht viel, aber doch genug, um das Leben der Bohème zu finanzieren und ihr die pausenlose Anwesenheit in mehr oder minder fernen Ländern, in Tschechien und auf Island, in den Vereinigten Staaten und in Paris zu gestatten. „Ich stand eine Stunde lang mit einem Glas Sekt an der Heizung, bevor ich zurück ins Hotel ging, am nächsten Tag wieder abreiste, nach Hause oder irgendwohin.”
Ein Übermaß an Privatleben zeichnet diese Gestalten aus, und es mag sein, dass diese Trennung vom Leben, dieses Vakuum die Voraussetzung dafür ist, die zarte, melancholische Stimmung für das Eigentliche an der Dichtung zu halten. „Vielleicht ist es so”, spricht eine der Heldinnen, „dass du dich immer selbst suchst und dich wirklich wieder und wieder selbst sehen kannst, und dass ich im Gegensatz zu dir mich verlieren will, von mir selber entfernen, und am ehesten kann ich das, wenn ich reise”. Es sind die Freunde, von denen diese Geschichten handeln, es kommen in ihnen kaum andere Menschen vor als tatsächliche oder mögliche oder gescheiterte Freunde. Man könnte das auch soziologisch und böse formulieren: Die Voraussetzung dieser Geschichte ist der entfaltete und staatlich alimentierte Kulturbetrieb.
Judith Hermann kann schreiben, manchmal sind ihre Formulierungen sogar elegant. Aber oft missraten ihr die Wendungen, und um so häufiger, je höher sie hinauswill: „Ich erzählte von Berlin und von meiner Arbeit und, in Andeutungen, von eventuellen Lieben, Begegnungen und Nächten.” Nachlässig sagt sie „umsonst”, wenn sie „vergeblich” meint, benutzt ganz ohne Distanz Formulierungen wie „nicht wirklich” oder setzt „scheinbar” statt „anscheinend”. Ihre Übergänge sind immer wieder nach demselben Muster gebaut: ein langsamer Beginn, und dann ein plötzliches Voranstolpern: „Wir lagen nebeneinander in diesem Bett herum, zerschlagen, verkatert und glücklich.” Aber es ist zu befürchten, dass solche Mängel die Attraktivität dieser Geschichten eher vergrößern als verkleinern.
Judith Hermanns Literatur reagiert auf ein großes Bedürfnis. Sie bietet scheinbar eine Antwort auf die Frage, was späte und späteste Jugend ist. Sie paktiert mit den Sorgen und der Hilflosigkeit der Eltern. Sie offeriert eine Möglichkeit der Identifikation für all die vielen Unsicheren und Unfertigen, die sein wollten wie Bruno Ganz oder Monika Maron oder wie Britney Spears, und die sich allmählich eingestehen müssen, dass aus solchen Plänen nichts mehr werden wird. Die Melancholie aber steht als Ausweg noch offen, und vielleicht sogar, kleine melancholische Geschichten wie diese zu schreiben. Auch deswegen sieht Judith Hermann ihren Heldinnen zum Verwechseln ähnlich.
Liebt man mich noch, ist die Frage hinter diesen Geschichten. Sie enthalten eine Aufforderung, sich um die Müden und Unfertigen zu kümmern. Und unterwürfig sind sie auch, diese Heldinnen, und wenn einer ruft, ein Peter oder ein Raoul, dann kommen sie, nach Würzburg, nach Karlsbad, ja sogar nach Tromsö im norwegischen Norden. Denn sie sind wie der Rauch der Zigaretten, flüchtig, unzuverlässig, selbstzerstörerisch und ganz dem Augenblick geweiht. „Die Zigarette schmeckte rauh und bitter und schön.” Sie ist das eigentliche Zentrum dieser Simulation von Poesie: „Ich ignorierte die Schilder mit der Aufschrift Don-t smoke und zündete mir eine Zigarette an.” Sie steht für die existentialistische Pose, für das Spiel mit etwas Geistigem, mit dem Inhalieren und Ausatmen. „Er drehte Minutenlang an der Zigarette herum, zündete sie an und inhalierte tief, eine gute Zigarette, die beste der Welt.” Wer das für Koketterie hält, muss ein Banause sein.
