Auf dem Monte Somma oberhalb der mondänen, niedergehenden Stadt Pompeji werden tote Vögel gefunden. Während einer Versammlung von Vogelschützern hat der Einwanderer Jowna eine Eingebung: Wenn der Vulkan grollt, soll man das Weite suchen. Ohne Schulbildung, Geld und Einfluss gelingt es ihm, sich an die Spitze einer Aussteigerbewegung zu setzen. Bald fürchtet das Stadtoberhaupt Fabius Rufus, die Vulkangerüchte könnten Pompeji schaden. Als sich sogar der frühere Sklave Polybius dafür interessiert, schaltet sich Rufus' Frau Livia ein, und Jownas Eingebung verkehrt sich in ihr Gegenteil. Das Pompeji von Eugen Ruge ist eine Erfindung, die auf historischer Wahrheit beruht: ein ferner Spiegel, in dem wir uns erstaunt wiedererkennen.
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Rezensent Wolfgang Schneider freut sich in einer ausführlichen Rezension über diese "nuancierte Gesellschaftssatire" von Eugen Ruge, die ihn nicht nur durch ihre differenzierte Figurenzeichnung überzeugt. Die Handlung ist in der Stadt Pompeji angesiedelt, einige Monate vor dem verhängnisvollen Vulkanausbruch, so der Kritiker. Die von den Römern eingenommene Stadt mutet bei Ruge sehr zeitgenössisch an, schmunzelt Schneider: Sowohl mit modernem Vokabular als auch mit zahlreichen Anspielungen auf die heutige Zeit, stellt die Geschichte eine eindeutige, aber nicht eindimensionale, Parabel auf die Aktualität dar. Protagonist Josse ist einer der wenigen, die die drohende Gefahr durch den Vulkan erkennen, lässt sich aber, verführt durch Ruhm und Reichtum, von der mächtigen Unternehmerin Livia Numistria anwerben und wirft seine Ansichten über Bord: Opportunistisch plädiert er nun für ein "Leben mit dem Vulkan". Man darf sich von dem etwas chaotisch wirkenden Beginn des Romans nicht vergraulen lassen, rät der Kritiker, denn im Laufe der Lektüre fügt sich alles zu einem harmonischen Ganzen zusammen. Mit der Schilderung einer Zeit, die zwischen Dekadenz und "Endzeitbewusstsein" changiert, ist Ruge hier ein faszinierender Roman und Spiegel der heutigen Gesellschaft gelungen, schließt Schneider.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.04.2023Asche zu
Asche
Eine selbstsüchtige Gesellschaft
auf dem Weg in ihr Verderben: Eugen Ruge hat
einen Roman über das Ende Pompejis geschrieben,
Parallelen zur Gegenwart sind reiner Zufall
VON CHRISTIAN MAYER
Mit dieser Frau sollte man sich besser nicht anlegen. Livia Numistria hat es als Besitzerin diverser Manufakturen in Pompeji zu Geld, Einfluss und einem Anwesen in Bestlage gebracht. Vor allem aber ist Livia eine Frau mit Geschmack und Bildung. Jeder Winkel ihrer mehrstöckigen Villa am Meer trägt Livias Handschrift, jedes Wandgemälde mit Szenen aus der Mythologie, jede Marmorstatue und jeder Beleuchtungskörper (das ist in diesem Fall wörtlich zu nehmen, denn für das Herunterdimmen der Lichtquellen sind natürlich die Haussklaven zuständig) dient einem Zweck: der Inszenierung ihrer Hausmacht.
Wäre da nur nicht Fabius, der einzige Störfaktor. Ihr mäßig begabter Ehemann, den sie ins höchste Amt der Stadt gehievt hat – er nervt nur noch. Doch im Zirkel der Etablierten fällt es deutlich leichter als bei armen Leuten, sich aus dem Weg zu gehen, man hat ja genug Platz und Ressourcen – weshalb beide Ehepartner stillschweigend einen Pakt geschlossen haben: Der Herr, der eigentlich nichts zu sagen hat, fährt immer am Tag nach der Magistratssitzung zur ausgedehnten Massage mit Happy End in eine Provinzstadt, die Dame des Hauses kann sich ebenfalls vergnügen. Zum Beispiel mit einem ebenso ansehnlichen wie aufstrebenden jungen Mann migrantischer Herkunft namens Josse, der gleich beim abendlichen Tête-à-Tête auf seine Meisterin treffen wird.
Doch zunächst mal wird man als Leser dieses Romans Zeuge, wie Livia sich immer neue Kleider und Geschmeide reichen lässt, bis sie endlich dem Selbstbild als mondäne Verführerin entspricht und sogar der stumme Diener mit dem Spiegel vor Erschöpfung in die Knie geht – erst jetzt steht sie bereit, den jungen Mann, der ihr mit seinen revolutionären Plänen gefährlich werden könnte, bei süßem Wein und frischen Austern auf der Speiseliege gefügig zu machen.
