Lionel Kupfer, allseits umschwärmter Filmstar der frühen Dreißigerjahre, ist nach Sils Maria gereist, um sich auf seine nächste Rolle vorzubereiten. Doch die Ereignisse in Deutschland überschlagen sich. Kupfer ist als Jude nicht mehr erwünscht, der Vertrag für seinen nächsten Film wird aufgelöst. Die schlechte Nachricht überbringt ihm ausgerechnet sein Liebhaber Eduard, dessen gefährliche Nähe zu den neuen Machthabern immer offenkundiger wird. Lionel Kupfer ist gezwungen zu emigrieren. Doch muss er nicht nur Eduard verlassen, sondern auch einen jungen Schweizer Postbeamten namens Walter, der sich ins Hotel eingeschmuggelt hat, in der Hoffnung, dem von ihm verehrten Filmstar leibhaftig zu begegnen. Er kommt ihm dabei näher, als er je zu hoffen wagte. Wir folgen nicht nur Lionel ins Exil nach New York, wo er als Schauspieler nicht richtig Fuß fassen kann, sondern auch dem zwielichtigen Kunsthändler Eduard und dem jungen Postbeamten aus Sils. Innerhalb von fünfzig Jahren begegnen wir Menschen unterschiedlicher Herkunft, deren Wege sich kreuzen, die sich manchmal für wenige Tage sehr nahekommen, um dann wieder auseinandergerissen zu werden. Doch obwohl sie sich aus den Augen verlieren, vergessen sie einander nicht.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2015Die dunklen Wolken von Sils Maria
Alain Claude Sulzers Künstlerroman "Postskriptum" verdichtet eine homoerotische Begegnung im Jahr 1933 zu einem kühlen Epochenbuch.
Von Rose-Maria Gropp
Der Prolog spielt am "Meer der Wiener" im Sommer 1894, und gemeint ist der Neusiedler See. Die Familie Kupfer verbringt dort ihre Sommerfrische, mit den Söhnen Tobias und Lion. Tobias ist der ältere, der beherztere der beiden Knaben, er führt die Gruppe der Jungen aus anderen Familien bei ihren ausgedehnten Streifzügen um den großen See an: "Tobias war der beste Kamerad, den ein Junge sich wünschen konnte. Treu bis in den Tod, genau so wie sie bei ihren Spielen sagten, wenn sie zwei Finger in die Höhe hielten und schworen. Wir hätten ihn auch Siegfried nennen können, sagte der Vater, und die Mutter lachte." Die Mutter liebt Tobias am meisten. Lion ist anders, und zwar "sanftmütig mit einer Neigung zur Ungeduld, wenn die Dinge nicht liefen, wie er wollte. Eine Ungeduld sich selbst gegenüber, bei anderen aber blieb er ruhig." Dabei ist er ein fröhliches, etwas unnahbares Kind von grade sechs Jahren. Er bleibt für sich, er zeichnet und trägt die Utensilien dafür stets bei sich.
Da geschieht das Furchtbarste überhaupt. Die Mutter ruft nach Tobias, er antwortet nicht. Lion rennt, einer Ahnung folgend, an das Ufer des sturmgepeitschten Sees. Dort sieht er, was er nicht hätte sehen dürfen. Er sieht den toten Bruder in den Armen seines Vaters. Dann sieht er die Mutter - "Steh auf, das ist kein Scherz, damit scherzt man nicht", hört er sie noch sagen - zusammenbrechen.
Die Exposition von Alain Claude Sulzers neuem Roman "Postskriptum" liest sich wie die Ouvertüre zur Lebensgeschichte des Lionel Kupfer. Die zentralen Motive klingen an, die das Buch dann filigran kunstreich verknüpft, auf mehreren Ebenen von Zeit und Raum verschränkt, bis in die sechziger Jahre hinein. Lionel wird ein umschwärmter deutscher Filmstar mit rumänischen Wurzeln sein, bis der Nationalsozialismus über Deutschland und Österreich kommt; damit geraten auch Kupfers Karriere und sein Leben aus dem Gleis. Denn tatsächlich ist er als Kind jüdischer Eltern in Lemberg geboren, die mit ihren Söhnen nach Wien ziehen, wo Lionel getauft wird und aufwächst. Die Nationalsozialisten streichen ihn von den Besetzungslisten, er wird vor ihnen nach New York fliehen.
