ILLUMINATI, SAKRILEG, DAS VERLORENE SYMBOL und INFERNO - vier Welterfolge, die mit ORIGIN ihre spektakuläre Fortsetzung finden. Die Wege zur Erlösung sind zahlreich. Verzeihen ist nicht der einzige. Als der Milliardär und Zukunftsforscher Edmond Kirsch drei der bedeutendsten Religionsvertreter der Welt um ein Treffen bittet, sind die Kirchenmänner zunächst skeptisch. Was will ihnen der bekennende Atheist mitteilen? Was verbirgt sich hinter seiner "bahnbrechenden Entdeckung", das Relevanz für Millionen Gläubige auf diesem Planeten haben könnte? Nachdem die Geistlichen Kirschs Präsentation gesehen haben, verwandelt sich ihre Skepsis in blankes Entsetzen. Die Furcht vor Kirschs Entdeckung ist begründet. Und sie ruft Gegner auf den Plan, denen jedes Mittel recht ist, ihre Bekanntmachung zu verhindern. Doch es gibt jemanden, der unter Einsatz des eigenen Lebens bereit ist, das Geheimnis zu lüften und der Welt die Augen zu öffnen: Robert Langdon, Symbolforscher aus Harvard, Lehrer Edmond Kirschs und stets im Zentrum der größten Verschwörungen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.2017Ein bisschen Erbauung schadet nie
Heute erscheint auf der ganzen Welt "Origin", der neue Roman von Dan Brown. Steht darin eine Antwort auf die Frage nach dem Ursprung? Jedenfalls gibt es einen Vorschlag, der nicht langweilig ist.
Was, wenn ein Supercomputer existierte mit zwei Hemisphären wie das menschliche Gehirn, der Antworten auf die zentralen Fragen der Menschheit ausrechnen kann: Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Diese Antworten würden nicht nur die drei großen Weltreligionen mit ihrem Schöpfergott in den Grundfesten erschüttern, sondern die gesamte Menschheit, wenn es nach Dan Brown geht. Er spielt das Modell in "Origin" durch, dem neuen Roman, der heute weltweit erscheint. Dafür zieht er einmal mehr alle Register, in denen seine nicht geringe Phantasie mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und Perspektiven amalgamiert ist.
Zur Mithilfe herangezogen werden Geistesgrößen wie William Blake, Friedrich Nietzsche, Charles Darwin und Winston Churchill oder auch Antoni Gaudí und Paul Gauguin. So hängt Gauguins berühmtes riesiges Querformat "Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?", das unsereiner im Museum of Fine Art in Boston vermutet, nämlich in Barcelona in der sehr ungewöhnlichen Wohnung von Edmond Kirsch. Die befindet sich im musealen Dachgeschoss der Casa Milà, dem spektakulären Wohnkomplex des Architekten Gaudí. Kirsch ist - genauer: war, weil er nach einer relativ kurzen leiblichen Präsenz im Roman bedauerlicherweise tot ist - Futurologe, glühender Atheist und Multimilliardär. Mit seinen Theorien hat er schon globales Aufsehen erregt, nun aber steht sein ultimativer Schlag ins Kontor von Kreationismus und menschlicher Selbstgewissheit unmittelbar bevor. Edmond Kirsch war einer der ersten Studenten von Browns "Illuminati"-Figur Robert Langdon, längst sind sie Freunde. Wieder ist Langdon, der wohlerzogene elegante Professor für Kunstgeschichte und Symbologe aus Harvard mit seinem fotografischen Gedächtnis und seiner Klaustrophobie, der Protagonist.
Unerwartete Kalamitäten stoßen Langdon diesmal in Spanien zu. Sie führen nicht nur tief in die Geheimnisse des Palacio Real in Madrid, wo es einen sterbenden König samt seinem sturzkatholischen Berater Bischof Antonio Valdespino und einen Prinz Julián in Wartestellung gibt. Sie berühren auch den Kreis der erzreaktionären palmarianisch-katholischen Kirche mit ihrer gigantischen Kathedrale in Palmar de Troya. Langdons Nachforschungen zeitigen wilde Verschwörungstheorien im World Wide Web - und vor allem führen sie, auf der Jagd nach Kirschs Vermächtnis, ins kryptische Herz der KI, der Künstlichen Intelligenz und ihrer bisher nur geahnten Möglichkeiten.
Die Romane des amerikanischen Autors, 1964 in New Hampshire geboren, handeln stets von Gott und der Welt, von Kunst und Wissenschaft, drunter tut er es nicht. In "Origin" ist das auf die Spitze getrieben, geht es doch um nichts Geringeres als den Ursprung der Menschheit, des Lebens überhaupt und um die Perspektive der Evolution. Das hätte krachend schiefgehen können. Ist es aber nicht. Dabei geht doch Dan Brown gar nicht - für den kultivierten Anspruch. Aber irgendjemand muss seine Bücher ja lesen, wenigstens kaufen. Dafür steht eine weltweite Auflage von mehr als zweihundert Millionen Exemplaren bisher, übersetzt in 56 Sprachen (die müssen einem erst mal einfallen). Vielleicht sind doch nicht alle seine Leser so doof. Was sich Brown wahrlich nicht unterstellen lässt, ist Ungebildetheit - und Arroganz; darin unterscheidet er sich von seinen so souverän intellektuellen Gegnern.