Als Chronist der untergehenden SED-Diktatur hat sich Eugen Ruge einen Namen gemacht, für den Familienroman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ bekam er 2011 den Deutschen Buchpreis. Zuletzt brillierte der im westsibirischen Soswa geborene Autor, der bis zu seiner Flucht in den Westen als Mathematiker und Erdbebenforscher an der Akademie der Wissenschaften der DDR arbeitete, mit „Metropol“, einem Buch, das vom stalinistischen Terror in der Sowjetunion erzählt. Nun hat Ruge mit „Pompeji oder die fünf Reden des Jowna“ einen Roman geschrieben, der 79 nach Christus spielt, aber verblüffend gegenwärtig wirkt, wenn auch gelegentlich etwas bemüht gegenwärtig.
Die Parallelen werden jedenfalls unübersehbar gemacht: In Ruges Pompeji steuert eine selbstsüchtige Gesellschaft auf ihr Verderben zu. Nur wenige Hellsichtige erkennen die Gefahr, weil sie die Vorzeichen der Katastrophe richtig zu deuten wissen. Doch sie werden, natürlich, nicht ernst genommen oder erliegen der Versuchung der Macht.
Ruge zeichnet ein wenig schmeichelhaftes, aber treffendes Bild der frühen Kaiserzeit. Großkapitalisten, Demagogen, hohe Militärs und Glücksritter bilden ein Kartell, das den lokalen Machterhalt sichert, und täuschen die Öffentlichkeit mit gezielten Fake News, bis zum bekannten Ende – Asche zu Asche. Wobei auch der Unterschied zum 21. Jahrhundert offensichtlich ist: Die Katastrophe ist nicht menschengemacht, sondern ein für die Zeitgenossen vollkommen überraschendes Naturereignis. Ein Drama aus heiterem Himmel.
Die Geschichte der letzten Tage von Pompeji ist schon oft erzählt worden, in erfolgreichen Bestsellern wie dem von Robert Harris, in Filmen und populären Sachbüchern – „Vom Zauber des Untergangs“ heißt etwa das neueste Werk des deutsch-italienischen Archäologen Gabriel Zuchtriegel, seit 2021 Direktor des Weltkulturerbes Pompeji. Der Magie der Ausgrabungsstätten am Golf von Neapel kann man sich eben nur schwer entziehen, wovon der anhaltende Strom der Untergangstouristen zeugt. Pompeji und der Vesuv, das ist eben nicht die entrückte Antike, wie man sie aus dem Museum kennt, sondern ein lebenspraller Ort, der immer neue Überraschungen ans Tageslicht befördert.
Eugen Ruge hat sich für seine Geschichte einen Helden von der Straße ausgesucht. Josephus alias Josse ist der Sohn eines armen Metzgers, der aus dem nordöstlichen Grenzland Pannonien nach Kampanien gezogen ist. Einer der vielen Arbeitsmigranten im Römischen Reich, die Teil der römischen Leitkultur werden wollen. Als der Vater stirbt, führt der Sohn das Leben eines Herumtreibers, bis er eines Tages ein Gerücht hört: Ähnlich wie beim Ätna auf Sizilien gebe es in der fruchtbaren Landschaft rund um das Somma-Gebirge nördlich von Pompeji einige Merkwürdigkeiten. Jede Menge toter Vögel, Wildschweine, sogar Wanderer, die kerngesund aufbrechen und ohne Einwirkung von Gewalt ein jähes Ende finden.
Lebt man in Pompeji in der Nähe eines Vulkans? Sind das giftige Dämpfe, Anzeichen einer tödlichen Gefahr, die aus dem Inneren des Berges kommt? Josse hält die Hinweise für überzeugend, und weil er ein gewinnendes Wesen und rhetorisches Talent hat, steigt er zum Wortführer einer neuen Bewegung auf, die sich aus zivilisationsmüden Pythagoreern und streitlustigen Kapitalismuskritikern zusammensetzt. Der Vulkanverein ist geboren, ein Zusammenschluss ebenso idealistischer wie rechthaberischer Einzelgruppen, man wähnt sich als Leser fast schon bei den bundesrepublikanischen Grünen in ihrer anarchischen Anfangszeit.
Die Stadt Pompeji, die noch unter den Folgen eines Erdbebens zu leiden hat, gilt den radikalen Kräften nun als Auslaufmodell – Josses Anhänger wollen in sicherer Entfernung eine neue Siedlung am Meer gründen. Was wiederum das Establishment auf den Plan ruft, das an sinkenden Immobilienpreisen und einer möglichen Massenpanik kein Interesse haben kann. Und so kommt es, dass ausgerechnet Josse eine Kehrtwende macht und das Lager wechselt: „Realismus ist immer, wenn ihr so wollt, Verrat am Traum. So ist die Welt“, lautet seine Begründung.
