"Wir sind wie niemand sonst, wir haben uns selbst erschaffen, die Einzigen unserer Art." Eine geheimnisvolle Explosion bildet das Herzstück dieser spannenden Geschichte, erzählt von den Kindern der Familie Cardinal: Sie haben den Schneid und die Wildheit von Helden, sie haben Angst vor nichts und niemandem. Und sie sind ganze einundzwanzig. Als der Vater in einem kanadischen Dorf ein Zinkvorkommen entdeckt, rechnet der Clan fest mit einem Anteil am Gewinn – doch eine Explosion zwingt die Geschwister zu einem Pakt des Schweigens, der zu einer Zerreißprobe für die ganze Familie wird. Sanftmütig erzählen die Cardinal-Kinder ihre Geschichte und unerbittlich hüten sie ihr Geheimnis. Durch die Leuchtkraft ihrer Stimmen entsteht ein vielschichtiges Puzzle aus Perspektiven und Erinnerungen. Mit den Stimmen von Devid Striesow, Claudia Michelsen, Anna Thalbach, Benno Fürmann, Robert Stadlober und Sabin Tambrea
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»Saucier gelingt es, dem Leser erst ein freches, freies Leben vorzugaukeln und ihn dann schrittweise in dessen finsteres Herz zu führen - ein grandioser Höllenritt, der Neugier auf mehr schürt.« Niklas Bender Frankfurter Allgemeine Zeitung 20190409
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.04.2019Nach Gold suchen und es ab und zu krachen lassen
Ein anarchischer Familienclan mischt die kanadische Wildnis auf: Jocelyne Sauciers Roman "Niemals ohne sie"
Das vorliegende Buch verhält sich zu einem gewöhnlichen Familienroman in etwa so wie eine Dynamitladung zu einem Feuerwerkskracher. Von Dynamit ist dort viel die Rede: Die erste Sprengung zum siebten Geburtstag ist das familiäre Aufnahmeritual und eine Einweisung in die Freuden des Lebens. Mit Dynamit kann man Fallen basteln, die Bären die Mäuler wegreißen oder lästige Mädels in der Schule zum Schweigen bringen, indem man ein dezentes Stängelchen aus der Hemdtasche lugen lässt. Die eigentliche Sprengkraft des Romans ist allerdings menschlicher Art: Es handelt sich um die 21 Kinder der Cardinal-Familie, die das brenzlige Gemisch dieses Romans ausmachen.
Die wilde Bande haust in Norcoville, einer (wohl fiktiven) Stadt im Westen Québecs, in der die Northern Consolidated ein Zinkvorkommen abbaut. Während die Mutter vollauf in der Küche beschäftigt ist und der Vater nach Erzvorkommen sucht oder über Bodenproben im Keller grübelt, führen die Kinder einen ewigen Krieg gegen die "Landeier" der Umgebung. Auch wenn man ihr nie begegnen möchte: Schon die Schilderung dieses anarchischen Clans, seiner ausgefallenen Spitznamen, seines Feuerkriegs oder seiner inneren Hackordnung ist eine Freude. Wirklich spannend wird der Roman dann erstens durch das, was passiert, als die Bergbaugesellschaft abzieht. Zweitens trägt die raffinierte Erzählweise Sauciers dazu bei, dass der Leser in den Strudel der Ereignisse und Enthüllungen gezogen wird.
Zuerst zum Plot: Eigentlich ist das Zinkvorkommen der Fund des Vaters, der sich mit Anteilsscheinen der Bergwerksbetreiber auszahlen ließ. Nur: Als Folge einer Krise rauschen die Zinkpreise in den Keller, die Förderung lohnt nicht mehr, die Mine wird verlassen und Norco aufgegeben. Die Cardinal-Gören, die immer den Eindruck hatten, man habe ihren Vater betrogen, reißen die Herrschaft über die verwildernde Stadt an sich: "Die Stadt war eine Enklave, eine schmale Schneise im Wald, eine karge, baumlose Insel, auf der nichts wuchs als hohe Gräser, die träge zwischen den Häusern wogten, und so war sie der Glut des Himmels schutzlos ausgeliefert, die Stadt war eine riesige Kochplatte, die wir in alle Himmelsrichtungen durchstreiften, von morgens bis abends, verdreckt, sonnengebräunt, eroberungslustig." Der Vater entdeckt unterdessen eine Goldquarzader in der verlassenen Mine und baut sie mit dem machthungrigen Wildfang Geronimo - laut Vater: "Das Herz dieses Jungen pumpt Nitroglyzerin durch seinen Körper" - jahrelang heimlich ab. Als die Northern Consolidated dank Aerogeophysik begreift, dass in der Mine noch viel zu holen ist, stehen die Cardinals vor dem Problem, dass ihr Privatstollen entdeckt zu werden droht. Die Lösung: Dynamit natürlich, eine "gewaltige Detonation, die aus den Tiefen der Erde hochschoss, die kahle Kuppe unseres Bergs aufblähte, anhob und einstürzen ließ, sodass er mit ohrenbetäubendem Getöse in sich zusammenfiel".