THOMAS STEINFELD
JUDITH HERMANN: Nichts als Gespenster. Erzählungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 318 Seiten, 17, 90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.02.2003Ich will mich nehmen, wie ich bin
Schöne Seelen im Sinkflug: Judith Hermann legt ihr zweites Buch vor und erweist sich als Geisterjägerin ihrer Generation
Drei Jahre bevor Judith Hermanns Erzählungsband "Sommerhaus, später" erscheint, steht ein junger Mann bei Fisch-Gosch in List auf Sylt und trinkt ein Jever aus der Flasche. Weil es ein bißchen kalt ist und der Westwind weht, trägt er eine gefütterte Wachstuchjacke englischen Fabrikats, die damals zu einer Art Erkennnungszeichen unter Gleichgesinnten avanciert war. Er ißt Scampi mit Knoblauchsoße, zwei Portionen, schaut in den Himmel und unterhält sich mit einer Blondine mit Pagenkopf und zuviel Gold an den Fingern. Das Gespräch kreist um denkbar banale Gegenstände, unser Wachstuchjackenträger hört daher auch gar nicht zu, sondern beobachtet lieber, wie seine Gesprächspartnerin ihr Haar aus dem Nacken wirft, und schließt daraus auf hinreichende Qualitäten im Bett. Dann steigt man in einen offenen Sportwagen und schnüffelt freudlos am Leder der Sitze.
Nichts an dieser Szene, mit der Christain Krachts Kultbuch "Faserland" beginnt, ist zufällig, nichts beliebig oder austauschbar. Die Fischbude kann nur Gosch heißen, und das Bier muß von Jever sein. Undenkbar, den Helden in einer Lederjacke auftreten zu lassen. Und auch der Ort des Geschehens ist dramaturgisch vorgegeben: Krachts Roman konnte nur auf Sylt beginnen, denn hier trifft sich die Jeunesse dorée der Republik, die unser Held im Lauf des Romans durchqueren wird.
Auf einer der zahllosen Partys, die er unterwegs besucht, hätte er ohne weiteres auf eine jener jungen Frauen treffen können, die uns seit dem Erzählungsband "Sommerhaus, später" so vertraut scheinen. In ihrem Leben ist alles so zufällig wie dieses Treffen, das überall stattfinden könnte. Sie ist nicht unbedingt hübsch, aber höchst apart, schüchtern in einer Weise, die nahtlos ins Selbstbewußte übergeht, präsent durch die Aura der Abwesenheit, in die sie sich hüllt wie in die stets pelzbesetzten Mäntel, die sie statt der Wachstuchjacke trägt. Ihre Haare sind sehr wahrscheinlich hochgesteckt, ihr Schmuck ist nicht teuer, aber veredelt durch Erinnerung, das bunte Freundschaftsbändchen an ihrem Handgelenk ist so abgeschnuddelt wie ein Teddybär. Kurzum: Sie ist eine seltsam anziehende Mischung aus Hühnchen und Diva, Botschafterin einer anderen Welt, die von Gosch, Sylt, Barbour und Brooks Brothers nicht weiß und nicht davon wissen will.
Was wäre wohl passiert, wenn Kracht-Kerl und Hermann-Hühnchen einander begegnet wären? Die schönste Liebesgeschichte der jungen deutschen Literatur, Popliterat trifft Fräuleinwunder?
Ach, nichts wäre passiert. Kaum einen Blick hätten sie füreinander gehabt, ein paar banale Sätze hätten sie ausgetauscht, sie hätte geheimnisvoll geblinzelt, er hätte Desinteresse zunächst geheuchelt und dann tatsächlich empfunden. Die Botschaft aus der anderen Welt wäre nicht überbracht worden, denn es gibt sie nicht, und dann, nach kurzer Zeit, hätten sie voneinander gelassen, denn sie hätten einander nicht erkannt. Seltsam, hätte das Hermann-Hühnchen noch gedacht, Stunden später oder auch erst am nächsten Tag, an irgendwen hat er mich erinnert. Aber an wen bloß? Nie wäre sie darauf gekommen, daß dieser fremde junge Mann ihr ähnelt wie ein älterer Bruder seiner kleinen Schwester.