Ruge ist immer dann am besten, wenn er sich nahe an der Gesellschaftssatire bewegt. Etwa als Josse und seine Gönnerin Livia dem Präfekten der römischen Flotte, Plinius dem Älteren, einen Besuch abstatten, der mit seiner 37 Bücher umfassenden Naturgeschichte das Wissen der damaligen Welt zusammenfasste.
Was aber kann man von einem alten, weisen, eitlen und schwerhörigen Mann erwarten, der in seine Schriftrollen verliebt ist, außer einem gelehrten Wortschwall? Nicht mal der legendärste Forscher seiner Zeit hat eine Ahnung von der realen Bedrohung, er kennt sich zwar aus in der Theorie des Vulkanismus, aber das ist Buchwissen – bald wird er, angelockt vom außergewöhnlichen Naturdrama, zum berühmtesten Zeitzeugen der Eruption werden.
Komödiantischer Höhepunkt ist jedoch das Opferfest für Vulcanus auf dem Forum von Pompeji, um den Gott mit dem glutheißen Temperament milde zu stimmen, eine als religiöser Akt getarnte PR-Aktion – dafür braucht man natürlich eine stattliche Anzahl angeblicher Jungfrauen und den passenden Priester, der aus den Eingeweiden des Stiers die richtigen Schlüsse zieht. Das alte Rom, wo man immer Wert auf den schönen Schein legte, hat sicher viele Scharlatane hervorgebracht. Dieser Lucretius ist einer der schillerndsten.
„Pompeji“ ist ein etwas sprunghafter, aber sehr kurzweiliger Roman, in dem außer Plinius noch andere reale historische Figuren auftreten – etwa Julia Felix, eine vermögende Immobilienbesitzerin, die ganze Wohnanlagen inklusive luxuriöser Gartenanlagen gewinnbringend vermietete und deren prachtvolles Haus heute noch in Pompeji zu besichtigen ist. Es ist ein Buch, das eher erheitert als erschüttert. Nach der Lektüre möchte man gerne noch tiefer in diese antike Welt eintauchen und alles erfahren über eine Stadt, die einfach in einer Wolke aus heißer Asche und einem Strom aus Lava verschwand. Was dazu führte, dass dieser Ort unsterblich ist.
Ein Kartell aus Demagogen,
Militärs und Glücksrittern
täuscht die Öffentlichkeit
Nach der Lektüre möchte
man gerne noch tiefer in diese
antike Welt eintauchen
Eugen Ruge: Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna. Roman. dtv, München 2023. 368 Seiten, 25 Euro.
Ruge zeichnet im Roman ein wenig schmeichelhaftes Bild der Kaiserzeit: Wandmalerei aus Pompeji.
Foto: Marco Einfeldt
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Asche
Eine selbstsüchtige Gesellschaft
auf dem Weg in ihr Verderben: Eugen Ruge hat
einen Roman über das Ende Pompejis geschrieben,
Parallelen zur Gegenwart sind reiner Zufall
VON CHRISTIAN MAYER
Mit dieser Frau sollte man sich besser nicht anlegen. Livia Numistria hat es als Besitzerin diverser Manufakturen in Pompeji zu Geld, Einfluss und einem Anwesen in Bestlage gebracht. Vor allem aber ist Livia eine Frau mit Geschmack und Bildung. Jeder Winkel ihrer mehrstöckigen Villa am Meer trägt Livias Handschrift, jedes Wandgemälde mit Szenen aus der Mythologie, jede Marmorstatue und jeder Beleuchtungskörper (das ist in diesem Fall wörtlich zu nehmen, denn für das Herunterdimmen der Lichtquellen sind natürlich die Haussklaven zuständig) dient einem Zweck: der Inszenierung ihrer Hausmacht.
Wäre da nur nicht Fabius, der einzige Störfaktor. Ihr mäßig begabter Ehemann, den sie ins höchste Amt der Stadt gehievt hat – er nervt nur noch. Doch im Zirkel der Etablierten fällt es deutlich leichter als bei armen Leuten, sich aus dem Weg zu gehen, man hat ja genug Platz und Ressourcen – weshalb beide Ehepartner stillschweigend einen Pakt geschlossen haben: Der Herr, der eigentlich nichts zu sagen hat, fährt immer am Tag nach der Magistratssitzung zur ausgedehnten Massage mit Happy End in eine Provinzstadt, die Dame des Hauses kann sich ebenfalls vergnügen. Zum Beispiel mit einem ebenso ansehnlichen wie aufstrebenden jungen Mann migrantischer Herkunft namens Josse, der gleich beim abendlichen Tête-à-Tête auf seine Meisterin treffen wird.
Doch zunächst mal wird man als Leser dieses Romans Zeuge, wie Livia sich immer neue Kleider und Geschmeide reichen lässt, bis sie endlich dem Selbstbild als mondäne Verführerin entspricht und sogar der stumme Diener mit dem Spiegel vor Erschöpfung in die Knie geht – erst jetzt steht sie bereit, den jungen Mann, der ihr mit seinen revolutionären Plänen gefährlich werden könnte, bei süßem Wein und frischen Austern auf der Speiseliege gefügig zu machen.