Nur geht die Sache schief, bei der Sprengung stirbt Angèle. Die Siebzehnjährige hatte eine Sonderrolle in der Familie: Sie war das bravste und ehrgeizigste Kind - "das einzige mit einer Begabung zum Glück"; durch die McDougalls, kinderlose Wohltäter, war sie in den Genuss einer guten Erziehung und einer humanistischen Schulbildung gekommen. Ihre Extravaganz musste sie bei jeder Rückkehr teuer bezahlen, ihre feinen Kleider blieben nie hell und heil, die Leichen der Nachbarskatzen musste immer sie zählen. Warum sie zum Zeitpunkt der Explosion in der Mine war, weiß niemand. Ihren Tod kaschieren die Älteren auf Initiative von Jeanne d'Arc dadurch, dass sie Tommy, Angèles Zwillingsschwester, eine Abreise in die Großstadt vorspielen lassen.
Danach verstreuen sich die Cardinal-Kinder in alle Winde, von Australien bis Tschetschenien, damit die Mutter den Tod der Tochter nicht bemerkt. Die Ereignisse werden im Rückblick erzählt: Die Familie findet nämlich dreißig Jahre später auf einem Kongress wieder zusammen, auf dem der Vater zum "Erzsucher des Jahres 1995" gekürt wird. Das Wiedersehen ist spannungsgeladen: "In unserer Mitte klaffte ein Loch, wir hatten uns rings um Angèles Anwesenheit versammelt." Tommy weigert sich, ein weiteres Mal Angèle zu spielen. Ihr Tod wird daher erstmals angesprochen, und es kommt heraus, dass längst alle davon wussten.
Saucier, eine ehemalige Journalistin und 1948 in der Provinz New Brunswick geboren, beherrscht nicht nur das Was, sondern auch das Wie der Erzählung: Ihr narratives Vorgehen ist so subtil wie spannend. Sie lässt die Ereignisse durch sechs Cardinal-Kinder erzählen, Matz, Jeanne d'Arc, Tommy, El Toro, Émilien und Geronimo; am Ende darf Zwilling Tommy, die Angèle am nächsten stand, nochmals übernehmen und die Möglichkeit einer finalen Enthüllung skizzieren. Das Spiel mit den Perspektiven ist reizvoll: Figuren werden nach und nach eingeführt, Urteile sind nur provisorisch gültig, weil neue Informationen oder die Innensicht des Betroffenen Sachverhalte plötzlich in ein neues Licht setzen. So steht der Vater mal als idealistischer Waldschrat, mal als gewitzter Aktienspekulant da.
Sauciers Spiel mit wechselnden Linsen begnügt sich aber nicht mit einer statischen Draufsicht. Unaufhaltsam zieht es den Leser immer weiter in eine dreifache Dunkelheit hinein: die der Handlung, der Familie, der Mine. Die Abfolge der Erzähler führt zu einer schrittweisen Enthüllung, denn sie verfügen über wachsende Einsicht: Matz als jüngstes und schwächstes Familienmitglied markiert den äußeren Kreis, er berichtet bewundernd von der geliebten Sippe; Jeanne d'Arc als älteste Schwester hat bereits mehr Entscheidungsgewalt, kennt jedoch die Dynamik unter den Geschwistern nur teilweise; Tommy weiß um alle Vorgänge Angèle betreffend, hat aber keine Einsicht in die Vorgänge in der Mine; und so fort. Der Leser erfährt schrittweise von Angèles Tod, von den Sachverhalten in der Mine, von den Motivationen und Verantwortlichkeiten der Akteure. Am Ende wird auch das letzte Rätsel angesprochen: warum Angèle zum Zeitpunkt der Explosion überhaupt in der Grube war.
