Berlin: Eine junge Frau erzählt von ihrem neuen Job bei einem großen Fernsehsender, von ihrem neuen Chef, ihrem neuen Leben. Sie wirkt glücklich, beseelt, hoffnungsfroh, es klingt gut. Zu gut? In Los Angeles geht derweil eine Welt unter. Ein Mann, der damit prahlt, als Berühmtheit könne man sich gegenüber Frauen alles herausnehmen, wird Präsident der Vereinigten Staaten. Im Garten des legendären "Chateau Marmont", diesem Nachtspielplatz verwöhnter Hollywood Kids jeden Alters, vertreibt sich eine illustre Bande auf der Flucht vor der Realität die Zeit. Auch der Erzähler ist hier - und Rose McGowan, die Schauspielerin, der man nachsagt, neuerdings irgendwie anstrengend geworden zu sein. Kurz darauf erschüttert der Weinstein-Skandal Hollywood, und Rose McGowan ist eine der ersten Frauen, die sexuelle Belästigung durch den bis dahin von ganz Hollywood hofierten Filmproduzenten öffentlich gemacht hat. Rose verschwindet, aber sie hinterlässt dem Erzähler eine kryptische Nachricht - oder ist es vielmehr ein Auftrag? Wieso wendet sie sich ausgerechnet an ihn? Von Hollywood aus verbreitet sich die #MeToo-Bewegung um die ganze Welt. Doch die alten Machtstrukturen sind widerständiger, als man in der ersten Euphorie vielleicht denken mochte. Zurück in Berlin findet sich der Erzähler nicht mehr nur als Liegestuhlbeobachter, sondern nun als Akteur mitten in einem unübersichtlichen Geschehen wieder, das ihn in einen tiefen persönlichen Konflikt stürzt. "Noch wach?" ist ein Sittengemälde unserer Zeit, ein typischer Stuckrad-Barre. Literarisch brillant, humorvoll und kompromisslos erzählt dieser Roman von Machtstrukturen und Machtmissbrauch, Mut und menschlichen Abgründen.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.04.2023Die Verachtung
Benjamin von Stuckrad-Barres Roman „Noch wach?“ enttäuscht keine Klatschnase rund um den akuten
Wahnsinn beim Springer-Konzern. Und nein, die Frauen hat er nicht vergessen. Nur die Literatur
Es steht ja da, ganz am Ende der fast 400 Seiten: „ein bissl Geld, ein bissl Sex, ein bissl Tragik … und ein bissl Perversion.“ Die ideale Mischung für eine gute Geschichte, so zitiert der Erzähler den großen Regisseur Helmut Dietl, so ähnlich hat der es ins Drehbuch für „Kir Royal“ geschrieben, und Dietls Wort in Gottes, vor allem in Benjamin von Stuckrad-Barres Ohr, seit jeher dessen, Dietls, Bewunderer.
Der Roman mit dem Wahnsinnstitel „Noch wach?“, über Sexskandale beim Springer-Konzern, #MeToo, Compliance-Verfahren, Miles Davis auf kalifornischen Highways und Elon Musk in Brandenburg, hat eigentlich alles: das Geld – das dumme und das schöne. Den Sex – den schnellen in Berliner Apartments und den verdorbenen in den „Fickbussen“ West Hollywoods. Die Perversion eines Boulevardmediums, das in Mülltonnen von frisch verwitweten Ehemännern wühlt, und die Perversion der Tech-Elite, die ihre Imperien und weitere Entitäten miteinander vergleicht. Dann schaute auch noch ganz unverhofft die Gegenwart mit etwas frischem Aufwind beziehungsweise dem Orkan „Mathias“ vorbei, der samt Chatverläufen aus dem Hause Axel Springer den Roman Richtung Kassentresen fegen dürfte. Ja, alles da. Eins hat Benjamin von Stuckrad-Barre vergessen: die Tragik.
Der Roman beginnt in der Du-Form, als würde da jemand langsam und genau erklären, stell dir vor, und das ist nicht schlecht. Gleich der erste Satz quetscht sich zwischen die zu nah stehenden maßgeschneiderten Anzüge, zwischen Champagner und Rasierwasserduft, in dem man schon einen Hauch von Missbrauch riecht: „Und dann fragt er dich, ob er dir den amerikanischen Botschafter vorstellen darf.“ Es geht fantastisch los.
Im Stuckrad-Barre-Tempo rasen peinliche Szenen vor ranghohen Persönlichkeiten und auf der Arbeit des Dus vorbei sowie ein „Chefredakteur“, der für „dich“ und „deine“ Anfängerfehler Verständnis zeigt, der „dich“ sieht, „dir“ Mut macht, „dich“ fördert. Mit dem man ganz unromantisch Chicken Wings im Büro nagt, der einen Tisch im „Borchi“ reserviert, der Bücher schenkt und zum Mentor jenes Dus avanciert. Der anders ist als die langweiligen Tinder-Männer, die gern „zu Hause einen entspannten“ machen, die nicht auf einem Pferd im Krieg vor einem Granateneinschlag davongeritten sind. Herrlich beschreibt Stuckrad-Barre gleichzeitig ein schillerndes Milieu und die perfide Taktik eines Mannes in Machtposition. Das alles mit Crime-Suspense, aus der Sicht einer jungen Frau, die angenehmerweise (noch) nicht idealisiert wird, sondern kreischend absurde Satzkollisionen zulässt, wenn sie den „Chefredakteur“ beschreibt: „ziemlich süß irgendwie. Weil er halt zehn Minuten später schon wieder einen Bundesminister am Telefon zusammenscheißt.“
Man hört von einer Betroffenen, wie das abläuft, wenn sich Chefredakteure großer Boulevardmedien an junge Volontärinnen ranmachen. Man hört es gern. Zum einen, weil man genau diese Geschichte in allen möglichen Medien von allen möglichen Leuten gehört hat, außer von einer betroffenen Frau. Zum anderen, weil bei alldem der sichere Boden der Fiktionalität vibriert und irgendwo sehr laut der Ex-Bild-Chef Julian Reichelt trampelt.
Selbst wenn man sich stark konzentriert, hier eine Literaturkritik und keine Schlammschlacht-Exegese der Medienwelt zu verfassen, so muss man sehr abstraktionsbegabt sein, um nicht bei jenem „Chefredakteur“ vor dem inneren Auge eine Rahmenbrille und ein leicht aufgeknöpftes Hemd aufblitzen zu sehen. Weiß man dann um die langjährige Freundschaft zwischen dem Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre und Axel-Springer-Chef Mathias Döpfner und um die Rolle des Schriftstellers im Compliance-Verfahren bei der Bild-Zeitung, dann muss man tief durchatmen und sich den Disclaimer des Verlags noch mal vorbeten: „Vielmehr hat der Autor ein völlig eigenständiges neues Werk geschaffen.“ Amen.
Leider bricht die Du-Perspektive nach Kapitel eins ab, und ein Ich-Erzähler taucht auf, der auffällig viele Eigenschaften mit dem Schriftsteller teilt (kurz geschorene Haare, hat Witze für Harald Schmidt geschrieben, verehrt Bret Easton Ellis, dazu später mehr). Dieser Erzähler gerät in Los Angeles wie in Berlin an Frauen, die von Männern missbraucht wurden, und die sich, warum auch immer, mehr oder weniger direkt an ihn wenden, der mehr oder weniger etwas damit anzufangen weiß, plötzlich Verantwortung übernehmen soll. Das macht ihn zum unfreiwilligen Helden des Romans, der aber eigentlich lieber unter dem Zitronenbaum am Pool im Chateau Marmont liegen würde (wobei man Stuckrad-Barre die schludrige Big-Lebowski-Coolness nicht lange abnimmt). Vor allem, und darin liegt einer der zentralen Konflikte des Romans, ist das alles belastend für die Freundschaft mit dem Freund, der hier ein „Senderchef“ ist – der Medienkonzern betreibt nämlich einen Fernsehsender.
Eine Männerfreundschaft, die an der Moral zerbricht, an fehlender Loyalität, am Alter, woran auch immer, ist ein fantastischer Romanstoff – Stuckrad-Barre nun erzählt diese Freundschaft von Beginn an eiskalt. Jener Freund weiß nicht, dass man Fotos auf Twitter posten kann, die Frisur liegt bescheuert, er ist ein – auch Thomas Bernhard zählt zu Stuckrad-Barres Helden – „SALONGEISTESMENSCH“ und wollte früher mal Schauspieler werden, „weil das ja immer sehr MENSCHLICH MACHT“. Jede Charaktereigenschaft dieses Freundes dient dem Erzähler, sich mit Hohn und kühler Ironie von ihm zu distanzieren. Tragik, Größe, Menschlichkeit entstehen aber erst mit dem Temperaturunterschied. Mit langsamem Frösteln. Wer hier nie die Wärme sah, dem ist die Kälte egal. Warum er überhaupt mit ihm befreundet war, was diese zwei Männer – also natürlich Stuckrad-Barre und Döpfner – all die Jahre verbunden hat, das beschreibt Stuckrad-Barre mit kurzen Rückblenden und Klischees: „Wenn’s kipplig wurde und Zuspruch vonnöten war, dann konnte ich mich auf ihn verlassen, dann war er immer da gewesen und würde das auch künftig immer wieder sein.“ Ob mit „wenn’s kipplig wurde“ tiefe Existenzkrisen, der Tod wichtiger Menschen oder Geldnöte beim Bezahlen des Rindertartars im Grill Royal gemeint sind – unklar. Die Abkehr von seinem Freund scheint der Erzähler jedenfalls locker zu chauffieren.