Als Chronist der untergehenden SED-Diktatur hat sich Eugen Ruge einen Namen gemacht, für den Familienroman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ bekam er 2011 den Deutschen Buchpreis. Zuletzt brillierte der im westsibirischen Soswa geborene Autor, der bis zu seiner Flucht in den Westen als Mathematiker und Erdbebenforscher an der Akademie der Wissenschaften der DDR arbeitete, mit „Metropol“, einem Buch, das vom stalinistischen Terror in der Sowjetunion erzählt. Nun hat Ruge mit „Pompeji oder die fünf Reden des Jowna“ einen Roman geschrieben, der 79 nach Christus spielt, aber verblüffend gegenwärtig wirkt, wenn auch gelegentlich etwas bemüht gegenwärtig.
Die Parallelen werden jedenfalls unübersehbar gemacht: In Ruges Pompeji steuert eine selbstsüchtige Gesellschaft auf ihr Verderben zu. Nur wenige Hellsichtige erkennen die Gefahr, weil sie die Vorzeichen der Katastrophe richtig zu deuten wissen. Doch sie werden, natürlich, nicht ernst genommen oder erliegen der Versuchung der Macht.
Ruge zeichnet ein wenig schmeichelhaftes, aber treffendes Bild der frühen Kaiserzeit. Großkapitalisten, Demagogen, hohe Militärs und Glücksritter bilden ein Kartell, das den lokalen Machterhalt sichert, und täuschen die Öffentlichkeit mit gezielten Fake News, bis zum bekannten Ende – Asche zu Asche. Wobei auch der Unterschied zum 21. Jahrhundert offensichtlich ist: Die Katastrophe ist nicht menschengemacht, sondern ein für die Zeitgenossen vollkommen überraschendes Naturereignis. Ein Drama aus heiterem Himmel.
Die Geschichte der letzten Tage von Pompeji ist schon oft erzählt worden, in erfolgreichen Bestsellern wie dem von Robert Harris, in Filmen und populären Sachbüchern – „Vom Zauber des Untergangs“ heißt etwa das neueste Werk des deutsch-italienischen Archäologen Gabriel Zuchtriegel, seit 2021 Direktor des Weltkulturerbes Pompeji. Der Magie der Ausgrabungsstätten am Golf von Neapel kann man sich eben nur schwer entziehen, wovon der anhaltende Strom der Untergangstouristen zeugt. Pompeji und der Vesuv, das ist eben nicht die entrückte Antike, wie man sie aus dem Museum kennt, sondern ein lebenspraller Ort, der immer neue Überraschungen ans Tageslicht befördert.
Eugen Ruge hat sich für seine Geschichte einen Helden von der Straße ausgesucht. Josephus alias Josse ist der Sohn eines armen Metzgers, der aus dem nordöstlichen Grenzland Pannonien nach Kampanien gezogen ist. Einer der vielen Arbeitsmigranten im Römischen Reich, die Teil der römischen Leitkultur werden wollen. Als der Vater stirbt, führt der Sohn das Leben eines Herumtreibers, bis er eines Tages ein Gerücht hört: Ähnlich wie beim Ätna auf Sizilien gebe es in der fruchtbaren Landschaft rund um das Somma-Gebirge nördlich von Pompeji einige Merkwürdigkeiten. Jede Menge toter Vögel, Wildschweine, sogar Wanderer, die kerngesund aufbrechen und ohne Einwirkung von Gewalt ein jähes Ende finden.
Lebt man in Pompeji in der Nähe eines Vulkans? Sind das giftige Dämpfe, Anzeichen einer tödlichen Gefahr, die aus dem Inneren des Berges kommt? Josse hält die Hinweise für überzeugend, und weil er ein gewinnendes Wesen und rhetorisches Talent hat, steigt er zum Wortführer einer neuen Bewegung auf, die sich aus zivilisationsmüden Pythagoreern und streitlustigen Kapitalismuskritikern zusammensetzt. Der Vulkanverein ist geboren, ein Zusammenschluss ebenso idealistischer wie rechthaberischer Einzelgruppen, man wähnt sich als Leser fast schon bei den bundesrepublikanischen Grünen in ihrer anarchischen Anfangszeit.
Die Stadt Pompeji, die noch unter den Folgen eines Erdbebens zu leiden hat, gilt den radikalen Kräften nun als Auslaufmodell – Josses Anhänger wollen in sicherer Entfernung eine neue Siedlung am Meer gründen. Was wiederum das Establishment auf den Plan ruft, das an sinkenden Immobilienpreisen und einer möglichen Massenpanik kein Interesse haben kann. Und so kommt es, dass ausgerechnet Josse eine Kehrtwende macht und das Lager wechselt: „Realismus ist immer, wenn ihr so wollt, Verrat am Traum. So ist die Welt“, lautet seine Begründung.