Er ist ein Erzähler, an dem ein Lehrer verlorengegangen ist, ein bisschen sogar ein Erbauungsprediger, das macht ihn nicht unsympathisch - und "Origin" nicht langweilig. Nach einem etwas zähen ersten Drittel, in dem vor allem jede Menge Personal geklärt werden muss, nimmt die Geschichte Fahrt auf. Ihren Fortgang hier zu enthüllen wäre eine Gemeinheit. Verraten sei, dass ganz am Schluss noch eine sehr scharfkantige Pointe auf leisen Sohlen daherkommt. Selbst Langdon hatte diese Wendung nicht auf dem Zettel. Ihre Tragweite, die keineswegs völlig aus der Luft gegriffen ist, hat wirklich das Potential des Schreckens.
Alles beginnt, nach dem Vorspiel in der legendären Abtei Montserrat, mit einem "Event" in Frank Gehrys Guggenheim-Museum in Bilbao: Dort will Edmond Kirsch, Herrscher über die computerbasierte Spieltheorie, seine bahnbrechende "wissenschaftliche Entdeckung" verkündigen; Ambra Vidal, die selbstredend bildschöne Direktorin des Guggenheim, hat ihm für die multisensuale Performance ihr Haus geöffnet. Ehe Kirsch richtig beim Thema ist, wird er vor Publikum und laufenden Kameras, die das Spektakel im Internet verbreiten, erschossen. Nun beginnt das typisch mit Cliffhangern und unvorhersehbaren Volten inszenierte Dan Brownsche Jagdszenario: Denn Langdon, dem unerwartet eine Rolle bei Kirschs Auftritt zugefallen war, haut im entstandenen Chaos mit Vidal, die obendrein die Verlobte des Kronprinzen Julián ist, ab. Das Ziel der beiden ist es, sich Zugang zu Kirschs durch ein komplexes Passwort abgesicherter Videoshow zu verschaffen, um seine revolutionären Erkenntnisse der ganzen Welt im Netz zu offenbaren. Ob das gelingt oder nicht, sei hier verschwiegen. In Erwartung der Show sind allerdings weltweit rund 230 Millionen Menschen an ihren Geräten zugeschaltet.
Bei Brown wird noch jede Flucht zum didaktischen Sightseeing, diesmal gibt es Wissenswertes zu Gaudís organoider Basilika Sagrada Família in Barcelona, außerdem zu El Escorial und zum Valle de los Caídos, des faschistischen Diktators Franco monströsem Mausoleum. Wieder geschieht alles an einem einzigen Tag, genauer in einer sehr langen Nacht. Beinah ständiger Begleiter von Langdon und Vidal ist "Winston", der Name ist eine Homage an Churchill. Winston ist eine heimliche Hauptfigur, obgleich er körperlos ist, nur als Stimme in einem Headset oder aus dem Phablet von Kirsch existiert. Denn Winston ist eine von Kirsch als Interface erschaffene Künstliche Intelligenz, die lernfähiger ist als jede bisher existierende KI. Winstons ephemere Präsenz bleibt aufregend bis zum Schluss, er ist der Vollstrecker der Wünsche seines Herrn, über die Verkündigung von dessen Botschaft hinaus. Vielleicht ist Winston Kirschs wirkliches Vermächtnis.
In "Origin" geht es wesentlich auch um Fanatismus, aber Brown vermeidet jeden direkten Bezug auf den islamistischen Terror, wie er gerade in Barcelona mit dem Anschlag auf die Ramblas im vergangenen August stattfand. Er spielt freilich auf die Motive religiösen und ideologischen Wahns an. Vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse in Spanien, der Zerrissenheit durch den katalanischen Separatismus, ist das Schicksal der spanischen Monarchie aus der Tradition der Reyes Católicos heraus, das in "Origin" mitverhandelt wird, eher eine nostalgische Petitesse. Aber niemand hat je ernsthaft vermutet, dass Dan Brown historische Romane schreibt, und "Origin" unterhält ziemlich gut; das ist schon eine ganze Menge.
Verlassen wir die Ursprungssuche nach 670 Seiten Lebenszeit, begleitet von Robert Langdons sophistischem Grübeln: "Wenn die Naturgesetze so umfassend sind, dass sie ausreichen, um Leben zu erschaffen - wer hat dann die Naturgesetze erschaffen?"
ROSE-MARIA GROPP
Dan Brown: "Origin". Thriller.
Aus dem amerikanischen Englisch von Axel Metz. Lübbe Verlag, Köln 2017. 670 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Heute erscheint auf der ganzen Welt "Origin", der neue Roman von Dan Brown. Steht darin eine Antwort auf die Frage nach dem Ursprung? Jedenfalls gibt es einen Vorschlag, der nicht langweilig ist.
Was, wenn ein Supercomputer existierte mit zwei Hemisphären wie das menschliche Gehirn, der Antworten auf die zentralen Fragen der Menschheit ausrechnen kann: Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Diese Antworten würden nicht nur die drei großen Weltreligionen mit ihrem Schöpfergott in den Grundfesten erschüttern, sondern die gesamte Menschheit, wenn es nach Dan Brown geht. Er spielt das Modell in "Origin" durch, dem neuen Roman, der heute weltweit erscheint. Dafür zieht er einmal mehr alle Register, in denen seine nicht geringe Phantasie mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und Perspektiven amalgamiert ist.