Judith Hermanns Erzählungen sind die Fortschreibung von Christian Krachts "Faserland" unter umgekehrten Vorzeichen: die Perspektive ist weiblich, nicht männlich, die Freundesclique ist nicht bestens situiert, sondern schlägt sich gerade so durch. An die Stelle des Markenfetischismus ist ein anderer Kult getreten, der nichts mit Statusdenken und sehr viel mit Sehnsucht zu tun hat. Wo Krachts Held sein Ungenügen an der Welt mit Herablassung und Verachtung bis zum Haß kompensiert, kultivieren Hermanns Figuren ihren Weltschmerz. Sie bewohnen die Leere in ihrem Inneren wie eine Altbauwohnung. Sie fühlen sich nicht wirklich wohl in diesem Ambiente, aber irgendwie ist es auch wieder schick.
Mit Anfang Dreißig befinden sie sich noch immer in der Ausbildung: eifrige Lehrlinge der Sehnsucht und der gemäßigten Verzweiflung, unfähig zu Zorn und jeder anderen Leidenschaft. Ihre Lieblingsbeschäftigung ist die Selbstbetrachtung, die jedoch nie zur Analyse führt, weshalb sie von ihrem Forschungsgegenstand auch nicht besonders viel wissen. Ein schwach ausgeprägtes Reflexionsbedürfnis zieht ihrer Selbsterkenntnis enge Grenzen. Geradezu panisch ist ihre Furcht, den Dingen auf den Grund zu gehen. So lautet ihr Lebensmotto, frei nach Magarine-Werbung und den Romantikern: Ich will mich nehmen, wie ich bin.
Nein, bei Lichte besehen, sind Judith Hermanns Figuren kaum sympathischer als Christian Krachts verzweifelte Dandys. Ein Jahr nachdem "Sommerhaus, später" erschienen war, hat Christian Kracht einen Sammelband mit Erzählungen seiner Generationsgenossen herausgegeben, von Eckhart Nickel und Elke Naters bis Moritz von Uslar und Benjamin von Stuckrad-Barre. Judith Hermann war in dem Band "Mesopotamia" nicht vertreten. Aber der Untertitel des Buches traf auch auf "Sommerhaus, später" zu: "Ernste Geschichten am Ende des Jahrtausends." Man muß nur eine Kleinigkeit ändern und aus dem Ende einen Anfang machen - schon paßt das Etikett auch auf den neuen Band, Judith Hermanns mit viel Spannung erwartetes zweites Buch.
Es ist kein Wunder, daß die sieben Erzählungen, die der Band "Nichts als Gespenster" versammelt, in einigen der ersten Rezensionen kräftig verrissen wurden. Nach dem übergroßen Erfolg des Debüts war vorhersehbar, daß die Kritik den Jungstar auf den Boden der Realität zurückholen wollte. Allerdings deutet nichts darauf, daß die Autorin diesen je verlassen hätte - ganz im Gegensatz zur Kritik.
Nicht wenige der Einwände, die jetzt erhoben werden, sind durchaus berechtigt: die Erfahrungsarmut der Figuren, die schlecht verhüllte Larmoyanz, die "Unterkomplexität" und der spätpubertäre Duktus der Beziehungsgeschichten, die Nähe zu Kitsch und Banalität, die stilistischen Mängel, die Dürftigkeit der Metaphern, die verunglückten Sätze. All dies ist nicht von der Hand zu weisen. Aber all dies galt schon für das Debüt. Dennoch wurde es von der Kritik in den Himmel gehoben und von den Lesern geliebt.
Wer Judith Hermann jetzt verreißt, korrigiert womöglich vor allem sein früheres Urteil. Das bedeutet aber keineswegs, daß die Verrisse dieser Autorin nun angemessener wären, als es zuvor die Lobeshymnen waren. Beim zweiten Band schmäht die Kritik, was sie beim Debüt übersehen hatte, und übersieht, was sie zuvor nicht laut genug loben konnte. Denn die große Stärke dieser Geschichten ist ja vor allem die Atmosphäre, ist die intensive Darstellung eines Lebensgefühls. Den Nerv ihrer Generation, den "Sommerhaus, später" so offenkundig traf, hat Judith Hermann auch mit ihrem zweiten Buch nicht verfehlt. Es ist wiederum der Ton, der in den Bann zieht. Wer bereit ist, über manches Knacken hinwegzuhören, wird ihn noch intensiver finden als im Debüt. Unzumutbar sind die falschen Töne nur für den, der die Gemälde der Impressionisten ausschließlich mit der Lupe in der Hand betrachtet.