Doch das erste Kapitel ist noch "Januar 1933" überschrieben, es spielt in der Schweiz, in Sils Maria. Dort ist der Schauspieler auf dem Höhepunkt der Publikumsgunst im "Waldhaus" abgestiegen, dem schon damals berühmten Hotel, um sich von seinen anstrengenden Dreharbeiten zu erholen, die ihn etwa "Im Bann der Mumie" nach Afrika geführt hatten oder nach Indien für "Die Frau des Maharadschas". Sulzer lässt seine geschliffene Ironie in solchen Momenten wie diesen zeittypischen Filmtiteln aufblitzen, wie er auch immer wieder reale Personen in sein Erzählen einschmuggelt. Lionel Kupfer ist damals der Liebhaber schlechthin im Schwarzweißfilm, der jeden in seinen Bann zieht. Besonders aber hat er Walter Staufer bezaubert, der im Postamt von Sils Maria am Schalter sitzt und den sein Beruf also nie hinauf zum Waldhaus bringt. Walter kommt aus kleinsten Verhältnissen in der Schweiz, er ist das uneheliche Kind seiner Mutter Theres, die nie schreiben und lesen gelernt hat. Als Theres, um ihrem Sohn nah zu sein, eine Stelle als Büglerin im Waldhaus annimmt, schafft es Walter bis in die Hotelhalle, in Lionels Nähe.
Der junge Postbeamte, der ihm ganz verfallen ist, und der bereits alternde Mime haben eine Affäre. "Lionel spürte hinter jedem Wort und jeder Geste, dass Walter glücklich war, glücklicher als er selbst. Vielleicht auch deshalb, weil er wusste, dass das Glück nur von begrenzter Dauer war. War sich Walter wirklich darüber im Klaren, oder übertrug Lionel seine eigenen Gefühle auf den jungen Mann, der ihm am letzten Tag ihrer Bekanntschaft genauso fremd oder gleichgültig sein würde wie am ersten?" Lionel und Walter sind die zwei Gestalten, um die sich die Geschehnisse entfalten, bis eben hin zu einem Postskriptum. Und es sind ihre Mütter, die als Portalsfiguren ihrer zwei Leben fungieren. Für Lionel ist die Mutter fatal, sie verlässt ihn nie.
Alain Claude Sulzer entgeht der Gefahr, die sein Stoff durchaus birgt, den Nationalsozialismus zu banalisieren. Er kleidet den Schrecken in die Umrisse faschistischen Handelns, erfasst ihn in Nebenfiguren wie einem kollaborierenden Kunsthändler, der jahrelang Kupfers Lover war, und den Spielarten der Anpassung, von Geschmeidigkeit bis zu schierem Opportunismus. Sulzer macht aus Lionel Kupfer keinen Helden des Widerstands; vielleicht verweist sogar sein Nachname auf die Formbarkeit dieses Metalls. Kupfer ist ein Ausbeuter der Gefühle anderer und zugleich selbst ein Ausgebeuteter. Sulzer beschreibt die Vita eines homosexuellen Künstlers, der niemals in aller Offenheit sein konnte, was er sein Leben lang ist: ein schwuler Mann. Sulzer verdichtet diesen Lebenslauf nicht zu einem Psychogramm, er hält sich den Schauspieler gleichsam vom Leib. Und er schont ihn nicht, zeigt ihn in aller Ich-Versessenheit, Larmoyanz und Herzenskälte. Doch zunehmend enthüllt sich in dem raffinierten Stationendrama mit seinen Rückblenden und Ortswechseln auch, dass Kupfer mit dem Absterben von Gefühlen tragisch vertraut ist - und der Ursprung dieses Mangels.