Wenig „kipplig“ ist hingegen die Meinung zu jenem „Sender“ seines Freundes, womit man beim wahnsinnig unterhaltenden, aber auch verhängnisvollen Talent von Stuckrad-Barre wäre: der Verachtung. Auftritt nun: „der Chefredakteur“: „Dieser Typ hatte sich politisch doch sehr unangenehm radikalisiert mit den Jahren, war direkt proportional dazu immer fetter geworden“, „eine Art wirr faselnder Gartenzaunnazi“, er betrieb einen „Wutfunk“, „Tucker Carlson für geistig NOCH Ärmere“. Als der Erzähler schließlich mit seinem Freund auf der Baustelle für das neue Sendergebäude steht und auf den Bannern die Boulevard-Schlagzeilen wie „Ex startet Liebesschlamm-Schlacht" oder „Jetzt wird’s schmutzig!“ liest, empört ihn das in diesem Buch plötzlich ernsthaft: „Diese Schwachmaten, wirklich, es war so grauenhaft alles.“ Die „Feelgood-Managerin“ hört man nur verzerrt von „Douglasie“ und warmen Holzarten reden, von Duschen auf dem Dach, so eifrig versichert einem der Erzähler, wie bescheuert er das alles findet – und schließlich zieht er sich, Bret Easton Ellis zitierend, angeekelt aus der Affäre: „kein Ausgang“.
Diese Verachtung, ja selbst die plötzliche Richtigmacherei würde funktionieren, handelte es sich – wie Stuckrad-Barre es etwa in seinem Debüt „Soloalbum“ zeigte – um eine strauchelnde Figur, um jemanden, der sucht, in der Welt, in den Menschen, und, bitte, bitte: in sich. Eine Figur, in der etwas passiert oder passiert ist, bei der die Verachtung etwas verrät, was über „Ich stehe richtig“ hinausgeht. Er reflektiert zwar flapsig, er sei eigentlich der Falsche für Verantwortung, eine „Fehlbesetzung“. Gleichzeitig scheint dem Erzähler hier allerdings sehr blitzmoralisiert aufzufallen, welches ungeheuerliche Unternehmen sein Freund da seit Jahrzehnten leitet, ohne irgendeinen Schaden aus Fehlern jener geteilten Vergangenheit und der eigenen Ignoranz getragen zu haben. Ab und zu bekommt er dabei einen unerträglichen Twitter-Sarkasmus, spielt Diskurs-Bingo und kommentiert alte rechte Kamellen wie „LINKSGRÜNVERSIFFT-VERLOGENE Doppelmoral“.
Das will man schon nicht mal mehr in Online-Kommentaren lesen, noch weniger will man das in einem Roman lesen. Die aber ja hochtragische Spannung zweier Weltsichten, zwischen dem Erzähler und dessen „Freund“, beschreibt Stuckrad-Barre so wenig komplex wie fast alle Charaktere: „Ich schaute hin, hasste es wie immer, mochte meinen Freund aber ja trotzdem.“
Das alles könnte eine schöne Ausgabe von Böhmermanns „ZDF Magazin Royale“ sein, allerdings geht es in dem Roman ja auch um die Frauen, um die Freundschaft mit einer vom Chefredakteur ausgenutzten Frau, „Sophia“. Deren Ausführungen über die permanente Vorsicht wegen der übergriffigen Männer im Alltag einer Frau („Wir lassen beim Ausgehen keine Sekunde lang unser Glas aus den Augen“), kommentiert er mit halboffenem Mund: „Das ist alles so furchtbar, was du da erzählst.“ Einerseits erleichternd, weil es die eigene Sprachlosigkeit ausdrückt, andererseits schleppt sich der Erzähler mit dieser durchaus authentischen Echt-krass-Haltung etwa 300 Seiten lang durch die Welt zwischen Berlin (schlimm, grau, Nicht-Los-Angeles) und Los Angeles (sonnig, Drew Barrymore, Chateau Marmont) und kopfschüttelnd durch Bekenntnisse von Frauen, die sich angesichts des mangelnden eigenen Beitrags teilweise wie Blogeinträge aneinanderreihen. Nein, den Vorwurf, die Frauen kämen nicht zu Wort, kann Stuckrad-Barre niemand machen.
Die Schäbigkeit der anderen, davon erfährt man viel in „Noch wach?“, während der „Ich jedenfalls“-Erzähler sich in die Ahnungslosigkeit und in den Luxus in Los Angeles rettet. Keine Frage, dieser Roman ist hochspannend für alle Medieninsider-Begeisterten, die noch ein paar Details aus dem Compliance-Verfahren um Julian Reichelt möchten. Dabei hätte man das gern erfahren, wie das ist, wenn ein hochbegabter, in den Nullerjahren sozialisierter Ex-Springer-Freund, der dann doch recht männerdominant Gatsby, Hitchcock, Dietl, Bret Easton Ellis zitiert und Lars Eidinger vergöttert („was für ein Genie“), wenn so jemand etwas verstanden oder nicht verstanden hat, wenn so jemand Angst hat, falsch abzubiegen, wenn so jemand bereut, sich quält, sich aufrafft.
Denn genau für jene Tragik sind neue, eigenständige Werke, ist die Literatur da. Nachzulesen, übrigens, in „The Shards“, von Bret Easton Ellis.
MARLENE KNOBLOCH
Stuckrad-Barre beschreibt
herrlich das Milieu und
die Taktik der Mächtigen
Die Schwäche, ja die Schäbigkeit
der anderen, davon erfährt
man hier immerhin alles
Eine Männerfreundschaft, die an der Moral zerbricht, an fehlender Loyalität und am Alter – diesen großartigen Stoff erzählt Benjamin von Stuckrad-Barre in seinem neuen Roman eiskalt.
Foto: Jonas Holthaus / laif
Benjamin von
Stuckrad-Barre:
Noch wach?
Kiepenheuer & Witsch,
Köln 2023,
384 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Benjamin von Stuckrad-Barres Roman „Noch wach?“ enttäuscht keine Klatschnase rund um den akuten
Wahnsinn beim Springer-Konzern. Und nein, die Frauen hat er nicht vergessen. Nur die Literatur
Es steht ja da, ganz am Ende der fast 400 Seiten: „ein bissl Geld, ein bissl Sex, ein bissl Tragik … und ein bissl Perversion.“ Die ideale Mischung für eine gute Geschichte, so zitiert der Erzähler den großen Regisseur Helmut Dietl, so ähnlich hat der es ins Drehbuch für „Kir Royal“ geschrieben, und Dietls Wort in Gottes, vor allem in Benjamin von Stuckrad-Barres Ohr, seit jeher dessen, Dietls, Bewunderer.
Der Roman mit dem Wahnsinnstitel „Noch wach?“, über Sexskandale beim Springer-Konzern, #MeToo, Compliance-Verfahren, Miles Davis auf kalifornischen Highways und Elon Musk in Brandenburg, hat eigentlich alles: das Geld – das dumme und das schöne. Den Sex – den schnellen in Berliner Apartments und den verdorbenen in den „Fickbussen“ West Hollywoods. Die Perversion eines Boulevardmediums, das in Mülltonnen von frisch verwitweten Ehemännern wühlt, und die Perversion der Tech-Elite, die ihre Imperien und weitere Entitäten miteinander vergleicht. Dann schaute auch noch ganz unverhofft die Gegenwart mit etwas frischem Aufwind beziehungsweise dem Orkan „Mathias“ vorbei, der samt Chatverläufen aus dem Hause Axel Springer den Roman Richtung Kassentresen fegen dürfte. Ja, alles da. Eins hat Benjamin von Stuckrad-Barre vergessen: die Tragik.
Der Roman beginnt in der Du-Form, als würde da jemand langsam und genau erklären, stell dir vor, und das ist nicht schlecht. Gleich der erste Satz quetscht sich zwischen die zu nah stehenden maßgeschneiderten Anzüge, zwischen Champagner und Rasierwasserduft, in dem man schon einen Hauch von Missbrauch riecht: „Und dann fragt er dich, ob er dir den amerikanischen Botschafter vorstellen darf.“ Es geht fantastisch los.
Im Stuckrad-Barre-Tempo rasen peinliche Szenen vor ranghohen Persönlichkeiten und auf der Arbeit des Dus vorbei sowie ein „Chefredakteur“, der für „dich“ und „deine“ Anfängerfehler Verständnis zeigt, der „dich“ sieht, „dir“ Mut macht, „dich“ fördert. Mit dem man ganz unromantisch Chicken Wings im Büro nagt, der einen Tisch im „Borchi“ reserviert, der Bücher schenkt und zum Mentor jenes Dus avanciert. Der anders ist als die langweiligen Tinder-Männer, die gern „zu Hause einen entspannten“ machen, die nicht auf einem Pferd im Krieg vor einem Granateneinschlag davongeritten sind. Herrlich beschreibt Stuckrad-Barre gleichzeitig ein schillerndes Milieu und die perfide Taktik eines Mannes in Machtposition. Das alles mit Crime-Suspense, aus der Sicht einer jungen Frau, die angenehmerweise (noch) nicht idealisiert wird, sondern kreischend absurde Satzkollisionen zulässt, wenn sie den „Chefredakteur“ beschreibt: „ziemlich süß irgendwie. Weil er halt zehn Minuten später schon wieder einen Bundesminister am Telefon zusammenscheißt.“
Man hört von einer Betroffenen, wie das abläuft, wenn sich Chefredakteure großer Boulevardmedien an junge Volontärinnen ranmachen. Man hört es gern. Zum einen, weil man genau diese Geschichte in allen möglichen Medien von allen möglichen Leuten gehört hat, außer von einer betroffenen Frau. Zum anderen, weil bei alldem der sichere Boden der Fiktionalität vibriert und irgendwo sehr laut der Ex-Bild-Chef Julian Reichelt trampelt.