Sauciers Romane verlegt hierzulande Insel: Bisher wurde dort "Ein Leben mehr" (2011, deutsch 2015) publiziert, der vierte und vorerst letzte Roman der Autorin; er war ein Bestseller und wird verfilmt, hat aber in der deutschen Kritik keine besondere Aufnahme gefunden. "Niemals ohne sie" ist Sauciers zweiter Roman und in Kanada bereits 2000 erschienen: Flott übersetzt haben ihn Sonja Finck und Frank Weigand, die angesichts des Familien-Idioms Erfindergeist belegen. Auch wenn manche Passage etwas viel erklärt und die Autorin ordentlich dick aufträgt: Saucier gelingt es, dem Leser erst ein freches, freies Leben vorzugaukeln und ihn dann schrittweise in dessen finsteres Herz zu führen - ein grandioser Höllenritt, der Neugier auf mehr schürt.
NIKLAS BENDER
Jocelyne Saucier: "Niemals ohne sie". Roman.
Aus dem Französischen von Sonja Finck und Frank Weigand. Insel Verlag, Berlin 2019, 256 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein anarchischer Familienclan mischt die kanadische Wildnis auf: Jocelyne Sauciers Roman "Niemals ohne sie"
Das vorliegende Buch verhält sich zu einem gewöhnlichen Familienroman in etwa so wie eine Dynamitladung zu einem Feuerwerkskracher. Von Dynamit ist dort viel die Rede: Die erste Sprengung zum siebten Geburtstag ist das familiäre Aufnahmeritual und eine Einweisung in die Freuden des Lebens. Mit Dynamit kann man Fallen basteln, die Bären die Mäuler wegreißen oder lästige Mädels in der Schule zum Schweigen bringen, indem man ein dezentes Stängelchen aus der Hemdtasche lugen lässt. Die eigentliche Sprengkraft des Romans ist allerdings menschlicher Art: Es handelt sich um die 21 Kinder der Cardinal-Familie, die das brenzlige Gemisch dieses Romans ausmachen.
Die wilde Bande haust in Norcoville, einer (wohl fiktiven) Stadt im Westen Québecs, in der die Northern Consolidated ein Zinkvorkommen abbaut. Während die Mutter vollauf in der Küche beschäftigt ist und der Vater nach Erzvorkommen sucht oder über Bodenproben im Keller grübelt, führen die Kinder einen ewigen Krieg gegen die "Landeier" der Umgebung. Auch wenn man ihr nie begegnen möchte: Schon die Schilderung dieses anarchischen Clans, seiner ausgefallenen Spitznamen, seines Feuerkriegs oder seiner inneren Hackordnung ist eine Freude. Wirklich spannend wird der Roman dann erstens durch das, was passiert, als die Bergbaugesellschaft abzieht. Zweitens trägt die raffinierte Erzählweise Sauciers dazu bei, dass der Leser in den Strudel der Ereignisse und Enthüllungen gezogen wird.
Zuerst zum Plot: Eigentlich ist das Zinkvorkommen der Fund des Vaters, der sich mit Anteilsscheinen der Bergwerksbetreiber auszahlen ließ. Nur: Als Folge einer Krise rauschen die Zinkpreise in den Keller, die Förderung lohnt nicht mehr, die Mine wird verlassen und Norco aufgegeben. Die Cardinal-Gören, die immer den Eindruck hatten, man habe ihren Vater betrogen, reißen die Herrschaft über die verwildernde Stadt an sich: "Die Stadt war eine Enklave, eine schmale Schneise im Wald, eine karge, baumlose Insel, auf der nichts wuchs als hohe Gräser, die träge zwischen den Häusern wogten, und so war sie der Glut des Himmels schutzlos ausgeliefert, die Stadt war eine riesige Kochplatte, die wir in alle Himmelsrichtungen durchstreiften, von morgens bis abends, verdreckt, sonnengebräunt, eroberungslustig." Der Vater entdeckt unterdessen eine Goldquarzader in der verlassenen Mine und baut sie mit dem machthungrigen Wildfang Geronimo - laut Vater: "Das Herz dieses Jungen pumpt Nitroglyzerin durch seinen Körper" - jahrelang heimlich ab. Als die Northern Consolidated dank Aerogeophysik begreift, dass in der Mine noch viel zu holen ist, stehen die Cardinals vor dem Problem, dass ihr Privatstollen entdeckt zu werden droht. Die Lösung: Dynamit natürlich, eine "gewaltige Detonation, die aus den Tiefen der Erde hochschoss, die kahle Kuppe unseres Bergs aufblähte, anhob und einstürzen ließ, sodass er mit ohrenbetäubendem Getöse in sich zusammenfiel".