Das "Postskriptum", das dem Roman seinen Titel gibt, ist ein Brief, den Lionel Kupfer 1963 aus New York an Walter Staufer schreibt. Es hatte in all den Jahren seit Sils Maria nur eine einzige zufällige Begegnung der Männer gegeben. Der Brief enthält eine Episode aus Lionels Kindheit, ein Geheimnis, beinah ein Vermächtnis des inzwischen greisen Manns. Der Brief ist der letzte Akt in einem Künstlerroman, der nicht nur eine Biographie, sondern eine Epoche verdichtet. Auch Sulzers voriges Buch, "Aus den Fugen" von 2012, galt einem Künstler, einem Pianisten, und hatte ebenfalls etwas von einem Reigen; "Postskriptum" ist weniger verspielt, härter. Lionel Kupfer ist ein Überlebender, der seit damals am See vom Tod umfangen ist. Tatsächlich schenkt ihm der amerikanische Film noch einen kleinen Nachruhm; er wird sogar für einen Oscar nominiert, in einer Nebenrolle. Das Ende des Romans hält vieles offen. Auch die Frage, ob Walter noch am Leben ist. Es gibt keine glatten Schnitte.
Alain Claude Sulzer: "Postskriptum". Roman.
Verlag Galiani, Berlin 2015. 260 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alain Claude Sulzers Künstlerroman "Postskriptum" verdichtet eine homoerotische Begegnung im Jahr 1933 zu einem kühlen Epochenbuch.
Von Rose-Maria Gropp
Der Prolog spielt am "Meer der Wiener" im Sommer 1894, und gemeint ist der Neusiedler See. Die Familie Kupfer verbringt dort ihre Sommerfrische, mit den Söhnen Tobias und Lion. Tobias ist der ältere, der beherztere der beiden Knaben, er führt die Gruppe der Jungen aus anderen Familien bei ihren ausgedehnten Streifzügen um den großen See an: "Tobias war der beste Kamerad, den ein Junge sich wünschen konnte. Treu bis in den Tod, genau so wie sie bei ihren Spielen sagten, wenn sie zwei Finger in die Höhe hielten und schworen. Wir hätten ihn auch Siegfried nennen können, sagte der Vater, und die Mutter lachte." Die Mutter liebt Tobias am meisten. Lion ist anders, und zwar "sanftmütig mit einer Neigung zur Ungeduld, wenn die Dinge nicht liefen, wie er wollte. Eine Ungeduld sich selbst gegenüber, bei anderen aber blieb er ruhig." Dabei ist er ein fröhliches, etwas unnahbares Kind von grade sechs Jahren. Er bleibt für sich, er zeichnet und trägt die Utensilien dafür stets bei sich.
Da geschieht das Furchtbarste überhaupt. Die Mutter ruft nach Tobias, er antwortet nicht. Lion rennt, einer Ahnung folgend, an das Ufer des sturmgepeitschten Sees. Dort sieht er, was er nicht hätte sehen dürfen. Er sieht den toten Bruder in den Armen seines Vaters. Dann sieht er die Mutter - "Steh auf, das ist kein Scherz, damit scherzt man nicht", hört er sie noch sagen - zusammenbrechen.
Die Exposition von Alain Claude Sulzers neuem Roman "Postskriptum" liest sich wie die Ouvertüre zur Lebensgeschichte des Lionel Kupfer. Die zentralen Motive klingen an, die das Buch dann filigran kunstreich verknüpft, auf mehreren Ebenen von Zeit und Raum verschränkt, bis in die sechziger Jahre hinein. Lionel wird ein umschwärmter deutscher Filmstar mit rumänischen Wurzeln sein, bis der Nationalsozialismus über Deutschland und Österreich kommt; damit geraten auch Kupfers Karriere und sein Leben aus dem Gleis. Denn tatsächlich ist er als Kind jüdischer Eltern in Lemberg geboren, die mit ihren Söhnen nach Wien ziehen, wo Lionel getauft wird und aufwächst. Die Nationalsozialisten streichen ihn von den Besetzungslisten, er wird vor ihnen nach New York fliehen.