Selbst wenn man sich stark konzentriert, hier eine Literaturkritik und keine Schlammschlacht-Exegese der Medienwelt zu verfassen, so muss man sehr abstraktionsbegabt sein, um nicht bei jenem „Chefredakteur“ vor dem inneren Auge eine Rahmenbrille und ein leicht aufgeknöpftes Hemd aufblitzen zu sehen. Weiß man dann um die langjährige Freundschaft zwischen dem Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre und Axel-Springer-Chef Mathias Döpfner und um die Rolle des Schriftstellers im Compliance-Verfahren bei der Bild-Zeitung, dann muss man tief durchatmen und sich den Disclaimer des Verlags noch mal vorbeten: „Vielmehr hat der Autor ein völlig eigenständiges neues Werk geschaffen.“ Amen.
Leider bricht die Du-Perspektive nach Kapitel eins ab, und ein Ich-Erzähler taucht auf, der auffällig viele Eigenschaften mit dem Schriftsteller teilt (kurz geschorene Haare, hat Witze für Harald Schmidt geschrieben, verehrt Bret Easton Ellis, dazu später mehr). Dieser Erzähler gerät in Los Angeles wie in Berlin an Frauen, die von Männern missbraucht wurden, und die sich, warum auch immer, mehr oder weniger direkt an ihn wenden, der mehr oder weniger etwas damit anzufangen weiß, plötzlich Verantwortung übernehmen soll. Das macht ihn zum unfreiwilligen Helden des Romans, der aber eigentlich lieber unter dem Zitronenbaum am Pool im Chateau Marmont liegen würde (wobei man Stuckrad-Barre die schludrige Big-Lebowski-Coolness nicht lange abnimmt). Vor allem, und darin liegt einer der zentralen Konflikte des Romans, ist das alles belastend für die Freundschaft mit dem Freund, der hier ein „Senderchef“ ist – der Medienkonzern betreibt nämlich einen Fernsehsender.
Eine Männerfreundschaft, die an der Moral zerbricht, an fehlender Loyalität, am Alter, woran auch immer, ist ein fantastischer Romanstoff – Stuckrad-Barre nun erzählt diese Freundschaft von Beginn an eiskalt. Jener Freund weiß nicht, dass man Fotos auf Twitter posten kann, die Frisur liegt bescheuert, er ist ein – auch Thomas Bernhard zählt zu Stuckrad-Barres Helden – „SALONGEISTESMENSCH“ und wollte früher mal Schauspieler werden, „weil das ja immer sehr MENSCHLICH MACHT“. Jede Charaktereigenschaft dieses Freundes dient dem Erzähler, sich mit Hohn und kühler Ironie von ihm zu distanzieren. Tragik, Größe, Menschlichkeit entstehen aber erst mit dem Temperaturunterschied. Mit langsamem Frösteln. Wer hier nie die Wärme sah, dem ist die Kälte egal. Warum er überhaupt mit ihm befreundet war, was diese zwei Männer – also natürlich Stuckrad-Barre und Döpfner – all die Jahre verbunden hat, das beschreibt Stuckrad-Barre mit kurzen Rückblenden und Klischees: „Wenn’s kipplig wurde und Zuspruch vonnöten war, dann konnte ich mich auf ihn verlassen, dann war er immer da gewesen und würde das auch künftig immer wieder sein.“ Ob mit „wenn’s kipplig wurde“ tiefe Existenzkrisen, der Tod wichtiger Menschen oder Geldnöte beim Bezahlen des Rindertartars im Grill Royal gemeint sind – unklar. Die Abkehr von seinem Freund scheint der Erzähler jedenfalls locker zu chauffieren.
Wenig „kipplig“ ist hingegen die Meinung zu jenem „Sender“ seines Freundes, womit man beim wahnsinnig unterhaltenden, aber auch verhängnisvollen Talent von Stuckrad-Barre wäre: der Verachtung. Auftritt nun: „der Chefredakteur“: „Dieser Typ hatte sich politisch doch sehr unangenehm radikalisiert mit den Jahren, war direkt proportional dazu immer fetter geworden“, „eine Art wirr faselnder Gartenzaunnazi“, er betrieb einen „Wutfunk“, „Tucker Carlson für geistig NOCH Ärmere“. Als der Erzähler schließlich mit seinem Freund auf der Baustelle für das neue Sendergebäude steht und auf den Bannern die Boulevard-Schlagzeilen wie „Ex startet Liebesschlamm-Schlacht" oder „Jetzt wird’s schmutzig!“ liest, empört ihn das in diesem Buch plötzlich ernsthaft: „Diese Schwachmaten, wirklich, es war so grauenhaft alles.“ Die „Feelgood-Managerin“ hört man nur verzerrt von „Douglasie“ und warmen Holzarten reden, von Duschen auf dem Dach, so eifrig versichert einem der Erzähler, wie bescheuert er das alles findet – und schließlich zieht er sich, Bret Easton Ellis zitierend, angeekelt aus der Affäre: „kein Ausgang“.
Diese Verachtung, ja selbst die plötzliche Richtigmacherei würde funktionieren, handelte es sich – wie Stuckrad-Barre es etwa in seinem Debüt „Soloalbum“ zeigte – um eine strauchelnde Figur, um jemanden, der sucht, in der Welt, in den Menschen, und, bitte, bitte: in sich. Eine Figur, in der etwas passiert oder passiert ist, bei der die Verachtung etwas verrät, was über „Ich stehe richtig“ hinausgeht. Er reflektiert zwar flapsig, er sei eigentlich der Falsche für Verantwortung, eine „Fehlbesetzung“. Gleichzeitig scheint dem Erzähler hier allerdings sehr blitzmoralisiert aufzufallen, welches ungeheuerliche Unternehmen sein Freund da seit Jahrzehnten leitet, ohne irgendeinen Schaden aus Fehlern jener geteilten Vergangenheit und der eigenen Ignoranz getragen zu haben. Ab und zu bekommt er dabei einen unerträglichen Twitter-Sarkasmus, spielt Diskurs-Bingo und kommentiert alte rechte Kamellen wie „LINKSGRÜNVERSIFFT-VERLOGENE Doppelmoral“.
Das will man schon nicht mal mehr in Online-Kommentaren lesen, noch weniger will man das in einem Roman lesen. Die aber ja hochtragische Spannung zweier Weltsichten, zwischen dem Erzähler und dessen „Freund“, beschreibt Stuckrad-Barre so wenig komplex wie fast alle Charaktere: „Ich schaute hin, hasste es wie immer, mochte meinen Freund aber ja trotzdem.“
Das alles könnte eine schöne Ausgabe von Böhmermanns „ZDF Magazin Royale“ sein, allerdings geht es in dem Roman ja auch um die Frauen, um die Freundschaft mit einer vom Chefredakteur ausgenutzten Frau, „Sophia“. Deren Ausführungen über die permanente Vorsicht wegen der übergriffigen Männer im Alltag einer Frau („Wir lassen beim Ausgehen keine Sekunde lang unser Glas aus den Augen“), kommentiert er mit halboffenem Mund: „Das ist alles so furchtbar, was du da erzählst.“ Einerseits erleichternd, weil es die eigene Sprachlosigkeit ausdrückt, andererseits schleppt sich der Erzähler mit dieser durchaus authentischen Echt-krass-Haltung etwa 300 Seiten lang durch die Welt zwischen Berlin (schlimm, grau, Nicht-Los-Angeles) und Los Angeles (sonnig, Drew Barrymore, Chateau Marmont) und kopfschüttelnd durch Bekenntnisse von Frauen, die sich angesichts des mangelnden eigenen Beitrags teilweise wie Blogeinträge aneinanderreihen. Nein, den Vorwurf, die Frauen kämen nicht zu Wort, kann Stuckrad-Barre niemand machen.
Die Schäbigkeit der anderen, davon erfährt man viel in „Noch wach?“, während der „Ich jedenfalls“-Erzähler sich in die Ahnungslosigkeit und in den Luxus in Los Angeles rettet. Keine Frage, dieser Roman ist hochspannend für alle Medieninsider-Begeisterten, die noch ein paar Details aus dem Compliance-Verfahren um Julian Reichelt möchten. Dabei hätte man das gern erfahren, wie das ist, wenn ein hochbegabter, in den Nullerjahren sozialisierter Ex-Springer-Freund, der dann doch recht männerdominant Gatsby, Hitchcock, Dietl, Bret Easton Ellis zitiert und Lars Eidinger vergöttert („was für ein Genie“), wenn so jemand etwas verstanden oder nicht verstanden hat, wenn so jemand Angst hat, falsch abzubiegen, wenn so jemand bereut, sich quält, sich aufrafft.
Denn genau für jene Tragik sind neue, eigenständige Werke, ist die Literatur da. Nachzulesen, übrigens, in „The Shards“, von Bret Easton Ellis.
MARLENE KNOBLOCH
Stuckrad-Barre beschreibt
herrlich das Milieu und
die Taktik der Mächtigen
Die Schwäche, ja die Schäbigkeit
der anderen, davon erfährt
man hier immerhin alles
Eine Männerfreundschaft, die an der Moral zerbricht, an fehlender Loyalität und am Alter – diesen großartigen Stoff erzählt Benjamin von Stuckrad-Barre in seinem neuen Roman eiskalt.
Foto: Jonas Holthaus / laif
Benjamin von
Stuckrad-Barre:
Noch wach?