Ruge ist immer dann am besten, wenn er sich nahe an der Gesellschaftssatire bewegt. Etwa als Josse und seine Gönnerin Livia dem Präfekten der römischen Flotte, Plinius dem Älteren, einen Besuch abstatten, der mit seiner 37 Bücher umfassenden Naturgeschichte das Wissen der damaligen Welt zusammenfasste.
Was aber kann man von einem alten, weisen, eitlen und schwerhörigen Mann erwarten, der in seine Schriftrollen verliebt ist, außer einem gelehrten Wortschwall? Nicht mal der legendärste Forscher seiner Zeit hat eine Ahnung von der realen Bedrohung, er kennt sich zwar aus in der Theorie des Vulkanismus, aber das ist Buchwissen – bald wird er, angelockt vom außergewöhnlichen Naturdrama, zum berühmtesten Zeitzeugen der Eruption werden.
Komödiantischer Höhepunkt ist jedoch das Opferfest für Vulcanus auf dem Forum von Pompeji, um den Gott mit dem glutheißen Temperament milde zu stimmen, eine als religiöser Akt getarnte PR-Aktion – dafür braucht man natürlich eine stattliche Anzahl angeblicher Jungfrauen und den passenden Priester, der aus den Eingeweiden des Stiers die richtigen Schlüsse zieht. Das alte Rom, wo man immer Wert auf den schönen Schein legte, hat sicher viele Scharlatane hervorgebracht. Dieser Lucretius ist einer der schillerndsten.
„Pompeji“ ist ein etwas sprunghafter, aber sehr kurzweiliger Roman, in dem außer Plinius noch andere reale historische Figuren auftreten – etwa Julia Felix, eine vermögende Immobilienbesitzerin, die ganze Wohnanlagen inklusive luxuriöser Gartenanlagen gewinnbringend vermietete und deren prachtvolles Haus heute noch in Pompeji zu besichtigen ist. Es ist ein Buch, das eher erheitert als erschüttert. Nach der Lektüre möchte man gerne noch tiefer in diese antike Welt eintauchen und alles erfahren über eine Stadt, die einfach in einer Wolke aus heißer Asche und einem Strom aus Lava verschwand. Was dazu führte, dass dieser Ort unsterblich ist.
Ein Kartell aus Demagogen,
Militärs und Glücksrittern
täuscht die Öffentlichkeit
Nach der Lektüre möchte
man gerne noch tiefer in diese
antike Welt eintauchen
Eugen Ruge: Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna. Roman. dtv, München 2023. 368 Seiten, 25 Euro.
Ruge zeichnet im Roman ein wenig schmeichelhaftes Bild der Kaiserzeit: Wandmalerei aus Pompeji.
Foto: Marco Einfeldt
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.04.2023Früher begann der Tag mit einem Bimssteinschlag
Ein Klimpern mit historischen Schlüsseln: Eugen Ruges Roman "Pompeji" taucht in die Welt der römischen Antike ein.
Von Andreas Kilb
Ein Schlüsselroman ist eine Freude, wenn man das Schloss kennt, in das er passt. Sonst hält sich das Erfreuliche in Grenzen. Denn mit jeder Seite, die man liest, wächst die Gewissheit, dass einem bei der Lektüre etwas Wichtiges entgeht. Am Ende hat man wie in Platons Höhle nur die Schatten der Dinge und Menschen wahrgenommen, von denen das Buch handelt, ihre Hohlformen, nicht ihre wahre Gestalt.
Am Fuß einer Treppe im dreistöckigen Haus des Fabius Rufus in Pompeji, einem der größten Wohnkomplexe der antiken Ruinenstadt, liegt die mit Gips ausgegossene Hohlform eines Toten. Der Mann könnte versucht haben, auf das Dach des Gebäudes zu entkommen, als ihn der pyroklastische Strom erfasste, der am zweiten Tag des Vesuvausbruchs im Jahr 79 nach Christus über die Stadt raste. Sein Körper ruht in der Haltung eines Schlafenden auf den Stufen zum Obergeschoss, und so, als Schlafender, muss er auch dem Schriftsteller Eugen Ruge erschienen sein, denn Ruge hat ihn mit seinem neuen Buch zum Leben erweckt.
Bei Eugen Ruge heißt der Mann Josse alias Josephus alias Jowna, und er stammt aus der Unterschicht des Volkes, das vom Magistrat der römischen Landstadt Colonia Cornelia Veneria alias Pompeji unter Führung des Großgrundbesitzers Fabius Rufus regiert wird. Die sozialen Verhältnisse in dem Städtchen, das sich noch von einem Erdbeben im Jahr 62 erholt, sind stabil, nur im Vogelschutzverein, der sich regelmäßig in einer alten Schmiede trifft, sammeln sich versprengte Oppositionelle - Pythagoreer, Epikureer, Kyniker, Sophisten und ein paar Radikalplatoniker, die übliche Mischung der frühen Kaiserzeit.