Fünf weibliche Ich-Erzähler sind hier versammelt, und alle zieht es hinaus in die Welt. Die eine reist dem Schauspieler nach, den sie begehrt, obwohl oder weil er der Liebhaber der abgöttisch geliebten Freundin ist. Die andere reist mit dem besten Freund des Mannes, in den sie hoffnungslos verliebt ist, nach Prag, um dort den trostlosesten Jahreswechsel zu feiern, der sich denken läßt. Eine andere reist zu einem befreundeten Künstler, um einen Katalogtext für Bilder zu schreiben, die es nicht gibt. Immer geht es dabei um das Spiel, die Verliebtheit. Von einer Freundschaft, die keine Freundschaft war, zu einer Liebe, die keine Liebe sein wird, ist es ja nur ein kleiner Schritt. So klein allerdings, daß es kaum lohnt, ihn zu gehen.
Die Bewegungen bleiben äußerlich. So viel gereist wird in diesem Buch, so wenig bewegt sich in den Herzen. Nie legt sich jemand fest, alles wird dem Zufall, der Stimmung, der Laune des Augenblicks überlassen. Wohnhaft sind Judith Hermanns Figuren im weiten Land des Transitorischen. Darin sehen sie die Grundbedingung ihrer Freiheit. Dabei ist der Zustand des Übergangs in Permanenz nichts anderes als Stagnation.
Das Schwebende, Melancholische dieser Geschichten kann nicht überdecken, daß Judith Hermanns Erzählerinnen schöne Seelen in Sinkflug sind. Noch scheinen sie die Höhe zu halten, im Aufwind ihrer zarten Empfindungen und bittersüßen Selbstbetrachtungen. Aber wer den dreißigsten Geburtstag nahen sieht, beginnt zu ahnen, daß zwischen der prolongierten Pubertät und dem Alter noch etwas auf ihn warten könnte, etwas, das sich aufschieben läßt, dem aber niemand entgeht. Bald schon dürfte die Jugendschöne von Judith Hermanns Figuren verblichen sein. Schon jetzt haftet ihnen zuweilen etwas Gespensterhaftes an, und es liegt nahe, den Titel des Bandes als Kommentar der Autorin zu ihren Figuren zu lesen.
In "Nichts als Gespenster" reist die Erzählerin mit ihrem Freund durch die Vereinigten Staaten. Obwohl alles dafür spricht, daß die gemeinsame Fahrt mit dem Pick-up der maroden Beziehung den Rest geben wird, lebt sie am Ende mit ihrem schweigsamen Freund zusammen und hat sogar ein Kind von ihm. Ausschlaggebend für den Kinderwunsch war jedoch ein anderer Mann: eine Zufallsbekanntschaft aus einer Bar im Nirgendwo der Wüste von Nevada. Neben dem Motel, in dem sie übernachten wollen, liegt ein altes Hotel, in dem es spuken soll. Die Geister der Goldgräber gehören ebensowenig hierhin wie die beiden deutschen Touristen. Denn das Hotel stand früher in Kalifornien, bevor es abgerissen und Stück für Stück in der Wüste wieder aufgebaut wurde. Eine Geisterjägerin, die mit allerlei technischem Gerät Beweise für die Existenz übersinnlicher Erscheinungen sammeln will, macht schließlich mit dem letzten Bild ihrer Kamera ein Foto von der kleinen Gruppe, die der Zufall zusammengeführt hat.
Judith Hermann ist die Geisterjägerin ihrer Generation. Eine große Meisterin der deutschen Sprache ist sie nicht. Aber ihr Talent, Stimmungen zu beschreiben und banale Situationen aufzuladen, bis ihre Akteure deutlich vor uns stehen, ist unter den jungen deutschen Autoren zur Zeit einzigartig. Wem das nicht genügt, der hat schlicht Pech gehabt. Denn er wird lange suchen müssen, bis er hierzulande in diesem Genre Besseres findet.