Kiepenheuer & Witsch,
Köln 2023,
384 Seiten, 25 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
In einer ausführlichen Rezension widmet sich Kritikerin Mara Delius dem als Schlüsselroman über den MeToo-Skandal beim Axel-Springer-Verlag gehandelten Roman von Benjamin von Stuckrad-Barre. Im Mittelpunkt der Erzählung steht die Freundschaft zwischen dem Ich-Erzähler und seinem Chef, dem Vorsitzenden eines großen Medienunternehmens. Hier macht die Kritikerin einen ersten problematischen Punkt aus: Wo es eigentlich um Frauen gehen soll, bleiben literarisch Männer die "treibenden Kräfte". Während der Ich-Erzähler im Laufe der Geschichte eine Läuterung durchläuft und die Frauen in ihren Anschuldigungen gegen den Chefredakteur der Firma unterstützt, tut sein Freund das Gegenteil, die "Bromance" zerbricht. Steckten hinter all dem nicht die wahren Ereignisse in der Redaktion der Bild-Zeitung, wäre Stuckrad-Barres Roman literarisch nicht relevant, meint die Kritikerin. Brillanz beweist er dennoch auf der literarischen Oberfläche, durch die authentische Nachahmung der skandalheischenden "Bild"-Sprache, durch seine "groteske Komik" und auch durch die zumindest angedeutete Selbstkritik des Autors. In die Tiefe geht das leider nicht, seufzt die Kritikerin, Stuckrad-Barre ist eben doch kein Böll.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.04.2023Das ist Springer, zu 100 Prozent
Das Buch "Noch wach?" von Benjamin von Stuckrad-Barre wurde als Schlüsselroman erwartet. Es hält, was es verspricht.
Benjamin von Stuckrad-Barre hat ein Buch geschrieben. Das Sittengemälde "Noch wach?", das er vorlegt, nennt sich Roman und ist aus der Perspektive eines namenlosen Erzählers verfasst. Es geht um einen namenlosen Fernsehsender, dessen namenlosen Oberboss - den der Erzähler den "Freund" nennt -, den ebenfalls nicht beim Namen genannten sexuell übergriffigen, machtgeil-rechtsverdrehten Chefredakteur dieses Senders und um dessen Opfer. Klingt nach reiner Fiktion. Ist es aber nicht. Der wahre Handlungsort und die Originalbesetzung dieses Stücks erscheinen uns klar: Springer-Verlag, "Bild"-Zeitung, Mathias Döpfner, Julian Reichelt und Benjamin von Stuckrad-Barre himself.
Denn wer anders als er selbst könnte der Ich-Erzähler sein, der da am Pool des Hotels Chateau Marmont in Los Angeles liegt? Wo er eine von dem Chefredakteur des Trashsenders bedrängte junge Frau aus Deutschland und Rose McGowan kennenlernt? Jene Schauspielerin, die mit ihrem Mut, auszusagen, den Weinstein-Skandal losgetreten und MeToo in Gang gesetzt hat. Monica Lewinsky, sagt sie ihm, sei "patient zero" gewesen - das erste Opfer. Für sie selbst sei es ja "leichter", sagt sie zynisch, schließlich sei sie vergewaltigt worden und habe Beweise: "Bald brennt dann ganz Hollywood. Oder ich. Höchstwahrscheinlich beides."
Dem Ich-Erzähler schenkt Rose McGowan daraufhin die Biographie der vom ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton bedrängten Lewinsky und schreibt ein Schlusswort hinein: "Wenn sie sich dir anvertrauen - sei kein Arschloch. Hör ihnen zu. Such nach anderen. Hör ihnen zu. Und dann setz dich für sie ein. Die Belohnung wird groß sein: Ihr werdet keine Jobs mehr kriegen, ihr werdet mit Schmutz beworfen, man wird euch als Lügner darstellen. Wird lustig. Bist du bereit? Oder bist du ein Arschloch? Deine Entscheidung. PS: Und vielleicht solltet ihr dann noch erwähnen, dass ihr mich kennt - dann kommt ihr direkt in den Knast."
Damit beginnt die Läuterung des - gebrochenen - Helden wider Willen, als der sich der Erzähler präsentiert. Nur zu Beginn wechselt er die Perspektive und versetzt sich in die Lage der jungen Frauen, die bei dem Fernsehsender anfangen und von dem mächtigen Chefredakteur umgarnt werden, der junge Mitarbeiterinnen scheinbar fördert, vor allem aber hofiert, bis sie seinem Werben nachgeben und er sie danach wegwirft.
Beruflich ist dieser Chefredakteur ein aufgeblasener, lächerlicher Macho und Großkotz, im eigenen Haus nennen sie ihn "Tucker Carlson für geistig noch Ärmere". Die Schlagzeilen können ihm gar nicht brutal genug formuliert sein. Der Konzernchef wiederum ist eigentlich ein Frei- und Feingeist, der sich mit den medialen Abscheulichkeiten, auf denen sein Umsatz beruht, so wenig beschäftigt, wie er sich in den digitalen Dingen, in die er viel Geld stecken und mit denen er zum weltweiten Spieler werden will, auskennt. Hin- und hergerissen ist dieser Mann - der "Freund" -, zwischen dem diabolischen Chefredakteur und dem Erzähler, in einer Auseinandersetzung zwischen - diese Fallhöhe maßt "Noch wach?" sich durchaus an - Gut und Böse.
Das vollzieht sich in Episoden, die Beobachtern des Springer-Konzerns allzu bekannt vorkommen. Es ist gewissermaßen die Quersumme der Presseartikel, die über Springer in den vergangenen beiden Jahren erschienen sind. Da hat jemand all die Zeit ganz genau Buch geführt, sich Notizen gemacht, und jetzt packt er aus. Ross und Reiter nennt er nicht, doch ist die Camouflage so gewollt dünn, dass die Zusicherung, die zu Beginn des Buches steht, als miserable Pointe erscheint und bei jemandem wie Stuckrad-Barre, der auf Pointen so versessen ist, besonders auffällt. "Dieser Roman", heißt es da, "ist in Teilen inspiriert von verschiedenen realen Ereignissen, er ist jedoch eine hiervon losgelöste und unabhängige fiktionale Geschichte. Daher erhebt der Roman keinen Anspruch, Geschehnisse und Personen und ihre beruflichen und privaten Handlungen authentisch wiederzugeben. Vielmehr hat der Autor ein völlig eigenständiges neues Werk geschaffen."
In Teilen inspiriert? Eigenständiges neues Werk? Das wollen wir dem Autor nur in der Hinsicht durchgehen lassen, als er und sein Verlag sich so rechtlich absichern. Könnten Mathias Döpfner oder Julian Reichelt gegen ein Buch vorgehen, in dem sie namentlich nicht genannt werden, von dem man aber weiß, dass jede Seite von ihnen handelt? Jede geschilderte Szene, jede Unterhaltung, jeder Chat? Die Unterstellung dieser 379 Seiten ist: So und nicht anders ist es gewesen. So wird es nicht gesagt, ist aber so gemeint und wird auch so verstanden werden.
Springer kommt in Stuckrad-Barres Buch an einigen Stellen sogar vor. Allerdings nur in Spiegelungen. Etwa im Gespräch, das der Erzähler und sein "Freund" bei einer Autofahrt von Los Angeles nach San Francisco führen. Da berichtet der Erzähler dem Konzernchef, dessen Jugend- und Hippnesswahn ihn amüsiert, die Geschichte eines früheren "Bild"-Chefredakteurs. Der habe beim Nacktbaden am See eine Mitarbeiterin sexuell bedrängt. Bei der Vertuschung der Angelegenheit habe ihm sein Nachfolger geholfen und sich dadurch im Konzern offenbar endgültig für höhere Aufgaben empfohlen. Ob er davon gehört habe? Schlimme Geschichte, meint der "Freund", so richtig sei das wohl nie geklärt worden. Als Leser indes erinnert man sich an dieser Stelle nicht von ungefähr an eine Anzeige gegen den damaligen "Bild"-Chef Kai Diekmann, deren Eingang die Staatsanwaltschaft Potsdam im Januar 2017 bestätigte. Der Vorwurf sexueller Belästigung wurde im Verlag und von der Justiz geprüft und für nicht bestätigt befunden. Wenig später zog sich Diekmann als "Bild"-Chef zurück. Im August 2017 hieß es von der Staatsanwaltschaft dann endgültig: kein hinreichender Tatverdacht.
Kaum ist die Episode mit scheinbarer Distanzierung geschildert, hält der Erzähler seinem "Freund" die Chats des Chefredakteurs in seinem eigenen Konzern vor: "Ich meine, um 04:31 Uhr wird zurückgeschossen in Form von Informationen darüber, dass man nicht schon, sondern noch wach ist? Gefolgt natürlich von diesen drei elenden Doppeldeutigkeitspunkten, 'Noch - PunktPunktPunkt', diesem satzzeichengewordenen schwülen Augenzwinkernebel. Das ist doch unangenehm."
So eng an der vermeintlichen Realität ist alles, wovon Stuckrad-Barre schreibt. Es kommt einem bekannt vor, nichts ist überraschend. Nicht das Gehabe des Konzernchefs, nicht das Gebaren des Chefredakteurs, nicht die Vorwürfe, die zahlreiche Frauen gegen diesen erheben, nicht die Compliance-Untersuchung, die damit endet, dass dem Beschuldigten nichts Strafwürdiges und nichts nachgewiesen werden kann, was seine Entlassung rechtfertigte.
"Grauzone", "Er sagt / Sie sagen (besser nichts)", "Angstfreie Speak-up-Kultur" und "Verdachtsberichterstattung" sind die Kapitel im Buch überschrieben, in denen es um die Verarbeitung der MeToo- und Machtmissbrauchsvorwürfe geht. Sie passen eins zu eins zu dem, was in nicht fiktionalisierter Form über die Causa Reichelt und Springer berichtet wurde, auch in den letzten Tagen: anonyme Hinweisgeberinnen, ein Compliance-Verfahren, das nicht zum Rauswurf führte, dann doch im Herbst 2021 die Entlassung, weil Reichelt angeblich eine machtmissbräuchliche Beziehung geführt und den Vorstand belogen hatte, vergebliche Widerrede des Betroffenen, der sich bis heute unschuldig verfolgt sieht (F.A.Z. vom 18. April).