Aber auch dieser Debattierklub wäre nicht imstande, die Ruhe im Schatten des Vesuvs nachhaltig zu erschüttern, wenn ihn Ruges Held auf der Suche nach Unterhaltung nicht ausgerechnet in dem Augenblick besuchte, als ein aus Sizilien angereister Geologe die Ergebnisse seiner Untersuchung der Todesursache zweier Vogelschützer vorstellt, die vor Kurzem bei einer Erkundungstour in Hanglage erstickt sind. Als Josse erfährt, dass seine Heimatstadt unter einem Vulkan liegt, macht er einen Vorschlag, der die Versammlung aufmischt und die Handlung des Romans in Gang bringt: Wenn der Berg sich nicht bewege, dann, so der Mann aus dem Volk, müsse es eben die Stadt tun.
Von hier aus verzweigt sich der Faden des Geschehens in zwei Hauptrichtungen. Die eine führt zum "Fenster des Meeres", einer Bucht an der Felsenküste, in der die Vereinsmitglieder alsbald erproben, wie eine Neugründung der Stadt in Form einer Landkommune aussehen könnte. Die andere weist zurück nach Pompeji, wo das alteingesessene oder zugewanderte Establishment dem basisdemokratischen Experiment vor seinen Toren nicht tatenlos zuschauen will. Und weil Josse nicht nur ein Fremdling in beiden Welten, sondern auch ein Jüngling in der Blüte seiner Jahre ist, verknüpfen sich seine Erfahrungen in der großbürgerlichen wie der außerbürgerlichen Sphäre immer auch mit erotischen Abenteuern, sei es mit der jungen Skythin Ascula, die ihn am Strand verführt, sei es mit der nach Rosenwasser duftenden Aristokratin Livia Numistria, der Ehefrau des erwähnten Fabius Rufus, die mit Josse den zweiten Frühling eines sexuell unterversorgten Matronendaseins erlebt.
Es ist an diesem Punkt etwa in der Mitte des Buches, dass den Leser der Verdacht beschleicht, die Geschehnisse in "Pompeji" könnten eine zweite, versteckte Bedeutung haben - etwa so, wie in Christa Wolfs "Kein Ort. Nirgends" die erstickende Realität der späten DDR oder im "Treffen in Telgte" von Günter Grass die geistige Gemengelage der frühen Bundesrepublik zu Wort kommt. Das liegt weniger an Ruges ausgefeilten, vor Ort recherchierten Schilderungen pompejischer Stadtpaläste (das Haus des Bauunternehmers Polybius, dem er sich ausführlich widmet, kann man heute noch besichtigen) als an der Mühe, die er sich mit der Beschreibung selbst von Nebenfiguren gibt. Der Epikureer Diablo etwa, Josses Rivale bei Ascula, wirkt "bärenhaft mit seinem mächtigen Zottelkopf" und "verwilderten Bart", zugleich aber "in seinen Bewegungen zart, beinahe weiblich", während der verarmte Kleinadlige Maras, der die Kommune am Meeresufer anführt, ein "Strichmännchen" mit großem Kopf und dünnen Beinen, dabei gleichfalls "zart, beinahe zerbrechlich" und mit Augen "von tiefem, traurigem Braun" gesegnet ist. In der Skizze der unglücklichen Ascula wird diese Stricheltechnik zur ätzenden Karikatur: "Ihre Sonnenbräune war fleckig, sie hatte zu kurze Ohrläppchen, eine zu spitze Nase, ihre Schultern waren zu männlich, und ihr Hintern tendierte zur Birnenform." Könnte es sein, dass diese Prosa-Pastiches ebenso wie die revolutionären Floskeln, die ihnen Ruge in den Mund legt, verzerrte Abbilder realer Vorbilder sind?
Doch das Buch lässt den Leser mit dieser Frage allein. Es stellt die Parabel, die in allen Pompeji-Erzählungen steckt, weder aktualisierend scharf, noch bettet es sie historistisch ein wie die Romane von Bulwer-Lytton und Robert Harris. Stattdessen folgt es einem Kurs, der einer ausgedehnten Besichtigungstour mit finalem Knalleffekt gleicht. Josse lässt sich also von der städtischen Elite bestechen und flaniert dabei durch deren Villen, gründet dann einen Vulkan-Verein mit eigenem Kult, sodass wir auch die örtliche Priesterschaft in Gestalt des Auguren Lucretius kennenlernen, und landet schließlich als Magistratskandidat auf dem Forum, während Schwefelgeruch die Katastrophe ankündigt. Zwischendurch haben wir auch den unvermeidlichen Plinius in seinem Hauptquartier in Misenum getroffen, wo er ganze Absätze aus seiner Naturgeschichte zitiert, und noch der Untergang der Stadt im Bimssteinregen ist mit einem Lukrez-Zitat über die Vergänglichkeit des Weltenrunds garniert. So bleibt der Abstand zur Trivialliteratur gewahrt.