Nur geht die Sache schief, bei der Sprengung stirbt Angèle. Die Siebzehnjährige hatte eine Sonderrolle in der Familie: Sie war das bravste und ehrgeizigste Kind - "das einzige mit einer Begabung zum Glück"; durch die McDougalls, kinderlose Wohltäter, war sie in den Genuss einer guten Erziehung und einer humanistischen Schulbildung gekommen. Ihre Extravaganz musste sie bei jeder Rückkehr teuer bezahlen, ihre feinen Kleider blieben nie hell und heil, die Leichen der Nachbarskatzen musste immer sie zählen. Warum sie zum Zeitpunkt der Explosion in der Mine war, weiß niemand. Ihren Tod kaschieren die Älteren auf Initiative von Jeanne d'Arc dadurch, dass sie Tommy, Angèles Zwillingsschwester, eine Abreise in die Großstadt vorspielen lassen.
Danach verstreuen sich die Cardinal-Kinder in alle Winde, von Australien bis Tschetschenien, damit die Mutter den Tod der Tochter nicht bemerkt. Die Ereignisse werden im Rückblick erzählt: Die Familie findet nämlich dreißig Jahre später auf einem Kongress wieder zusammen, auf dem der Vater zum "Erzsucher des Jahres 1995" gekürt wird. Das Wiedersehen ist spannungsgeladen: "In unserer Mitte klaffte ein Loch, wir hatten uns rings um Angèles Anwesenheit versammelt." Tommy weigert sich, ein weiteres Mal Angèle zu spielen. Ihr Tod wird daher erstmals angesprochen, und es kommt heraus, dass längst alle davon wussten.
Saucier, eine ehemalige Journalistin und 1948 in der Provinz New Brunswick geboren, beherrscht nicht nur das Was, sondern auch das Wie der Erzählung: Ihr narratives Vorgehen ist so subtil wie spannend. Sie lässt die Ereignisse durch sechs Cardinal-Kinder erzählen, Matz, Jeanne d'Arc, Tommy, El Toro, Émilien und Geronimo; am Ende darf Zwilling Tommy, die Angèle am nächsten stand, nochmals übernehmen und die Möglichkeit einer finalen Enthüllung skizzieren. Das Spiel mit den Perspektiven ist reizvoll: Figuren werden nach und nach eingeführt, Urteile sind nur provisorisch gültig, weil neue Informationen oder die Innensicht des Betroffenen Sachverhalte plötzlich in ein neues Licht setzen. So steht der Vater mal als idealistischer Waldschrat, mal als gewitzter Aktienspekulant da.
Sauciers Spiel mit wechselnden Linsen begnügt sich aber nicht mit einer statischen Draufsicht. Unaufhaltsam zieht es den Leser immer weiter in eine dreifache Dunkelheit hinein: die der Handlung, der Familie, der Mine. Die Abfolge der Erzähler führt zu einer schrittweisen Enthüllung, denn sie verfügen über wachsende Einsicht: Matz als jüngstes und schwächstes Familienmitglied markiert den äußeren Kreis, er berichtet bewundernd von der geliebten Sippe; Jeanne d'Arc als älteste Schwester hat bereits mehr Entscheidungsgewalt, kennt jedoch die Dynamik unter den Geschwistern nur teilweise; Tommy weiß um alle Vorgänge Angèle betreffend, hat aber keine Einsicht in die Vorgänge in der Mine; und so fort. Der Leser erfährt schrittweise von Angèles Tod, von den Sachverhalten in der Mine, von den Motivationen und Verantwortlichkeiten der Akteure. Am Ende wird auch das letzte Rätsel angesprochen: warum Angèle zum Zeitpunkt der Explosion überhaupt in der Grube war.
Sauciers Romane verlegt hierzulande Insel: Bisher wurde dort "Ein Leben mehr" (2011, deutsch 2015) publiziert, der vierte und vorerst letzte Roman der Autorin; er war ein Bestseller und wird verfilmt, hat aber in der deutschen Kritik keine besondere Aufnahme gefunden. "Niemals ohne sie" ist Sauciers zweiter Roman und in Kanada bereits 2000 erschienen: Flott übersetzt haben ihn Sonja Finck und Frank Weigand, die angesichts des Familien-Idioms Erfindergeist belegen. Auch wenn manche Passage etwas viel erklärt und die Autorin ordentlich dick aufträgt: Saucier gelingt es, dem Leser erst ein freches, freies Leben vorzugaukeln und ihn dann schrittweise in dessen finsteres Herz zu führen - ein grandioser Höllenritt, der Neugier auf mehr schürt.
NIKLAS BENDER
Jocelyne Saucier: "Niemals ohne sie". Roman.
Aus dem Französischen von Sonja Finck und Frank Weigand. Insel Verlag, Berlin 2019, 256 S., geb., 20,- [Euro].
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