In seinem "Roman" erzählt Stuckrad-Barre mit zunehmender Wut von einem solchen Komplex, an dessen Ende eben nicht die vollständige Aufklärung und eine neue Unternehmenskultur stehen, sondern sich die Opfer in derselben Situation befinden wie zu Beginn. Womit der Autor Stuckrad-Barre in der Person des Erzählers uns auch die Begründung für dieses Buch unterjubelt: Seht her, ich konnte nicht anders, all mein Streben, meinen großen "Freund" davon zu überzeugen, ein großes Unrecht zu beenden, hat zu nichts geführt. Auf Seite 357 ist aus dem "Freund", mit dem ihn einst eine regelrechte Liebe verband, ein "Ex-Freund" geworden.
Für reine Fiktion halten wir indes, was Stuckrad-Barre inmitten des von ihm mit "Zeit", "Spiegel", ARD und sonstigen Prominenten mitbefeuerten Publikationsinfernos im "Spiegel" über sein Buch sagt. "Schlüsselroman? Auf gar keinen Fall. Was ist das auch für ein unangenehmes Wort, was soll das überhaupt bedeuten?", fragt er da. "Ich würde niemals ein Buch über diesen Mann schreiben", sagt er und meint Julian Reichelt, dessen Namen er nicht aussprechen will. "Das gesamte Personal dieses Romans" sei " anhand der Wirklichkeit frei erfunden", sagt Stuckrad-Barre. "Auch das ,Ich' des Buches, das bin ja nicht ich, auch wenn wir uns gut kennen. Und die wichtigste Figur ist ohnehin keiner dieser Typen, sondern die ebenfalls fiktive Heldin Sophia."
Diese Sophia kennen wir leider nicht. Aber die anderen Figuren in diesem "Roman", die kommen uns doch sehr bekannt vor. MICHAEL HANFELD
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Buch "Noch wach?" von Benjamin von Stuckrad-Barre wurde als Schlüsselroman erwartet. Es hält, was es verspricht.
Benjamin von Stuckrad-Barre hat ein Buch geschrieben. Das Sittengemälde "Noch wach?", das er vorlegt, nennt sich Roman und ist aus der Perspektive eines namenlosen Erzählers verfasst. Es geht um einen namenlosen Fernsehsender, dessen namenlosen Oberboss - den der Erzähler den "Freund" nennt -, den ebenfalls nicht beim Namen genannten sexuell übergriffigen, machtgeil-rechtsverdrehten Chefredakteur dieses Senders und um dessen Opfer. Klingt nach reiner Fiktion. Ist es aber nicht. Der wahre Handlungsort und die Originalbesetzung dieses Stücks erscheinen uns klar: Springer-Verlag, "Bild"-Zeitung, Mathias Döpfner, Julian Reichelt und Benjamin von Stuckrad-Barre himself.
Denn wer anders als er selbst könnte der Ich-Erzähler sein, der da am Pool des Hotels Chateau Marmont in Los Angeles liegt? Wo er eine von dem Chefredakteur des Trashsenders bedrängte junge Frau aus Deutschland und Rose McGowan kennenlernt? Jene Schauspielerin, die mit ihrem Mut, auszusagen, den Weinstein-Skandal losgetreten und MeToo in Gang gesetzt hat. Monica Lewinsky, sagt sie ihm, sei "patient zero" gewesen - das erste Opfer. Für sie selbst sei es ja "leichter", sagt sie zynisch, schließlich sei sie vergewaltigt worden und habe Beweise: "Bald brennt dann ganz Hollywood. Oder ich. Höchstwahrscheinlich beides."
Dem Ich-Erzähler schenkt Rose McGowan daraufhin die Biographie der vom ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton bedrängten Lewinsky und schreibt ein Schlusswort hinein: "Wenn sie sich dir anvertrauen - sei kein Arschloch. Hör ihnen zu. Such nach anderen. Hör ihnen zu. Und dann setz dich für sie ein. Die Belohnung wird groß sein: Ihr werdet keine Jobs mehr kriegen, ihr werdet mit Schmutz beworfen, man wird euch als Lügner darstellen. Wird lustig. Bist du bereit? Oder bist du ein Arschloch? Deine Entscheidung. PS: Und vielleicht solltet ihr dann noch erwähnen, dass ihr mich kennt - dann kommt ihr direkt in den Knast."
Damit beginnt die Läuterung des - gebrochenen - Helden wider Willen, als der sich der Erzähler präsentiert. Nur zu Beginn wechselt er die Perspektive und versetzt sich in die Lage der jungen Frauen, die bei dem Fernsehsender anfangen und von dem mächtigen Chefredakteur umgarnt werden, der junge Mitarbeiterinnen scheinbar fördert, vor allem aber hofiert, bis sie seinem Werben nachgeben und er sie danach wegwirft.
Beruflich ist dieser Chefredakteur ein aufgeblasener, lächerlicher Macho und Großkotz, im eigenen Haus nennen sie ihn "Tucker Carlson für geistig noch Ärmere". Die Schlagzeilen können ihm gar nicht brutal genug formuliert sein. Der Konzernchef wiederum ist eigentlich ein Frei- und Feingeist, der sich mit den medialen Abscheulichkeiten, auf denen sein Umsatz beruht, so wenig beschäftigt, wie er sich in den digitalen Dingen, in die er viel Geld stecken und mit denen er zum weltweiten Spieler werden will, auskennt. Hin- und hergerissen ist dieser Mann - der "Freund" -, zwischen dem diabolischen Chefredakteur und dem Erzähler, in einer Auseinandersetzung zwischen - diese Fallhöhe maßt "Noch wach?" sich durchaus an - Gut und Böse.
Das vollzieht sich in Episoden, die Beobachtern des Springer-Konzerns allzu bekannt vorkommen. Es ist gewissermaßen die Quersumme der Presseartikel, die über Springer in den vergangenen beiden Jahren erschienen sind. Da hat jemand all die Zeit ganz genau Buch geführt, sich Notizen gemacht, und jetzt packt er aus. Ross und Reiter nennt er nicht, doch ist die Camouflage so gewollt dünn, dass die Zusicherung, die zu Beginn des Buches steht, als miserable Pointe erscheint und bei jemandem wie Stuckrad-Barre, der auf Pointen so versessen ist, besonders auffällt. "Dieser Roman", heißt es da, "ist in Teilen inspiriert von verschiedenen realen Ereignissen, er ist jedoch eine hiervon losgelöste und unabhängige fiktionale Geschichte. Daher erhebt der Roman keinen Anspruch, Geschehnisse und Personen und ihre beruflichen und privaten Handlungen authentisch wiederzugeben. Vielmehr hat der Autor ein völlig eigenständiges neues Werk geschaffen."
In Teilen inspiriert? Eigenständiges neues Werk? Das wollen wir dem Autor nur in der Hinsicht durchgehen lassen, als er und sein Verlag sich so rechtlich absichern. Könnten Mathias Döpfner oder Julian Reichelt gegen ein Buch vorgehen, in dem sie namentlich nicht genannt werden, von dem man aber weiß, dass jede Seite von ihnen handelt? Jede geschilderte Szene, jede Unterhaltung, jeder Chat? Die Unterstellung dieser 379 Seiten ist: So und nicht anders ist es gewesen. So wird es nicht gesagt, ist aber so gemeint und wird auch so verstanden werden.
Springer kommt in Stuckrad-Barres Buch an einigen Stellen sogar vor. Allerdings nur in Spiegelungen. Etwa im Gespräch, das der Erzähler und sein "Freund" bei einer Autofahrt von Los Angeles nach San Francisco führen. Da berichtet der Erzähler dem Konzernchef, dessen Jugend- und Hippnesswahn ihn amüsiert, die Geschichte eines früheren "Bild"-Chefredakteurs. Der habe beim Nacktbaden am See eine Mitarbeiterin sexuell bedrängt. Bei der Vertuschung der Angelegenheit habe ihm sein Nachfolger geholfen und sich dadurch im Konzern offenbar endgültig für höhere Aufgaben empfohlen. Ob er davon gehört habe? Schlimme Geschichte, meint der "Freund", so richtig sei das wohl nie geklärt worden. Als Leser indes erinnert man sich an dieser Stelle nicht von ungefähr an eine Anzeige gegen den damaligen "Bild"-Chef Kai Diekmann, deren Eingang die Staatsanwaltschaft Potsdam im Januar 2017 bestätigte. Der Vorwurf sexueller Belästigung wurde im Verlag und von der Justiz geprüft und für nicht bestätigt befunden. Wenig später zog sich Diekmann als "Bild"-Chef zurück. Im August 2017 hieß es von der Staatsanwaltschaft dann endgültig: kein hinreichender Tatverdacht.
Kaum ist die Episode mit scheinbarer Distanzierung geschildert, hält der Erzähler seinem "Freund" die Chats des Chefredakteurs in seinem eigenen Konzern vor: "Ich meine, um 04:31 Uhr wird zurückgeschossen in Form von Informationen darüber, dass man nicht schon, sondern noch wach ist? Gefolgt natürlich von diesen drei elenden Doppeldeutigkeitspunkten, 'Noch - PunktPunktPunkt', diesem satzzeichengewordenen schwülen Augenzwinkernebel. Das ist doch unangenehm."
So eng an der vermeintlichen Realität ist alles, wovon Stuckrad-Barre schreibt. Es kommt einem bekannt vor, nichts ist überraschend. Nicht das Gehabe des Konzernchefs, nicht das Gebaren des Chefredakteurs, nicht die Vorwürfe, die zahlreiche Frauen gegen diesen erheben, nicht die Compliance-Untersuchung, die damit endet, dass dem Beschuldigten nichts Strafwürdiges und nichts nachgewiesen werden kann, was seine Entlassung rechtfertigte.
"Grauzone", "Er sagt / Sie sagen (besser nichts)", "Angstfreie Speak-up-Kultur" und "Verdachtsberichterstattung" sind die Kapitel im Buch überschrieben, in denen es um die Verarbeitung der MeToo- und Machtmissbrauchsvorwürfe geht. Sie passen eins zu eins zu dem, was in nicht fiktionalisierter Form über die Causa Reichelt und Springer berichtet wurde, auch in den letzten Tagen: anonyme Hinweisgeberinnen, ein Compliance-Verfahren, das nicht zum Rauswurf führte, dann doch im Herbst 2021 die Entlassung, weil Reichelt angeblich eine machtmissbräuchliche Beziehung geführt und den Vorstand belogen hatte, vergebliche Widerrede des Betroffenen, der sich bis heute unschuldig verfolgt sieht (F.A.Z. vom 18. April).