Zur Mithilfe herangezogen werden Geistesgrößen wie William Blake, Friedrich Nietzsche, Charles Darwin und Winston Churchill oder auch Antoni Gaudí und Paul Gauguin. So hängt Gauguins berühmtes riesiges Querformat "Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?", das unsereiner im Museum of Fine Art in Boston vermutet, nämlich in Barcelona in der sehr ungewöhnlichen Wohnung von Edmond Kirsch. Die befindet sich im musealen Dachgeschoss der Casa Milà, dem spektakulären Wohnkomplex des Architekten Gaudí. Kirsch ist - genauer: war, weil er nach einer relativ kurzen leiblichen Präsenz im Roman bedauerlicherweise tot ist - Futurologe, glühender Atheist und Multimilliardär. Mit seinen Theorien hat er schon globales Aufsehen erregt, nun aber steht sein ultimativer Schlag ins Kontor von Kreationismus und menschlicher Selbstgewissheit unmittelbar bevor. Edmond Kirsch war einer der ersten Studenten von Browns "Illuminati"-Figur Robert Langdon, längst sind sie Freunde. Wieder ist Langdon, der wohlerzogene elegante Professor für Kunstgeschichte und Symbologe aus Harvard mit seinem fotografischen Gedächtnis und seiner Klaustrophobie, der Protagonist.
Unerwartete Kalamitäten stoßen Langdon diesmal in Spanien zu. Sie führen nicht nur tief in die Geheimnisse des Palacio Real in Madrid, wo es einen sterbenden König samt seinem sturzkatholischen Berater Bischof Antonio Valdespino und einen Prinz Julián in Wartestellung gibt. Sie berühren auch den Kreis der erzreaktionären palmarianisch-katholischen Kirche mit ihrer gigantischen Kathedrale in Palmar de Troya. Langdons Nachforschungen zeitigen wilde Verschwörungstheorien im World Wide Web - und vor allem führen sie, auf der Jagd nach Kirschs Vermächtnis, ins kryptische Herz der KI, der Künstlichen Intelligenz und ihrer bisher nur geahnten Möglichkeiten.
Die Romane des amerikanischen Autors, 1964 in New Hampshire geboren, handeln stets von Gott und der Welt, von Kunst und Wissenschaft, drunter tut er es nicht. In "Origin" ist das auf die Spitze getrieben, geht es doch um nichts Geringeres als den Ursprung der Menschheit, des Lebens überhaupt und um die Perspektive der Evolution. Das hätte krachend schiefgehen können. Ist es aber nicht. Dabei geht doch Dan Brown gar nicht - für den kultivierten Anspruch. Aber irgendjemand muss seine Bücher ja lesen, wenigstens kaufen. Dafür steht eine weltweite Auflage von mehr als zweihundert Millionen Exemplaren bisher, übersetzt in 56 Sprachen (die müssen einem erst mal einfallen). Vielleicht sind doch nicht alle seine Leser so doof. Was sich Brown wahrlich nicht unterstellen lässt, ist Ungebildetheit - und Arroganz; darin unterscheidet er sich von seinen so souverän intellektuellen Gegnern.
Er ist ein Erzähler, an dem ein Lehrer verlorengegangen ist, ein bisschen sogar ein Erbauungsprediger, das macht ihn nicht unsympathisch - und "Origin" nicht langweilig. Nach einem etwas zähen ersten Drittel, in dem vor allem jede Menge Personal geklärt werden muss, nimmt die Geschichte Fahrt auf. Ihren Fortgang hier zu enthüllen wäre eine Gemeinheit. Verraten sei, dass ganz am Schluss noch eine sehr scharfkantige Pointe auf leisen Sohlen daherkommt. Selbst Langdon hatte diese Wendung nicht auf dem Zettel. Ihre Tragweite, die keineswegs völlig aus der Luft gegriffen ist, hat wirklich das Potential des Schreckens.
Alles beginnt, nach dem Vorspiel in der legendären Abtei Montserrat, mit einem "Event" in Frank Gehrys Guggenheim-Museum in Bilbao: Dort will Edmond Kirsch, Herrscher über die computerbasierte Spieltheorie, seine bahnbrechende "wissenschaftliche Entdeckung" verkündigen; Ambra Vidal, die selbstredend bildschöne Direktorin des Guggenheim, hat ihm für die multisensuale Performance ihr Haus geöffnet. Ehe Kirsch richtig beim Thema ist, wird er vor Publikum und laufenden Kameras, die das Spektakel im Internet verbreiten, erschossen. Nun beginnt das typisch mit Cliffhangern und unvorhersehbaren Volten inszenierte Dan Brownsche Jagdszenario: Denn Langdon, dem unerwartet eine Rolle bei Kirschs Auftritt zugefallen war, haut im entstandenen Chaos mit Vidal, die obendrein die Verlobte des Kronprinzen Julián ist, ab. Das Ziel der beiden ist es, sich Zugang zu Kirschs durch ein komplexes Passwort abgesicherter Videoshow zu verschaffen, um seine revolutionären Erkenntnisse der ganzen Welt im Netz zu offenbaren. Ob das gelingt oder nicht, sei hier verschwiegen. In Erwartung der Show sind allerdings weltweit rund 230 Millionen Menschen an ihren Geräten zugeschaltet.