Judith Hermann: "Nichts als Gespenster". Erzählungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 318 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schöne Seelen im Sinkflug: Judith Hermann legt ihr zweites Buch vor und erweist sich als Geisterjägerin ihrer Generation
Drei Jahre bevor Judith Hermanns Erzählungsband "Sommerhaus, später" erscheint, steht ein junger Mann bei Fisch-Gosch in List auf Sylt und trinkt ein Jever aus der Flasche. Weil es ein bißchen kalt ist und der Westwind weht, trägt er eine gefütterte Wachstuchjacke englischen Fabrikats, die damals zu einer Art Erkennnungszeichen unter Gleichgesinnten avanciert war. Er ißt Scampi mit Knoblauchsoße, zwei Portionen, schaut in den Himmel und unterhält sich mit einer Blondine mit Pagenkopf und zuviel Gold an den Fingern. Das Gespräch kreist um denkbar banale Gegenstände, unser Wachstuchjackenträger hört daher auch gar nicht zu, sondern beobachtet lieber, wie seine Gesprächspartnerin ihr Haar aus dem Nacken wirft, und schließt daraus auf hinreichende Qualitäten im Bett. Dann steigt man in einen offenen Sportwagen und schnüffelt freudlos am Leder der Sitze.
Nichts an dieser Szene, mit der Christain Krachts Kultbuch "Faserland" beginnt, ist zufällig, nichts beliebig oder austauschbar. Die Fischbude kann nur Gosch heißen, und das Bier muß von Jever sein. Undenkbar, den Helden in einer Lederjacke auftreten zu lassen. Und auch der Ort des Geschehens ist dramaturgisch vorgegeben: Krachts Roman konnte nur auf Sylt beginnen, denn hier trifft sich die Jeunesse dorée der Republik, die unser Held im Lauf des Romans durchqueren wird.
Auf einer der zahllosen Partys, die er unterwegs besucht, hätte er ohne weiteres auf eine jener jungen Frauen treffen können, die uns seit dem Erzählungsband "Sommerhaus, später" so vertraut scheinen. In ihrem Leben ist alles so zufällig wie dieses Treffen, das überall stattfinden könnte. Sie ist nicht unbedingt hübsch, aber höchst apart, schüchtern in einer Weise, die nahtlos ins Selbstbewußte übergeht, präsent durch die Aura der Abwesenheit, in die sie sich hüllt wie in die stets pelzbesetzten Mäntel, die sie statt der Wachstuchjacke trägt. Ihre Haare sind sehr wahrscheinlich hochgesteckt, ihr Schmuck ist nicht teuer, aber veredelt durch Erinnerung, das bunte Freundschaftsbändchen an ihrem Handgelenk ist so abgeschnuddelt wie ein Teddybär. Kurzum: Sie ist eine seltsam anziehende Mischung aus Hühnchen und Diva, Botschafterin einer anderen Welt, die von Gosch, Sylt, Barbour und Brooks Brothers nicht weiß und nicht davon wissen will.
Was wäre wohl passiert, wenn Kracht-Kerl und Hermann-Hühnchen einander begegnet wären? Die schönste Liebesgeschichte der jungen deutschen Literatur, Popliterat trifft Fräuleinwunder?
Ach, nichts wäre passiert. Kaum einen Blick hätten sie füreinander gehabt, ein paar banale Sätze hätten sie ausgetauscht, sie hätte geheimnisvoll geblinzelt, er hätte Desinteresse zunächst geheuchelt und dann tatsächlich empfunden. Die Botschaft aus der anderen Welt wäre nicht überbracht worden, denn es gibt sie nicht, und dann, nach kurzer Zeit, hätten sie voneinander gelassen, denn sie hätten einander nicht erkannt. Seltsam, hätte das Hermann-Hühnchen noch gedacht, Stunden später oder auch erst am nächsten Tag, an irgendwen hat er mich erinnert. Aber an wen bloß? Nie wäre sie darauf gekommen, daß dieser fremde junge Mann ihr ähnelt wie ein älterer Bruder seiner kleinen Schwester.