In seinem "Roman" erzählt Stuckrad-Barre mit zunehmender Wut von einem solchen Komplex, an dessen Ende eben nicht die vollständige Aufklärung und eine neue Unternehmenskultur stehen, sondern sich die Opfer in derselben Situation befinden wie zu Beginn. Womit der Autor Stuckrad-Barre in der Person des Erzählers uns auch die Begründung für dieses Buch unterjubelt: Seht her, ich konnte nicht anders, all mein Streben, meinen großen "Freund" davon zu überzeugen, ein großes Unrecht zu beenden, hat zu nichts geführt. Auf Seite 357 ist aus dem "Freund", mit dem ihn einst eine regelrechte Liebe verband, ein "Ex-Freund" geworden.
Für reine Fiktion halten wir indes, was Stuckrad-Barre inmitten des von ihm mit "Zeit", "Spiegel", ARD und sonstigen Prominenten mitbefeuerten Publikationsinfernos im "Spiegel" über sein Buch sagt. "Schlüsselroman? Auf gar keinen Fall. Was ist das auch für ein unangenehmes Wort, was soll das überhaupt bedeuten?", fragt er da. "Ich würde niemals ein Buch über diesen Mann schreiben", sagt er und meint Julian Reichelt, dessen Namen er nicht aussprechen will. "Das gesamte Personal dieses Romans" sei " anhand der Wirklichkeit frei erfunden", sagt Stuckrad-Barre. "Auch das ,Ich' des Buches, das bin ja nicht ich, auch wenn wir uns gut kennen. Und die wichtigste Figur ist ohnehin keiner dieser Typen, sondern die ebenfalls fiktive Heldin Sophia."
Diese Sophia kennen wir leider nicht. Aber die anderen Figuren in diesem "Roman", die kommen uns doch sehr bekannt vor. MICHAEL HANFELD
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Benjamin von Stuckrad-Barres Roman 'Noch wach?' ist der erste deutschsprachige Roman, der die Widersprüche und Grauzonen verhandelt, die sich mit #MeToo verbinden. Es ist sein bestes Buch und das Beste, was man derzeit lesen kann« Julia Encke FAS 20230423
Die Verachtung
Benjamin von Stuckrad-Barres Roman „Noch wach?“ enttäuscht keine Klatschnase rund um den akuten
Wahnsinn beim Springer-Konzern. Und nein, die Frauen hat er nicht vergessen. Nur die Literatur
Es steht ja da, ganz am Ende der fast 400 Seiten: „ein bissl Geld, ein bissl Sex, ein bissl Tragik … und ein bissl Perversion.“ Die ideale Mischung für eine gute Geschichte, so zitiert der Erzähler den großen Regisseur Helmut Dietl, so ähnlich hat der es ins Drehbuch für „Kir Royal“ geschrieben, und Dietls Wort in Gottes, vor allem in Benjamin von Stuckrad-Barres Ohr, seit jeher dessen, Dietls, Bewunderer.
Der Roman mit dem Wahnsinnstitel „Noch wach?“, über Sexskandale beim Springer-Konzern, #MeToo, Compliance-Verfahren, Miles Davis auf kalifornischen Highways und Elon Musk in Brandenburg, hat eigentlich alles: das Geld – das dumme und das schöne. Den Sex – den schnellen in Berliner Apartments und den verdorbenen in den „Fickbussen“ West Hollywoods. Die Perversion eines Boulevardmediums, das in Mülltonnen von frisch verwitweten Ehemännern wühlt, und die Perversion der Tech-Elite, die ihre Imperien und weitere Entitäten miteinander vergleicht. Dann schaute auch noch ganz unverhofft die Gegenwart mit etwas frischem Aufwind beziehungsweise dem Orkan „Mathias“ vorbei, der samt Chatverläufen aus dem Hause Axel Springer den Roman Richtung Kassentresen fegen dürfte. Ja, alles da. Eins hat Benjamin von Stuckrad-Barre vergessen: die Tragik.
Der Roman beginnt in der Du-Form, als würde da jemand langsam und genau erklären, stell dir vor, und das ist nicht schlecht. Gleich der erste Satz quetscht sich zwischen die zu nah stehenden maßgeschneiderten Anzüge, zwischen Champagner und Rasierwasserduft, in dem man schon einen Hauch von Missbrauch riecht: „Und dann fragt er dich, ob er dir den amerikanischen Botschafter vorstellen darf.“ Es geht fantastisch los.
Im Stuckrad-Barre-Tempo rasen peinliche Szenen vor ranghohen Persönlichkeiten und auf der Arbeit des Dus vorbei sowie ein „Chefredakteur“, der für „dich“ und „deine“ Anfängerfehler Verständnis zeigt, der „dich“ sieht, „dir“ Mut macht, „dich“ fördert. Mit dem man ganz unromantisch Chicken Wings im Büro nagt, der einen Tisch im „Borchi“ reserviert, der Bücher schenkt und zum Mentor jenes Dus avanciert. Der anders ist als die langweiligen Tinder-Männer, die gern „zu Hause einen entspannten“ machen, die nicht auf einem Pferd im Krieg vor einem Granateneinschlag davongeritten sind. Herrlich beschreibt Stuckrad-Barre gleichzeitig ein schillerndes Milieu und die perfide Taktik eines Mannes in Machtposition. Das alles mit Crime-Suspense, aus der Sicht einer jungen Frau, die angenehmerweise (noch) nicht idealisiert wird, sondern kreischend absurde Satzkollisionen zulässt, wenn sie den „Chefredakteur“ beschreibt: „ziemlich süß irgendwie. Weil er halt zehn Minuten später schon wieder einen Bundesminister am Telefon zusammenscheißt.“
Man hört von einer Betroffenen, wie das abläuft, wenn sich Chefredakteure großer Boulevardmedien an junge Volontärinnen ranmachen. Man hört es gern. Zum einen, weil man genau diese Geschichte in allen möglichen Medien von allen möglichen Leuten gehört hat, außer von einer betroffenen Frau. Zum anderen, weil bei alldem der sichere Boden der Fiktionalität vibriert und irgendwo sehr laut der Ex-Bild-Chef Julian Reichelt trampelt.
Selbst wenn man sich stark konzentriert, hier eine Literaturkritik und keine Schlammschlacht-Exegese der Medienwelt zu verfassen, so muss man sehr abstraktionsbegabt sein, um nicht bei jenem „Chefredakteur“ vor dem inneren Auge eine Rahmenbrille und ein leicht aufgeknöpftes Hemd aufblitzen zu sehen. Weiß man dann um die langjährige Freundschaft zwischen dem Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre und Axel-Springer-Chef Mathias Döpfner und um die Rolle des Schriftstellers im Compliance-Verfahren bei der Bild-Zeitung, dann muss man tief durchatmen und sich den Disclaimer des Verlags noch mal vorbeten: „Vielmehr hat der Autor ein völlig eigenständiges neues Werk geschaffen.“ Amen.
Leider bricht die Du-Perspektive nach Kapitel eins ab, und ein Ich-Erzähler taucht auf, der auffällig viele Eigenschaften mit dem Schriftsteller teilt (kurz geschorene Haare, hat Witze für Harald Schmidt geschrieben, verehrt Bret Easton Ellis, dazu später mehr). Dieser Erzähler gerät in Los Angeles wie in Berlin an Frauen, die von Männern missbraucht wurden, und die sich, warum auch immer, mehr oder weniger direkt an ihn wenden, der mehr oder weniger etwas damit anzufangen weiß, plötzlich Verantwortung übernehmen soll. Das macht ihn zum unfreiwilligen Helden des Romans, der aber eigentlich lieber unter dem Zitronenbaum am Pool im Chateau Marmont liegen würde (wobei man Stuckrad-Barre die schludrige Big-Lebowski-Coolness nicht lange abnimmt). Vor allem, und darin liegt einer der zentralen Konflikte des Romans, ist das alles belastend für die Freundschaft mit dem Freund, der hier ein „Senderchef“ ist – der Medienkonzern betreibt nämlich einen Fernsehsender.
Eine Männerfreundschaft, die an der Moral zerbricht, an fehlender Loyalität, am Alter, woran auch immer, ist ein fantastischer Romanstoff – Stuckrad-Barre nun erzählt diese Freundschaft von Beginn an eiskalt. Jener Freund weiß nicht, dass man Fotos auf Twitter posten kann, die Frisur liegt bescheuert, er ist ein – auch Thomas Bernhard zählt zu Stuckrad-Barres Helden – „SALONGEISTESMENSCH“ und wollte früher mal Schauspieler werden, „weil das ja immer sehr MENSCHLICH MACHT“. Jede Charaktereigenschaft dieses Freundes dient dem Erzähler, sich mit Hohn und kühler Ironie von ihm zu distanzieren. Tragik, Größe, Menschlichkeit entstehen aber erst mit dem Temperaturunterschied. Mit langsamem Frösteln. Wer hier nie die Wärme sah, dem ist die Kälte egal. Warum er überhaupt mit ihm befreundet war, was diese zwei Männer – also natürlich Stuckrad-Barre und Döpfner – all die Jahre verbunden hat, das beschreibt Stuckrad-Barre mit kurzen Rückblenden und Klischees: „Wenn’s kipplig wurde und Zuspruch vonnöten war, dann konnte ich mich auf ihn verlassen, dann war er immer da gewesen und würde das auch künftig immer wieder sein.“ Ob mit „wenn’s kipplig wurde“ tiefe Existenzkrisen, der Tod wichtiger Menschen oder Geldnöte beim Bezahlen des Rindertartars im Grill Royal gemeint sind – unklar. Die Abkehr von seinem Freund scheint der Erzähler jedenfalls locker zu chauffieren.