Aber auch, leider, der zu den großen Romanciers. Denn was der Autor Ruge uns nicht gibt, ist ein Grund, uns tiefer einzulassen auf diese an ihrer Oberfläche so liebevoll ausgepinselte Geschichte. Die Sprache, in die er sie kleidet, klingt modern ("römischer Imperialismus", "emanzipatorischer Anspruch der Frauen", "falsches Bewusstsein"), aber die Haltung dahinter ist es nicht. Die epische Ironie, nach der die vielen augenzwinkernden Ansprachen des Erzählers an seine Leser tasten ("wir wissen, dass . . . "), war bei Thomas Mann ein Erkenntnismittel; hier ist sie nur noch ein Mittel. Deshalb hat es keinen Sinn, in den Umwälzungen der Gegenwart nach einem Phänomen zu suchen, das im Spiegel von Ruges "Pompeji" klarer sichtbar wird. Dieses Bild schließt nichts auf, es klimpert nur mit seinen historischen Schlüsseln. Das war in Eugen Ruges früheren Geschichtsromanen anders.
Eugen Ruge: "Pompeji". Roman.
Dtv, München 2023.
364 S,. geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Klimpern mit historischen Schlüsseln: Eugen Ruges Roman "Pompeji" taucht in die Welt der römischen Antike ein.
Von Andreas Kilb
Ein Schlüsselroman ist eine Freude, wenn man das Schloss kennt, in das er passt. Sonst hält sich das Erfreuliche in Grenzen. Denn mit jeder Seite, die man liest, wächst die Gewissheit, dass einem bei der Lektüre etwas Wichtiges entgeht. Am Ende hat man wie in Platons Höhle nur die Schatten der Dinge und Menschen wahrgenommen, von denen das Buch handelt, ihre Hohlformen, nicht ihre wahre Gestalt.
Am Fuß einer Treppe im dreistöckigen Haus des Fabius Rufus in Pompeji, einem der größten Wohnkomplexe der antiken Ruinenstadt, liegt die mit Gips ausgegossene Hohlform eines Toten. Der Mann könnte versucht haben, auf das Dach des Gebäudes zu entkommen, als ihn der pyroklastische Strom erfasste, der am zweiten Tag des Vesuvausbruchs im Jahr 79 nach Christus über die Stadt raste. Sein Körper ruht in der Haltung eines Schlafenden auf den Stufen zum Obergeschoss, und so, als Schlafender, muss er auch dem Schriftsteller Eugen Ruge erschienen sein, denn Ruge hat ihn mit seinem neuen Buch zum Leben erweckt.
Bei Eugen Ruge heißt der Mann Josse alias Josephus alias Jowna, und er stammt aus der Unterschicht des Volkes, das vom Magistrat der römischen Landstadt Colonia Cornelia Veneria alias Pompeji unter Führung des Großgrundbesitzers Fabius Rufus regiert wird. Die sozialen Verhältnisse in dem Städtchen, das sich noch von einem Erdbeben im Jahr 62 erholt, sind stabil, nur im Vogelschutzverein, der sich regelmäßig in einer alten Schmiede trifft, sammeln sich versprengte Oppositionelle - Pythagoreer, Epikureer, Kyniker, Sophisten und ein paar Radikalplatoniker, die übliche Mischung der frühen Kaiserzeit.
Aber auch dieser Debattierklub wäre nicht imstande, die Ruhe im Schatten des Vesuvs nachhaltig zu erschüttern, wenn ihn Ruges Held auf der Suche nach Unterhaltung nicht ausgerechnet in dem Augenblick besuchte, als ein aus Sizilien angereister Geologe die Ergebnisse seiner Untersuchung der Todesursache zweier Vogelschützer vorstellt, die vor Kurzem bei einer Erkundungstour in Hanglage erstickt sind. Als Josse erfährt, dass seine Heimatstadt unter einem Vulkan liegt, macht er einen Vorschlag, der die Versammlung aufmischt und die Handlung des Romans in Gang bringt: Wenn der Berg sich nicht bewege, dann, so der Mann aus dem Volk, müsse es eben die Stadt tun.
Von hier aus verzweigt sich der Faden des Geschehens in zwei Hauptrichtungen. Die eine führt zum "Fenster des Meeres", einer Bucht an der Felsenküste, in der die Vereinsmitglieder alsbald erproben, wie eine Neugründung der Stadt in Form einer Landkommune aussehen könnte. Die andere weist zurück nach Pompeji, wo das alteingesessene oder zugewanderte Establishment dem basisdemokratischen Experiment vor seinen Toren nicht tatenlos zuschauen will. Und weil Josse nicht nur ein Fremdling in beiden Welten, sondern auch ein Jüngling in der Blüte seiner Jahre ist, verknüpfen sich seine Erfahrungen in der großbürgerlichen wie der außerbürgerlichen Sphäre immer auch mit erotischen Abenteuern, sei es mit der jungen Skythin Ascula, die ihn am Strand verführt, sei es mit der nach Rosenwasser duftenden Aristokratin Livia Numistria, der Ehefrau des erwähnten Fabius Rufus, die mit Josse den zweiten Frühling eines sexuell unterversorgten Matronendaseins erlebt.