Bei Brown wird noch jede Flucht zum didaktischen Sightseeing, diesmal gibt es Wissenswertes zu Gaudís organoider Basilika Sagrada Família in Barcelona, außerdem zu El Escorial und zum Valle de los Caídos, des faschistischen Diktators Franco monströsem Mausoleum. Wieder geschieht alles an einem einzigen Tag, genauer in einer sehr langen Nacht. Beinah ständiger Begleiter von Langdon und Vidal ist "Winston", der Name ist eine Homage an Churchill. Winston ist eine heimliche Hauptfigur, obgleich er körperlos ist, nur als Stimme in einem Headset oder aus dem Phablet von Kirsch existiert. Denn Winston ist eine von Kirsch als Interface erschaffene Künstliche Intelligenz, die lernfähiger ist als jede bisher existierende KI. Winstons ephemere Präsenz bleibt aufregend bis zum Schluss, er ist der Vollstrecker der Wünsche seines Herrn, über die Verkündigung von dessen Botschaft hinaus. Vielleicht ist Winston Kirschs wirkliches Vermächtnis.
In "Origin" geht es wesentlich auch um Fanatismus, aber Brown vermeidet jeden direkten Bezug auf den islamistischen Terror, wie er gerade in Barcelona mit dem Anschlag auf die Ramblas im vergangenen August stattfand. Er spielt freilich auf die Motive religiösen und ideologischen Wahns an. Vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse in Spanien, der Zerrissenheit durch den katalanischen Separatismus, ist das Schicksal der spanischen Monarchie aus der Tradition der Reyes Católicos heraus, das in "Origin" mitverhandelt wird, eher eine nostalgische Petitesse. Aber niemand hat je ernsthaft vermutet, dass Dan Brown historische Romane schreibt, und "Origin" unterhält ziemlich gut; das ist schon eine ganze Menge.
Verlassen wir die Ursprungssuche nach 670 Seiten Lebenszeit, begleitet von Robert Langdons sophistischem Grübeln: "Wenn die Naturgesetze so umfassend sind, dass sie ausreichen, um Leben zu erschaffen - wer hat dann die Naturgesetze erschaffen?"
ROSE-MARIA GROPP
Dan Brown: "Origin". Thriller.
Aus dem amerikanischen Englisch von Axel Metz. Lübbe Verlag, Köln 2017. 670 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.10.2017Sich dumm gucken
Dan Brown hat „Origin“ veröffentlicht, den fünften Teil einer globalen Schnitzeljagd. Aber
was bedeutet es eigentlich, wenn der Bestseller-Autor die Welt nach Sensationswerten abklappert?
VON THOMAS STEINFELD
Im Englischen gibt es ein Wort für die Tätigkeiten, die den Tourismus in seiner trivialen Form ausmachen. Es lautet „Sightseeing“, und man muss eine Weile nachdenken, um den darin verborgenen abgründigen „Code“ zu verstehen: Denn was sieht man, wenn man Sightseeing betreibt? Nein, nicht, was man zu sehen glaubt, nämlich die Museen, die Gebäude, die fremden Landschaften. Was man sieht, ist vielmehr eine „sight“, eine „Ansicht“. Man sieht das schon Gesehene. Und das verhält sich, sagen wir: zur Basilika von Barcelona wie eine Ansichtskarte (auch dies ein abgründiges Wort) zur tatsächlichen Sagrada Família – das Bild ist zu einem eigenen Gegenstand geworden, an dem sich der leibhaftige Gegenstand zu messen hat (und keineswegs umgekehrt).
Deswegen ist der Tourismus in seiner trivialen Form so brutal und so zerstörerisch: Denn es geht ihm ja gar nicht um das Ferne und Fremde, sondern um die „sight“. Er kennt keine Erfahrung, er nimmt nicht wahr, und er will nichts wissen. Seine Ansprüche sind erfüllt, wenn sich erweist, dass die Dinge, die man sehen wollte, den massenhaft vertriebenen Ansichten gleichen, die von diesen Dingen im Umlauf sind. Dann wird ein Selfie gemacht. Auch das hat seinen Sinn. Das Selfie ist die Ansicht einer Ansicht, einschließlich einer Ansicht des Fotografen.
In den Romanen des amerikanischen Schriftstellers Dan Brown wird das Prinzip des Sightseeing in Literatur verwandelt, nicht zur Belehrung, angeblich aber zum Vergnügen eines Publikums, zu dem mittlerweile die halbe Welt zu gehören scheint. Mehr als 200 Millionen Exemplare der vier Romane, in denen ein Historiker und „Symbologe“ namens Robert Langdon nicht nur der Kunst- und Geistesgeschichte, sondern der Menschheitsgeschichte deren tiefste Geheimnisse zu entreißen sucht, sind mittlerweile im Umlauf, vierzehn Millionen davon im deutschen Sprachraum. Am Dienstag dieser Woche erschien nun, in fünfzig Sprachen gleichzeitig, der fünfte Band dieser Serie. Er trägt den Titel „Origin“ (Lübbe Verlag, 672 Seiten, 28 Euro) und gehorcht denselben dramaturgischen Gesetzen, die den vorhergegangenen Bänden zugrunde lagen: Der Professor wird, aus welchen Gründen auch immer, in ein paar kunsthistorische Sehenswürdigkeiten von globalem Rang katapultiert, um dort einer „welterschütternden Wahrheit“ auf die Spur zu kommen, die über Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende verborgen lag. Aber die Feinde der Aufklärung sind selbstverständlich ebenfalls schon unterwegs, und so entspinnt sich eine wilde Flucht, die von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit führt und als eine Art Schnitzeljagd organisiert ist, wie man sie von Computerspielen her kennt: Ständig müssen Rätsel gelöst werden, damit man auf dem nächsten Level weitermachen kann. Und damit die Geschichte mit der gebührenden Geschwindigkeit vorankommt, ist die Lösung der Rätsel an eine Frist gebunden, bei deren Überschreitung die Welt mindestens in ewige geistige Umnachtung zu fallen droht.