Wenig „kipplig“ ist hingegen die Meinung zu jenem „Sender“ seines Freundes, womit man beim wahnsinnig unterhaltenden, aber auch verhängnisvollen Talent von Stuckrad-Barre wäre: der Verachtung. Auftritt nun: „der Chefredakteur“: „Dieser Typ hatte sich politisch doch sehr unangenehm radikalisiert mit den Jahren, war direkt proportional dazu immer fetter geworden“, „eine Art wirr faselnder Gartenzaunnazi“, er betrieb einen „Wutfunk“, „Tucker Carlson für geistig NOCH Ärmere“. Als der Erzähler schließlich mit seinem Freund auf der Baustelle für das neue Sendergebäude steht und auf den Bannern die Boulevard-Schlagzeilen wie „Ex startet Liebesschlamm-Schlacht" oder „Jetzt wird’s schmutzig!“ liest, empört ihn das in diesem Buch plötzlich ernsthaft: „Diese Schwachmaten, wirklich, es war so grauenhaft alles.“ Die „Feelgood-Managerin“ hört man nur verzerrt von „Douglasie“ und warmen Holzarten reden, von Duschen auf dem Dach, so eifrig versichert einem der Erzähler, wie bescheuert er das alles findet – und schließlich zieht er sich, Bret Easton Ellis zitierend, angeekelt aus der Affäre: „kein Ausgang“.
Diese Verachtung, ja selbst die plötzliche Richtigmacherei würde funktionieren, handelte es sich – wie Stuckrad-Barre es etwa in seinem Debüt „Soloalbum“ zeigte – um eine strauchelnde Figur, um jemanden, der sucht, in der Welt, in den Menschen, und, bitte, bitte: in sich. Eine Figur, in der etwas passiert oder passiert ist, bei der die Verachtung etwas verrät, was über „Ich stehe richtig“ hinausgeht. Er reflektiert zwar flapsig, er sei eigentlich der Falsche für Verantwortung, eine „Fehlbesetzung“. Gleichzeitig scheint dem Erzähler hier allerdings sehr blitzmoralisiert aufzufallen, welches ungeheuerliche Unternehmen sein Freund da seit Jahrzehnten leitet, ohne irgendeinen Schaden aus Fehlern jener geteilten Vergangenheit und der eigenen Ignoranz getragen zu haben. Ab und zu bekommt er dabei einen unerträglichen Twitter-Sarkasmus, spielt Diskurs-Bingo und kommentiert alte rechte Kamellen wie „LINKSGRÜNVERSIFFT-VERLOGENE Doppelmoral“.
Das will man schon nicht mal mehr in Online-Kommentaren lesen, noch weniger will man das in einem Roman lesen. Die aber ja hochtragische Spannung zweier Weltsichten, zwischen dem Erzähler und dessen „Freund“, beschreibt Stuckrad-Barre so wenig komplex wie fast alle Charaktere: „Ich schaute hin, hasste es wie immer, mochte meinen Freund aber ja trotzdem.“
Das alles könnte eine schöne Ausgabe von Böhmermanns „ZDF Magazin Royale“ sein, allerdings geht es in dem Roman ja auch um die Frauen, um die Freundschaft mit einer vom Chefredakteur ausgenutzten Frau, „Sophia“. Deren Ausführungen über die permanente Vorsicht wegen der übergriffigen Männer im Alltag einer Frau („Wir lassen beim Ausgehen keine Sekunde lang unser Glas aus den Augen“), kommentiert er mit halboffenem Mund: „Das ist alles so furchtbar, was du da erzählst.“ Einerseits erleichternd, weil es die eigene Sprachlosigkeit ausdrückt, andererseits schleppt sich der Erzähler mit dieser durchaus authentischen Echt-krass-Haltung etwa 300 Seiten lang durch die Welt zwischen Berlin (schlimm, grau, Nicht-Los-Angeles) und Los Angeles (sonnig, Drew Barrymore, Chateau Marmont) und kopfschüttelnd durch Bekenntnisse von Frauen, die sich angesichts des mangelnden eigenen Beitrags teilweise wie Blogeinträge aneinanderreihen. Nein, den Vorwurf, die Frauen kämen nicht zu Wort, kann Stuckrad-Barre niemand machen.
Die Schäbigkeit der anderen, davon erfährt man viel in „Noch wach?“, während der „Ich jedenfalls“-Erzähler sich in die Ahnungslosigkeit und in den Luxus in Los Angeles rettet. Keine Frage, dieser Roman ist hochspannend für alle Medieninsider-Begeisterten, die noch ein paar Details aus dem Compliance-Verfahren um Julian Reichelt möchten. Dabei hätte man das gern erfahren, wie das ist, wenn ein hochbegabter, in den Nullerjahren sozialisierter Ex-Springer-Freund, der dann doch recht männerdominant Gatsby, Hitchcock, Dietl, Bret Easton Ellis zitiert und Lars Eidinger vergöttert („was für ein Genie“), wenn so jemand etwas verstanden oder nicht verstanden hat, wenn so jemand Angst hat, falsch abzubiegen, wenn so jemand bereut, sich quält, sich aufrafft.
Denn genau für jene Tragik sind neue, eigenständige Werke, ist die Literatur da. Nachzulesen, übrigens, in „The Shards“, von Bret Easton Ellis.
MARLENE KNOBLOCH
Stuckrad-Barre beschreibt
herrlich das Milieu und
die Taktik der Mächtigen
Die Schwäche, ja die Schäbigkeit
der anderen, davon erfährt
man hier immerhin alles
Eine Männerfreundschaft, die an der Moral zerbricht, an fehlender Loyalität und am Alter – diesen großartigen Stoff erzählt Benjamin von Stuckrad-Barre in seinem neuen Roman eiskalt.
Foto: Jonas Holthaus / laif
Benjamin von
Stuckrad-Barre:
Noch wach?
Kiepenheuer & Witsch,
Köln 2023,
384 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Benjamin von Stuckrad-Barres Roman „Noch wach?“ enttäuscht keine Klatschnase rund um den akuten
Wahnsinn beim Springer-Konzern. Und nein, die Frauen hat er nicht vergessen. Nur die Literatur
Es steht ja da, ganz am Ende der fast 400 Seiten: „ein bissl Geld, ein bissl Sex, ein bissl Tragik … und ein bissl Perversion.“ Die ideale Mischung für eine gute Geschichte, so zitiert der Erzähler den großen Regisseur Helmut Dietl, so ähnlich hat der es ins Drehbuch für „Kir Royal“ geschrieben, und Dietls Wort in Gottes, vor allem in Benjamin von Stuckrad-Barres Ohr, seit jeher dessen, Dietls, Bewunderer.
Der Roman mit dem Wahnsinnstitel „Noch wach?“, über Sexskandale beim Springer-Konzern, #MeToo, Compliance-Verfahren, Miles Davis auf kalifornischen Highways und Elon Musk in Brandenburg, hat eigentlich alles: das Geld – das dumme und das schöne. Den Sex – den schnellen in Berliner Apartments und den verdorbenen in den „Fickbussen“ West Hollywoods. Die Perversion eines Boulevardmediums, das in Mülltonnen von frisch verwitweten Ehemännern wühlt, und die Perversion der Tech-Elite, die ihre Imperien und weitere Entitäten miteinander vergleicht. Dann schaute auch noch ganz unverhofft die Gegenwart mit etwas frischem Aufwind beziehungsweise dem Orkan „Mathias“ vorbei, der samt Chatverläufen aus dem Hause Axel Springer den Roman Richtung Kassentresen fegen dürfte. Ja, alles da. Eins hat Benjamin von Stuckrad-Barre vergessen: die Tragik.
Der Roman beginnt in der Du-Form, als würde da jemand langsam und genau erklären, stell dir vor, und das ist nicht schlecht. Gleich der erste Satz quetscht sich zwischen die zu nah stehenden maßgeschneiderten Anzüge, zwischen Champagner und Rasierwasserduft, in dem man schon einen Hauch von Missbrauch riecht: „Und dann fragt er dich, ob er dir den amerikanischen Botschafter vorstellen darf.“ Es geht fantastisch los.
Im Stuckrad-Barre-Tempo rasen peinliche Szenen vor ranghohen Persönlichkeiten und auf der Arbeit des Dus vorbei sowie ein „Chefredakteur“, der für „dich“ und „deine“ Anfängerfehler Verständnis zeigt, der „dich“ sieht, „dir“ Mut macht, „dich“ fördert. Mit dem man ganz unromantisch Chicken Wings im Büro nagt, der einen Tisch im „Borchi“ reserviert, der Bücher schenkt und zum Mentor jenes Dus avanciert. Der anders ist als die langweiligen Tinder-Männer, die gern „zu Hause einen entspannten“ machen, die nicht auf einem Pferd im Krieg vor einem Granateneinschlag davongeritten sind. Herrlich beschreibt Stuckrad-Barre gleichzeitig ein schillerndes Milieu und die perfide Taktik eines Mannes in Machtposition. Das alles mit Crime-Suspense, aus der Sicht einer jungen Frau, die angenehmerweise (noch) nicht idealisiert wird, sondern kreischend absurde Satzkollisionen zulässt, wenn sie den „Chefredakteur“ beschreibt: „ziemlich süß irgendwie. Weil er halt zehn Minuten später schon wieder einen Bundesminister am Telefon zusammenscheißt.“
Man hört von einer Betroffenen, wie das abläuft, wenn sich Chefredakteure großer Boulevardmedien an junge Volontärinnen ranmachen. Man hört es gern. Zum einen, weil man genau diese Geschichte in allen möglichen Medien von allen möglichen Leuten gehört hat, außer von einer betroffenen Frau. Zum anderen, weil bei alldem der sichere Boden der Fiktionalität vibriert und irgendwo sehr laut der Ex-Bild-Chef Julian Reichelt trampelt.