Judith Hermanns Erzählungen sind die Fortschreibung von Christian Krachts "Faserland" unter umgekehrten Vorzeichen: die Perspektive ist weiblich, nicht männlich, die Freundesclique ist nicht bestens situiert, sondern schlägt sich gerade so durch. An die Stelle des Markenfetischismus ist ein anderer Kult getreten, der nichts mit Statusdenken und sehr viel mit Sehnsucht zu tun hat. Wo Krachts Held sein Ungenügen an der Welt mit Herablassung und Verachtung bis zum Haß kompensiert, kultivieren Hermanns Figuren ihren Weltschmerz. Sie bewohnen die Leere in ihrem Inneren wie eine Altbauwohnung. Sie fühlen sich nicht wirklich wohl in diesem Ambiente, aber irgendwie ist es auch wieder schick.
Mit Anfang Dreißig befinden sie sich noch immer in der Ausbildung: eifrige Lehrlinge der Sehnsucht und der gemäßigten Verzweiflung, unfähig zu Zorn und jeder anderen Leidenschaft. Ihre Lieblingsbeschäftigung ist die Selbstbetrachtung, die jedoch nie zur Analyse führt, weshalb sie von ihrem Forschungsgegenstand auch nicht besonders viel wissen. Ein schwach ausgeprägtes Reflexionsbedürfnis zieht ihrer Selbsterkenntnis enge Grenzen. Geradezu panisch ist ihre Furcht, den Dingen auf den Grund zu gehen. So lautet ihr Lebensmotto, frei nach Magarine-Werbung und den Romantikern: Ich will mich nehmen, wie ich bin.
Nein, bei Lichte besehen, sind Judith Hermanns Figuren kaum sympathischer als Christian Krachts verzweifelte Dandys. Ein Jahr nachdem "Sommerhaus, später" erschienen war, hat Christian Kracht einen Sammelband mit Erzählungen seiner Generationsgenossen herausgegeben, von Eckhart Nickel und Elke Naters bis Moritz von Uslar und Benjamin von Stuckrad-Barre. Judith Hermann war in dem Band "Mesopotamia" nicht vertreten. Aber der Untertitel des Buches traf auch auf "Sommerhaus, später" zu: "Ernste Geschichten am Ende des Jahrtausends." Man muß nur eine Kleinigkeit ändern und aus dem Ende einen Anfang machen - schon paßt das Etikett auch auf den neuen Band, Judith Hermanns mit viel Spannung erwartetes zweites Buch.
Es ist kein Wunder, daß die sieben Erzählungen, die der Band "Nichts als Gespenster" versammelt, in einigen der ersten Rezensionen kräftig verrissen wurden. Nach dem übergroßen Erfolg des Debüts war vorhersehbar, daß die Kritik den Jungstar auf den Boden der Realität zurückholen wollte. Allerdings deutet nichts darauf, daß die Autorin diesen je verlassen hätte - ganz im Gegensatz zur Kritik.
Nicht wenige der Einwände, die jetzt erhoben werden, sind durchaus berechtigt: die Erfahrungsarmut der Figuren, die schlecht verhüllte Larmoyanz, die "Unterkomplexität" und der spätpubertäre Duktus der Beziehungsgeschichten, die Nähe zu Kitsch und Banalität, die stilistischen Mängel, die Dürftigkeit der Metaphern, die verunglückten Sätze. All dies ist nicht von der Hand zu weisen. Aber all dies galt schon für das Debüt. Dennoch wurde es von der Kritik in den Himmel gehoben und von den Lesern geliebt.
Wer Judith Hermann jetzt verreißt, korrigiert womöglich vor allem sein früheres Urteil. Das bedeutet aber keineswegs, daß die Verrisse dieser Autorin nun angemessener wären, als es zuvor die Lobeshymnen waren. Beim zweiten Band schmäht die Kritik, was sie beim Debüt übersehen hatte, und übersieht, was sie zuvor nicht laut genug loben konnte. Denn die große Stärke dieser Geschichten ist ja vor allem die Atmosphäre, ist die intensive Darstellung eines Lebensgefühls. Den Nerv ihrer Generation, den "Sommerhaus, später" so offenkundig traf, hat Judith Hermann auch mit ihrem zweiten Buch nicht verfehlt. Es ist wiederum der Ton, der in den Bann zieht. Wer bereit ist, über manches Knacken hinwegzuhören, wird ihn noch intensiver finden als im Debüt. Unzumutbar sind die falschen Töne nur für den, der die Gemälde der Impressionisten ausschließlich mit der Lupe in der Hand betrachtet.