Nach Spanien verschlägt es Robert Langdon dieses Mal, und selbstverständlich wird alles aufgeboten, was Spanien (Ansichtskarte) so besonders spanisch macht: In Bilbao, im Guggenheim-Museum, will Edmond Kirsch, ein ehemaliger Student des Professors und überaus erfolgreicher Informatiker (Ansichtskarte, kombiniert aus einem Bild Elon Musks und einem Porträt Robert Kurzweils) eine wissenschaftliche Entdeckung präsentieren, die er mit Hilfe eines von ihm entworfenen, allen vorhandenen Geräten unendlich überlegenen Computers gemacht haben soll: eine „Entdeckung, die das Gesicht der Wissenschaft für immer verändern wird“. Hundert Seiten vergehen, bis diese Präsentation endlich beginnt, hundert Seiten voller anschwellender Trommelwirbel. Dann erst tritt der geniale Wissenschaftler und Unternehmer auf: „Der Ursprung des Lebens ... Seit den Tagen der ersten Schöpfungsgeschichten ist er ein Mysterium geblieben. Seit Jahrtausenden suchen Philosophen und Wissenschaftler nach einer Spur dieses allerersten Augenblicks des Lebens ...“
Zwar ist diese Behauptung falsch – denn zur Unterscheidung des Belebten und des Unbelebten kommt es erst mit den beginnenden Naturwissenschaften (das mythologische Denken begreift beides als Momente ein und derselben Schöpfung, und das gilt auch für das Alte Testament). Aber was soll’s? Einen Augenblick später liegt Edmond Kirsch auf dem Museumsboden, mit einem Loch in der Stirn, erschossen von einem alten Admiral in der glänzenden Montur der spanischen Flotte (Ansichtskarte). Und schon tobt der Kindergeburtstag los auf seiner lärmenden Schnitzeltour, quer durch „El Escorial“ (Ansichtskarte) und die königliche Familie (Ansichtskarte), das Kloster Montserrat (Ansichtskarte) und die Spitze des katholischen Glaubens, am Valle de los Caídos (Ansichtskarte), dem Grabmal Francisco Francos, vorbei und die Sagrada Família (Ansichtskarte) hinauf und herunter. Für die Abwesenheit von Erfahrung sorgt schon die Geschwindigkeit, mit der Robert Langdon alle bisher von chinesischen oder auch amerikanischen Reisegruppen aufgestellten Rekorde im Abklappern von spanischen Sehenswürdigkeiten lässig übertrifft. Aber sie hat Prinzip, und dieses Prinzip ist unmittelbar mit Wirkung und Erfolg dieser Romanserie verknüpft.
Denn eine Sache ist es zu erkennen, wie unbeholfen dieser Roman gebaut ist. Und man braucht keine besonderen Kenntnisse der Literatur, um eine Vorstellung davon zu haben, wie wenig Dan Brown vom Schreiben versteht – jedes Mal, wenn etwas Außerordentliches passiert (und das geschieht oft), fallen den Beteiligten die Kinnladen herunter, es wimmelt von „erstaunlichen“ und „schockierenden“ Ereignissen, und wenn etwas „entsetzlich“ sein soll, ist es im nächsten Satz auch „grausig“. Nein, all diese Einwände sind geschenkt. Aber was soll man von der Intelligenz des Helden (und eines Autors) halten, der Gedanken wie diesen zustande bringt: „Langdon vermutete, dass Edmonds beinahe gespenstische Fähigkeit, richtige Prognosen zu treffen, auf sein enzyklopädisches Wissen zurückzuführen war.“ Ehrlich, und nicht vielleicht auf den übermäßigen Verzehr von Kirschkuchen oder auf eine traumatische Begegnung mit einem durchgedrehten Alien? Doch auch solche Einwände gehören zum Repertoire der Kulturkritik. Sie wirken in diesem Zusammenhang nur arrogant, und sie verfehlen ihren Gegenstand in seiner grausigen Größe.
Genug der Trommelwirbel. Wirkung und Erfolg dieser Romanserie beruhen darauf, dass das Prinzip des Sightseeing in allen seinen Elementen verwirklicht ist. Robert Langdon tut keinen Schritt, ohne nicht zugleich ein ideelles Selfie zu machen – dergestalt, dass er sich ständig überlegt, wo er ist und was er gerade wahrnimmt. Wenn er also der Sagrada Família angesichtig wird, dann sieht er nicht nur das Gebäude, sondern denkt auch, dass er diese Kirche sieht, während gleichzeitig – ob in seinem Inneren oder durch den Autor ist meist nicht zu erkennen – eine Art Wikipedia-Eintrag vorgetragen wird: „Nach seiner Fertigstellung wird der höchste Turm der Sagrada Família bis in schwindelerregende einhundertzweiundsiebzig Meter Höhe aufragen – höher als das Washington Monument –, womit sie die höchste Kirche der Welt sein wird, mehr als dreißig Meter höher als der Petersdom im Vatikan.“ Beim Wort „schwindelerregend“ mag es sich um eine schwache Erinnerung an etwas Lebendiges handeln. Der Rest indessen hat, in Form und Inhalt, ebenfalls mit Wahrnehmung und Erfahrung nichts zu tun, sondern bedient das Sightseeing, indem es der Ansicht durch das Addieren von Informationen einen leeren Schein von Bedeutsamkeit verleiht.