Selbst wenn man sich stark konzentriert, hier eine Literaturkritik und keine Schlammschlacht-Exegese der Medienwelt zu verfassen, so muss man sehr abstraktionsbegabt sein, um nicht bei jenem „Chefredakteur“ vor dem inneren Auge eine Rahmenbrille und ein leicht aufgeknöpftes Hemd aufblitzen zu sehen. Weiß man dann um die langjährige Freundschaft zwischen dem Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre und Axel-Springer-Chef Mathias Döpfner und um die Rolle des Schriftstellers im Compliance-Verfahren bei der Bild-Zeitung, dann muss man tief durchatmen und sich den Disclaimer des Verlags noch mal vorbeten: „Vielmehr hat der Autor ein völlig eigenständiges neues Werk geschaffen.“ Amen.
Leider bricht die Du-Perspektive nach Kapitel eins ab, und ein Ich-Erzähler taucht auf, der auffällig viele Eigenschaften mit dem Schriftsteller teilt (kurz geschorene Haare, hat Witze für Harald Schmidt geschrieben, verehrt Bret Easton Ellis, dazu später mehr). Dieser Erzähler gerät in Los Angeles wie in Berlin an Frauen, die von Männern missbraucht wurden, und die sich, warum auch immer, mehr oder weniger direkt an ihn wenden, der mehr oder weniger etwas damit anzufangen weiß, plötzlich Verantwortung übernehmen soll. Das macht ihn zum unfreiwilligen Helden des Romans, der aber eigentlich lieber unter dem Zitronenbaum am Pool im Chateau Marmont liegen würde (wobei man Stuckrad-Barre die schludrige Big-Lebowski-Coolness nicht lange abnimmt). Vor allem, und darin liegt einer der zentralen Konflikte des Romans, ist das alles belastend für die Freundschaft mit dem Freund, der hier ein „Senderchef“ ist – der Medienkonzern betreibt nämlich einen Fernsehsender.
Eine Männerfreundschaft, die an der Moral zerbricht, an fehlender Loyalität, am Alter, woran auch immer, ist ein fantastischer Romanstoff – Stuckrad-Barre nun erzählt diese Freundschaft von Beginn an eiskalt. Jener Freund weiß nicht, dass man Fotos auf Twitter posten kann, die Frisur liegt bescheuert, er ist ein – auch Thomas Bernhard zählt zu Stuckrad-Barres Helden – „SALONGEISTESMENSCH“ und wollte früher mal Schauspieler werden, „weil das ja immer sehr MENSCHLICH MACHT“. Jede Charaktereigenschaft dieses Freundes dient dem Erzähler, sich mit Hohn und kühler Ironie von ihm zu distanzieren. Tragik, Größe, Menschlichkeit entstehen aber erst mit dem Temperaturunterschied. Mit langsamem Frösteln. Wer hier nie die Wärme sah, dem ist die Kälte egal. Warum er überhaupt mit ihm befreundet war, was diese zwei Männer – also natürlich Stuckrad-Barre und Döpfner – all die Jahre verbunden hat, das beschreibt Stuckrad-Barre mit kurzen Rückblenden und Klischees: „Wenn’s kipplig wurde und Zuspruch vonnöten war, dann konnte ich mich auf ihn verlassen, dann war er immer da gewesen und würde das auch künftig immer wieder sein.“ Ob mit „wenn’s kipplig wurde“ tiefe Existenzkrisen, der Tod wichtiger Menschen oder Geldnöte beim Bezahlen des Rindertartars im Grill Royal gemeint sind – unklar. Die Abkehr von seinem Freund scheint der Erzähler jedenfalls locker zu chauffieren.
Wenig „kipplig“ ist hingegen die Meinung zu jenem „Sender“ seines Freundes, womit man beim wahnsinnig unterhaltenden, aber auch verhängnisvollen Talent von Stuckrad-Barre wäre: der Verachtung. Auftritt nun: „der Chefredakteur“: „Dieser Typ hatte sich politisch doch sehr unangenehm radikalisiert mit den Jahren, war direkt proportional dazu immer fetter geworden“, „eine Art wirr faselnder Gartenzaunnazi“, er betrieb einen „Wutfunk“, „Tucker Carlson für geistig NOCH Ärmere“. Als der Erzähler schließlich mit seinem Freund auf der Baustelle für das neue Sendergebäude steht und auf den Bannern die Boulevard-Schlagzeilen wie „Ex startet Liebesschlamm-Schlacht" oder „Jetzt wird’s schmutzig!“ liest, empört ihn das in diesem Buch plötzlich ernsthaft: „Diese Schwachmaten, wirklich, es war so grauenhaft alles.“ Die „Feelgood-Managerin“ hört man nur verzerrt von „Douglasie“ und warmen Holzarten reden, von Duschen auf dem Dach, so eifrig versichert einem der Erzähler, wie bescheuert er das alles findet – und schließlich zieht er sich, Bret Easton Ellis zitierend, angeekelt aus der Affäre: „kein Ausgang“.
Diese Verachtung, ja selbst die plötzliche Richtigmacherei würde funktionieren, handelte es sich – wie Stuckrad-Barre es etwa in seinem Debüt „Soloalbum“ zeigte – um eine strauchelnde Figur, um jemanden, der sucht, in der Welt, in den Menschen, und, bitte, bitte: in sich. Eine Figur, in der etwas passiert oder passiert ist, bei der die Verachtung etwas verrät, was über „Ich stehe richtig“ hinausgeht. Er reflektiert zwar flapsig, er sei eigentlich der Falsche für Verantwortung, eine „Fehlbesetzung“. Gleichzeitig scheint dem Erzähler hier allerdings sehr blitzmoralisiert aufzufallen, welches ungeheuerliche Unternehmen sein Freund da seit Jahrzehnten leitet, ohne irgendeinen Schaden aus Fehlern jener geteilten Vergangenheit und der eigenen Ignoranz getragen zu haben. Ab und zu bekommt er dabei einen unerträglichen Twitter-Sarkasmus, spielt Diskurs-Bingo und kommentiert alte rechte Kamellen wie „LINKSGRÜNVERSIFFT-VERLOGENE Doppelmoral“.
Das will man schon nicht mal mehr in Online-Kommentaren lesen, noch weniger will man das in einem Roman lesen. Die aber ja hochtragische Spannung zweier Weltsichten, zwischen dem Erzähler und dessen „Freund“, beschreibt Stuckrad-Barre so wenig komplex wie fast alle Charaktere: „Ich schaute hin, hasste es wie immer, mochte meinen Freund aber ja trotzdem.“
Das alles könnte eine schöne Ausgabe von Böhmermanns „ZDF Magazin Royale“ sein, allerdings geht es in dem Roman ja auch um die Frauen, um die Freundschaft mit einer vom Chefredakteur ausgenutzten Frau, „Sophia“. Deren Ausführungen über die permanente Vorsicht wegen der übergriffigen Männer im Alltag einer Frau („Wir lassen beim Ausgehen keine Sekunde lang unser Glas aus den Augen“), kommentiert er mit halboffenem Mund: „Das ist alles so furchtbar, was du da erzählst.“ Einerseits erleichternd, weil es die eigene Sprachlosigkeit ausdrückt, andererseits schleppt sich der Erzähler mit dieser durchaus authentischen Echt-krass-Haltung etwa 300 Seiten lang durch die Welt zwischen Berlin (schlimm, grau, Nicht-Los-Angeles) und Los Angeles (sonnig, Drew Barrymore, Chateau Marmont) und kopfschüttelnd durch Bekenntnisse von Frauen, die sich angesichts des mangelnden eigenen Beitrags teilweise wie Blogeinträge aneinanderreihen. Nein, den Vorwurf, die Frauen kämen nicht zu Wort, kann Stuckrad-Barre niemand machen.
Die Schäbigkeit der anderen, davon erfährt man viel in „Noch wach?“, während der „Ich jedenfalls“-Erzähler sich in die Ahnungslosigkeit und in den Luxus in Los Angeles rettet. Keine Frage, dieser Roman ist hochspannend für alle Medieninsider-Begeisterten, die noch ein paar Details aus dem Compliance-Verfahren um Julian Reichelt möchten. Dabei hätte man das gern erfahren, wie das ist, wenn ein hochbegabter, in den Nullerjahren sozialisierter Ex-Springer-Freund, der dann doch recht männerdominant Gatsby, Hitchcock, Dietl, Bret Easton Ellis zitiert und Lars Eidinger vergöttert („was für ein Genie“), wenn so jemand etwas verstanden oder nicht verstanden hat, wenn so jemand Angst hat, falsch abzubiegen, wenn so jemand bereut, sich quält, sich aufrafft.
Denn genau für jene Tragik sind neue, eigenständige Werke, ist die Literatur da. Nachzulesen, übrigens, in „The Shards“, von Bret Easton Ellis.
MARLENE KNOBLOCH
Stuckrad-Barre beschreibt
herrlich das Milieu und
die Taktik der Mächtigen
Die Schwäche, ja die Schäbigkeit
der anderen, davon erfährt
man hier immerhin alles
Eine Männerfreundschaft, die an der Moral zerbricht, an fehlender Loyalität und am Alter – diesen großartigen Stoff erzählt Benjamin von Stuckrad-Barre in seinem neuen Roman eiskalt.
Foto: Jonas Holthaus / laif
Benjamin von
Stuckrad-Barre:
Noch wach?
Kiepenheuer & Witsch,
Köln 2023,
384 Seiten, 25 Euro.
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»Die Audio-Version hat einen entscheidenden Vorteil: Stuckrad-Barre selbst liest sein Werk und schafft es mit seiner Stimme, vermeintlich Belangloses emotional zu vermitteln.« Sarah Platz ntv.de 20230430