Fünf weibliche Ich-Erzähler sind hier versammelt, und alle zieht es hinaus in die Welt. Die eine reist dem Schauspieler nach, den sie begehrt, obwohl oder weil er der Liebhaber der abgöttisch geliebten Freundin ist. Die andere reist mit dem besten Freund des Mannes, in den sie hoffnungslos verliebt ist, nach Prag, um dort den trostlosesten Jahreswechsel zu feiern, der sich denken läßt. Eine andere reist zu einem befreundeten Künstler, um einen Katalogtext für Bilder zu schreiben, die es nicht gibt. Immer geht es dabei um das Spiel, die Verliebtheit. Von einer Freundschaft, die keine Freundschaft war, zu einer Liebe, die keine Liebe sein wird, ist es ja nur ein kleiner Schritt. So klein allerdings, daß es kaum lohnt, ihn zu gehen.
Die Bewegungen bleiben äußerlich. So viel gereist wird in diesem Buch, so wenig bewegt sich in den Herzen. Nie legt sich jemand fest, alles wird dem Zufall, der Stimmung, der Laune des Augenblicks überlassen. Wohnhaft sind Judith Hermanns Figuren im weiten Land des Transitorischen. Darin sehen sie die Grundbedingung ihrer Freiheit. Dabei ist der Zustand des Übergangs in Permanenz nichts anderes als Stagnation.
Das Schwebende, Melancholische dieser Geschichten kann nicht überdecken, daß Judith Hermanns Erzählerinnen schöne Seelen in Sinkflug sind. Noch scheinen sie die Höhe zu halten, im Aufwind ihrer zarten Empfindungen und bittersüßen Selbstbetrachtungen. Aber wer den dreißigsten Geburtstag nahen sieht, beginnt zu ahnen, daß zwischen der prolongierten Pubertät und dem Alter noch etwas auf ihn warten könnte, etwas, das sich aufschieben läßt, dem aber niemand entgeht. Bald schon dürfte die Jugendschöne von Judith Hermanns Figuren verblichen sein. Schon jetzt haftet ihnen zuweilen etwas Gespensterhaftes an, und es liegt nahe, den Titel des Bandes als Kommentar der Autorin zu ihren Figuren zu lesen.
In "Nichts als Gespenster" reist die Erzählerin mit ihrem Freund durch die Vereinigten Staaten. Obwohl alles dafür spricht, daß die gemeinsame Fahrt mit dem Pick-up der maroden Beziehung den Rest geben wird, lebt sie am Ende mit ihrem schweigsamen Freund zusammen und hat sogar ein Kind von ihm. Ausschlaggebend für den Kinderwunsch war jedoch ein anderer Mann: eine Zufallsbekanntschaft aus einer Bar im Nirgendwo der Wüste von Nevada. Neben dem Motel, in dem sie übernachten wollen, liegt ein altes Hotel, in dem es spuken soll. Die Geister der Goldgräber gehören ebensowenig hierhin wie die beiden deutschen Touristen. Denn das Hotel stand früher in Kalifornien, bevor es abgerissen und Stück für Stück in der Wüste wieder aufgebaut wurde. Eine Geisterjägerin, die mit allerlei technischem Gerät Beweise für die Existenz übersinnlicher Erscheinungen sammeln will, macht schließlich mit dem letzten Bild ihrer Kamera ein Foto von der kleinen Gruppe, die der Zufall zusammengeführt hat.
Judith Hermann ist die Geisterjägerin ihrer Generation. Eine große Meisterin der deutschen Sprache ist sie nicht. Aber ihr Talent, Stimmungen zu beschreiben und banale Situationen aufzuladen, bis ihre Akteure deutlich vor uns stehen, ist unter den jungen deutschen Autoren zur Zeit einzigartig. Wem das nicht genügt, der hat schlicht Pech gehabt. Denn er wird lange suchen müssen, bis er hierzulande in diesem Genre Besseres findet.
Judith Hermann: "Nichts als Gespenster". Erzählungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 318 S., geb., 17,90 [Euro].
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