Sightseeing heißt deswegen nicht nur, dass es ein Sehen ohne Wahrnehmung und Erfahrung gibt, um vom Wissen gar nicht erst anzufangen. Sightseeing bedeutet vielmehr auch, dass die Ansicht die Wahrnehmung vernichtet. Wem es vor allem auf das Bild der Sagrada Família ankommt – oder darauf, dass Bild und Augenschein übereinstimmen –, der hält die Reproduktion längst für das Eigentliche und das Original für eine Erfindung. Und bei dieser Umkehrung handelt es sich um sehr viel mehr als um den Einfall eines mittelmäßigen Schriftstellers aus den Vereinigten Staaten. Sie gehört vielmehr zur Beschreibung eines Weltzustands, in der es gewöhnlich ist, jedes Ding und jedes Ereignis, auch der intellektuellen Art, nach dem ihnen potenziell innewohnenden symbolischen Wert (und das heißt vor allem: nach ihrem Sensationswert) zu beurteilen. Deswegen gleichen Dan Browns Romane – in der Spekulation auf das Sensationelle, in der Form der Darbietung in Gestalt von dramatisch hergerichteten Informationen („Daten“), in der Bindung an die kurze Frist – in die Länge gezogenen Vorträgen auf Ted-Konferenzen.
Entsprechend trostlos fallen die angeblich welterschütternden Erkenntnisse aus, die Edmond Kirsch der – ebenso angeblich – fassungslosen globalen Öffentlichkeit darbietet. Sie seien hier, entgegen den Gepflogenheiten der Literaturkritik im Umgang mit Kriminalromanen und „Thrillern“, verraten, ihrer erschütternden Trivialität wegen. „Woher kommen wir?“, hatte Edmond Kirsch zuerst gefragt. Die Antwort: „Ich hoffe sehr, wir können eines Tages beweisen, dass das Leben tatsächlich spontan aus lebloser Materie entstanden ist.“ Worauf der Professor so reagiert: „Faszinierend, überlegte Landon, eine klare wissenschaftliche Theorie“, und der Satz ist leider so wenig ironisch wie ein Loch im Kopf. Die komplementäre Frage lautete: „Wohin gehen wir?“ Na klar, in eine biologisch-technische Zukunft, in das Paradies der Ted-Konferenzen, wohin sonst? „Wir werden über Kräfte verfügen, die unsere kühnsten Träume übersteigen.“ Von solcher Art sollen die Geheimnisse sein, deretwegen Weltverschwörungen begründet und Wissenschaftler ermordet werden, während die Weltreligionen den Notstand ausrufen? Braucht es noch mehr Beweise, dass übertriebenes Sightseeing dem Verstand schlicht nicht guttut?
Was passiert, wenn das Rätsel
nicht gelöst wird? Fällt dann die
Welt in geistige Umnachtung?
„Sightseeing“ ist nicht nur der
Ausschluss von Erfahrung,
sondern auch deren Vernichtung
Sehr spanisch, sehr katalanisch, aber in der Hauptsache berühmt: Im Finale des Romans „Origin“ lässt Dan Brown seinen Helden, den Harvard-Professor Robert Langdon, den höchsten Turm der Basilika von Barcelona erklimmen.
Foto: Reuters/Albert Gea
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Dan Brown hat „Origin“ veröffentlicht, den fünften Teil einer globalen Schnitzeljagd. Aber
was bedeutet es eigentlich, wenn der Bestseller-Autor die Welt nach Sensationswerten abklappert?
VON THOMAS STEINFELD
Im Englischen gibt es ein Wort für die Tätigkeiten, die den Tourismus in seiner trivialen Form ausmachen. Es lautet „Sightseeing“, und man muss eine Weile nachdenken, um den darin verborgenen abgründigen „Code“ zu verstehen: Denn was sieht man, wenn man Sightseeing betreibt? Nein, nicht, was man zu sehen glaubt, nämlich die Museen, die Gebäude, die fremden Landschaften. Was man sieht, ist vielmehr eine „sight“, eine „Ansicht“. Man sieht das schon Gesehene. Und das verhält sich, sagen wir: zur Basilika von Barcelona wie eine Ansichtskarte (auch dies ein abgründiges Wort) zur tatsächlichen Sagrada Família – das Bild ist zu einem eigenen Gegenstand geworden, an dem sich der leibhaftige Gegenstand zu messen hat (und keineswegs umgekehrt).
Deswegen ist der Tourismus in seiner trivialen Form so brutal und so zerstörerisch: Denn es geht ihm ja gar nicht um das Ferne und Fremde, sondern um die „sight“. Er kennt keine Erfahrung, er nimmt nicht wahr, und er will nichts wissen. Seine Ansprüche sind erfüllt, wenn sich erweist, dass die Dinge, die man sehen wollte, den massenhaft vertriebenen Ansichten gleichen, die von diesen Dingen im Umlauf sind. Dann wird ein Selfie gemacht. Auch das hat seinen Sinn. Das Selfie ist die Ansicht einer Ansicht, einschließlich einer Ansicht des Fotografen.