Es ist an diesem Punkt etwa in der Mitte des Buches, dass den Leser der Verdacht beschleicht, die Geschehnisse in "Pompeji" könnten eine zweite, versteckte Bedeutung haben - etwa so, wie in Christa Wolfs "Kein Ort. Nirgends" die erstickende Realität der späten DDR oder im "Treffen in Telgte" von Günter Grass die geistige Gemengelage der frühen Bundesrepublik zu Wort kommt. Das liegt weniger an Ruges ausgefeilten, vor Ort recherchierten Schilderungen pompejischer Stadtpaläste (das Haus des Bauunternehmers Polybius, dem er sich ausführlich widmet, kann man heute noch besichtigen) als an der Mühe, die er sich mit der Beschreibung selbst von Nebenfiguren gibt. Der Epikureer Diablo etwa, Josses Rivale bei Ascula, wirkt "bärenhaft mit seinem mächtigen Zottelkopf" und "verwilderten Bart", zugleich aber "in seinen Bewegungen zart, beinahe weiblich", während der verarmte Kleinadlige Maras, der die Kommune am Meeresufer anführt, ein "Strichmännchen" mit großem Kopf und dünnen Beinen, dabei gleichfalls "zart, beinahe zerbrechlich" und mit Augen "von tiefem, traurigem Braun" gesegnet ist. In der Skizze der unglücklichen Ascula wird diese Stricheltechnik zur ätzenden Karikatur: "Ihre Sonnenbräune war fleckig, sie hatte zu kurze Ohrläppchen, eine zu spitze Nase, ihre Schultern waren zu männlich, und ihr Hintern tendierte zur Birnenform." Könnte es sein, dass diese Prosa-Pastiches ebenso wie die revolutionären Floskeln, die ihnen Ruge in den Mund legt, verzerrte Abbilder realer Vorbilder sind?
Doch das Buch lässt den Leser mit dieser Frage allein. Es stellt die Parabel, die in allen Pompeji-Erzählungen steckt, weder aktualisierend scharf, noch bettet es sie historistisch ein wie die Romane von Bulwer-Lytton und Robert Harris. Stattdessen folgt es einem Kurs, der einer ausgedehnten Besichtigungstour mit finalem Knalleffekt gleicht. Josse lässt sich also von der städtischen Elite bestechen und flaniert dabei durch deren Villen, gründet dann einen Vulkan-Verein mit eigenem Kult, sodass wir auch die örtliche Priesterschaft in Gestalt des Auguren Lucretius kennenlernen, und landet schließlich als Magistratskandidat auf dem Forum, während Schwefelgeruch die Katastrophe ankündigt. Zwischendurch haben wir auch den unvermeidlichen Plinius in seinem Hauptquartier in Misenum getroffen, wo er ganze Absätze aus seiner Naturgeschichte zitiert, und noch der Untergang der Stadt im Bimssteinregen ist mit einem Lukrez-Zitat über die Vergänglichkeit des Weltenrunds garniert. So bleibt der Abstand zur Trivialliteratur gewahrt.
Aber auch, leider, der zu den großen Romanciers. Denn was der Autor Ruge uns nicht gibt, ist ein Grund, uns tiefer einzulassen auf diese an ihrer Oberfläche so liebevoll ausgepinselte Geschichte. Die Sprache, in die er sie kleidet, klingt modern ("römischer Imperialismus", "emanzipatorischer Anspruch der Frauen", "falsches Bewusstsein"), aber die Haltung dahinter ist es nicht. Die epische Ironie, nach der die vielen augenzwinkernden Ansprachen des Erzählers an seine Leser tasten ("wir wissen, dass . . . "), war bei Thomas Mann ein Erkenntnismittel; hier ist sie nur noch ein Mittel. Deshalb hat es keinen Sinn, in den Umwälzungen der Gegenwart nach einem Phänomen zu suchen, das im Spiegel von Ruges "Pompeji" klarer sichtbar wird. Dieses Bild schließt nichts auf, es klimpert nur mit seinen historischen Schlüsseln. Das war in Eugen Ruges früheren Geschichtsromanen anders.
Eugen Ruge: "Pompeji". Roman.
Dtv, München 2023.
364 S,. geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine wunderbare Hauptfigur, eine ebenso abgründige wie komische Aufsteigergeschichte, ein eminent kluger Roman. Thea Dorn ZDF, Das Literarische Quartett 20230505
»Ulrich Noethen verleiht dieser Geschichte mit seiner Stimme große Eleganz!« Alex Dengler denglers-buchkritik.de 20230605