In den Romanen des amerikanischen Schriftstellers Dan Brown wird das Prinzip des Sightseeing in Literatur verwandelt, nicht zur Belehrung, angeblich aber zum Vergnügen eines Publikums, zu dem mittlerweile die halbe Welt zu gehören scheint. Mehr als 200 Millionen Exemplare der vier Romane, in denen ein Historiker und „Symbologe“ namens Robert Langdon nicht nur der Kunst- und Geistesgeschichte, sondern der Menschheitsgeschichte deren tiefste Geheimnisse zu entreißen sucht, sind mittlerweile im Umlauf, vierzehn Millionen davon im deutschen Sprachraum. Am Dienstag dieser Woche erschien nun, in fünfzig Sprachen gleichzeitig, der fünfte Band dieser Serie. Er trägt den Titel „Origin“ (Lübbe Verlag, 672 Seiten, 28 Euro) und gehorcht denselben dramaturgischen Gesetzen, die den vorhergegangenen Bänden zugrunde lagen: Der Professor wird, aus welchen Gründen auch immer, in ein paar kunsthistorische Sehenswürdigkeiten von globalem Rang katapultiert, um dort einer „welterschütternden Wahrheit“ auf die Spur zu kommen, die über Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende verborgen lag. Aber die Feinde der Aufklärung sind selbstverständlich ebenfalls schon unterwegs, und so entspinnt sich eine wilde Flucht, die von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit führt und als eine Art Schnitzeljagd organisiert ist, wie man sie von Computerspielen her kennt: Ständig müssen Rätsel gelöst werden, damit man auf dem nächsten Level weitermachen kann. Und damit die Geschichte mit der gebührenden Geschwindigkeit vorankommt, ist die Lösung der Rätsel an eine Frist gebunden, bei deren Überschreitung die Welt mindestens in ewige geistige Umnachtung zu fallen droht.
Nach Spanien verschlägt es Robert Langdon dieses Mal, und selbstverständlich wird alles aufgeboten, was Spanien (Ansichtskarte) so besonders spanisch macht: In Bilbao, im Guggenheim-Museum, will Edmond Kirsch, ein ehemaliger Student des Professors und überaus erfolgreicher Informatiker (Ansichtskarte, kombiniert aus einem Bild Elon Musks und einem Porträt Robert Kurzweils) eine wissenschaftliche Entdeckung präsentieren, die er mit Hilfe eines von ihm entworfenen, allen vorhandenen Geräten unendlich überlegenen Computers gemacht haben soll: eine „Entdeckung, die das Gesicht der Wissenschaft für immer verändern wird“. Hundert Seiten vergehen, bis diese Präsentation endlich beginnt, hundert Seiten voller anschwellender Trommelwirbel. Dann erst tritt der geniale Wissenschaftler und Unternehmer auf: „Der Ursprung des Lebens ... Seit den Tagen der ersten Schöpfungsgeschichten ist er ein Mysterium geblieben. Seit Jahrtausenden suchen Philosophen und Wissenschaftler nach einer Spur dieses allerersten Augenblicks des Lebens ...“
Zwar ist diese Behauptung falsch – denn zur Unterscheidung des Belebten und des Unbelebten kommt es erst mit den beginnenden Naturwissenschaften (das mythologische Denken begreift beides als Momente ein und derselben Schöpfung, und das gilt auch für das Alte Testament). Aber was soll’s? Einen Augenblick später liegt Edmond Kirsch auf dem Museumsboden, mit einem Loch in der Stirn, erschossen von einem alten Admiral in der glänzenden Montur der spanischen Flotte (Ansichtskarte). Und schon tobt der Kindergeburtstag los auf seiner lärmenden Schnitzeltour, quer durch „El Escorial“ (Ansichtskarte) und die königliche Familie (Ansichtskarte), das Kloster Montserrat (Ansichtskarte) und die Spitze des katholischen Glaubens, am Valle de los Caídos (Ansichtskarte), dem Grabmal Francisco Francos, vorbei und die Sagrada Família (Ansichtskarte) hinauf und herunter. Für die Abwesenheit von Erfahrung sorgt schon die Geschwindigkeit, mit der Robert Langdon alle bisher von chinesischen oder auch amerikanischen Reisegruppen aufgestellten Rekorde im Abklappern von spanischen Sehenswürdigkeiten lässig übertrifft. Aber sie hat Prinzip, und dieses Prinzip ist unmittelbar mit Wirkung und Erfolg dieser Romanserie verknüpft.
Denn eine Sache ist es zu erkennen, wie unbeholfen dieser Roman gebaut ist. Und man braucht keine besonderen Kenntnisse der Literatur, um eine Vorstellung davon zu haben, wie wenig Dan Brown vom Schreiben versteht – jedes Mal, wenn etwas Außerordentliches passiert (und das geschieht oft), fallen den Beteiligten die Kinnladen herunter, es wimmelt von „erstaunlichen“ und „schockierenden“ Ereignissen, und wenn etwas „entsetzlich“ sein soll, ist es im nächsten Satz auch „grausig“. Nein, all diese Einwände sind geschenkt. Aber was soll man von der Intelligenz des Helden (und eines Autors) halten, der Gedanken wie diesen zustande bringt: „Langdon vermutete, dass Edmonds beinahe gespenstische Fähigkeit, richtige Prognosen zu treffen, auf sein enzyklopädisches Wissen zurückzuführen war.“ Ehrlich, und nicht vielleicht auf den übermäßigen Verzehr von Kirschkuchen oder auf eine traumatische Begegnung mit einem durchgedrehten Alien? Doch auch solche Einwände gehören zum Repertoire der Kulturkritik. Sie wirken in diesem Zusammenhang nur arrogant, und sie verfehlen ihren Gegenstand in seiner grausigen Größe.
Genug der Trommelwirbel. Wirkung und Erfolg dieser Romanserie beruhen darauf, dass das Prinzip des Sightseeing in allen seinen Elementen verwirklicht ist. Robert Langdon tut keinen Schritt, ohne nicht zugleich ein ideelles Selfie zu machen – dergestalt, dass er sich ständig überlegt, wo er ist und was er gerade wahrnimmt. Wenn er also der Sagrada Família angesichtig wird, dann sieht er nicht nur das Gebäude, sondern denkt auch, dass er diese Kirche sieht, während gleichzeitig – ob in seinem Inneren oder durch den Autor ist meist nicht zu erkennen – eine Art Wikipedia-Eintrag vorgetragen wird: „Nach seiner Fertigstellung wird der höchste Turm der Sagrada Família bis in schwindelerregende einhundertzweiundsiebzig Meter Höhe aufragen – höher als das Washington Monument –, womit sie die höchste Kirche der Welt sein wird, mehr als dreißig Meter höher als der Petersdom im Vatikan.“ Beim Wort „schwindelerregend“ mag es sich um eine schwache Erinnerung an etwas Lebendiges handeln. Der Rest indessen hat, in Form und Inhalt, ebenfalls mit Wahrnehmung und Erfahrung nichts zu tun, sondern bedient das Sightseeing, indem es der Ansicht durch das Addieren von Informationen einen leeren Schein von Bedeutsamkeit verleiht.
Sightseeing heißt deswegen nicht nur, dass es ein Sehen ohne Wahrnehmung und Erfahrung gibt, um vom Wissen gar nicht erst anzufangen. Sightseeing bedeutet vielmehr auch, dass die Ansicht die Wahrnehmung vernichtet. Wem es vor allem auf das Bild der Sagrada Família ankommt – oder darauf, dass Bild und Augenschein übereinstimmen –, der hält die Reproduktion längst für das Eigentliche und das Original für eine Erfindung. Und bei dieser Umkehrung handelt es sich um sehr viel mehr als um den Einfall eines mittelmäßigen Schriftstellers aus den Vereinigten Staaten. Sie gehört vielmehr zur Beschreibung eines Weltzustands, in der es gewöhnlich ist, jedes Ding und jedes Ereignis, auch der intellektuellen Art, nach dem ihnen potenziell innewohnenden symbolischen Wert (und das heißt vor allem: nach ihrem Sensationswert) zu beurteilen. Deswegen gleichen Dan Browns Romane – in der Spekulation auf das Sensationelle, in der Form der Darbietung in Gestalt von dramatisch hergerichteten Informationen („Daten“), in der Bindung an die kurze Frist – in die Länge gezogenen Vorträgen auf Ted-Konferenzen.
Entsprechend trostlos fallen die angeblich welterschütternden Erkenntnisse aus, die Edmond Kirsch der – ebenso angeblich – fassungslosen globalen Öffentlichkeit darbietet. Sie seien hier, entgegen den Gepflogenheiten der Literaturkritik im Umgang mit Kriminalromanen und „Thrillern“, verraten, ihrer erschütternden Trivialität wegen. „Woher kommen wir?“, hatte Edmond Kirsch zuerst gefragt. Die Antwort: „Ich hoffe sehr, wir können eines Tages beweisen, dass das Leben tatsächlich spontan aus lebloser Materie entstanden ist.“ Worauf der Professor so reagiert: „Faszinierend, überlegte Landon, eine klare wissenschaftliche Theorie“, und der Satz ist leider so wenig ironisch wie ein Loch im Kopf. Die komplementäre Frage lautete: „Wohin gehen wir?“ Na klar, in eine biologisch-technische Zukunft, in das Paradies der Ted-Konferenzen, wohin sonst? „Wir werden über Kräfte verfügen, die unsere kühnsten Träume übersteigen.“ Von solcher Art sollen die Geheimnisse sein, deretwegen Weltverschwörungen begründet und Wissenschaftler ermordet werden, während die Weltreligionen den Notstand ausrufen? Braucht es noch mehr Beweise, dass übertriebenes Sightseeing dem Verstand schlicht nicht guttut?
Was passiert, wenn das Rätsel
nicht gelöst wird? Fällt dann die
Welt in geistige Umnachtung?
„Sightseeing“ ist nicht nur der
Ausschluss von Erfahrung,
sondern auch deren Vernichtung
Sehr spanisch, sehr katalanisch, aber in der Hauptsache berühmt: Im Finale des Romans „Origin“ lässt Dan Brown seinen Helden, den Harvard-Professor Robert Langdon, den höchsten Turm der Basilika von Barcelona erklimmen.
Foto: Reuters/Albert Gea
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"Spannend von der ersten bis zur letzten Minute des Hörbuchs." Thomas Badtke, N-TV, 29.10.2017