Doch das erste Kapitel ist noch "Januar 1933" überschrieben, es spielt in der Schweiz, in Sils Maria. Dort ist der Schauspieler auf dem Höhepunkt der Publikumsgunst im "Waldhaus" abgestiegen, dem schon damals berühmten Hotel, um sich von seinen anstrengenden Dreharbeiten zu erholen, die ihn etwa "Im Bann der Mumie" nach Afrika geführt hatten oder nach Indien für "Die Frau des Maharadschas". Sulzer lässt seine geschliffene Ironie in solchen Momenten wie diesen zeittypischen Filmtiteln aufblitzen, wie er auch immer wieder reale Personen in sein Erzählen einschmuggelt. Lionel Kupfer ist damals der Liebhaber schlechthin im Schwarzweißfilm, der jeden in seinen Bann zieht. Besonders aber hat er Walter Staufer bezaubert, der im Postamt von Sils Maria am Schalter sitzt und den sein Beruf also nie hinauf zum Waldhaus bringt. Walter kommt aus kleinsten Verhältnissen in der Schweiz, er ist das uneheliche Kind seiner Mutter Theres, die nie schreiben und lesen gelernt hat. Als Theres, um ihrem Sohn nah zu sein, eine Stelle als Büglerin im Waldhaus annimmt, schafft es Walter bis in die Hotelhalle, in Lionels Nähe.
Der junge Postbeamte, der ihm ganz verfallen ist, und der bereits alternde Mime haben eine Affäre. "Lionel spürte hinter jedem Wort und jeder Geste, dass Walter glücklich war, glücklicher als er selbst. Vielleicht auch deshalb, weil er wusste, dass das Glück nur von begrenzter Dauer war. War sich Walter wirklich darüber im Klaren, oder übertrug Lionel seine eigenen Gefühle auf den jungen Mann, der ihm am letzten Tag ihrer Bekanntschaft genauso fremd oder gleichgültig sein würde wie am ersten?" Lionel und Walter sind die zwei Gestalten, um die sich die Geschehnisse entfalten, bis eben hin zu einem Postskriptum. Und es sind ihre Mütter, die als Portalsfiguren ihrer zwei Leben fungieren. Für Lionel ist die Mutter fatal, sie verlässt ihn nie.
Alain Claude Sulzer entgeht der Gefahr, die sein Stoff durchaus birgt, den Nationalsozialismus zu banalisieren. Er kleidet den Schrecken in die Umrisse faschistischen Handelns, erfasst ihn in Nebenfiguren wie einem kollaborierenden Kunsthändler, der jahrelang Kupfers Lover war, und den Spielarten der Anpassung, von Geschmeidigkeit bis zu schierem Opportunismus. Sulzer macht aus Lionel Kupfer keinen Helden des Widerstands; vielleicht verweist sogar sein Nachname auf die Formbarkeit dieses Metalls. Kupfer ist ein Ausbeuter der Gefühle anderer und zugleich selbst ein Ausgebeuteter. Sulzer beschreibt die Vita eines homosexuellen Künstlers, der niemals in aller Offenheit sein konnte, was er sein Leben lang ist: ein schwuler Mann. Sulzer verdichtet diesen Lebenslauf nicht zu einem Psychogramm, er hält sich den Schauspieler gleichsam vom Leib. Und er schont ihn nicht, zeigt ihn in aller Ich-Versessenheit, Larmoyanz und Herzenskälte. Doch zunehmend enthüllt sich in dem raffinierten Stationendrama mit seinen Rückblenden und Ortswechseln auch, dass Kupfer mit dem Absterben von Gefühlen tragisch vertraut ist - und der Ursprung dieses Mangels.
Das "Postskriptum", das dem Roman seinen Titel gibt, ist ein Brief, den Lionel Kupfer 1963 aus New York an Walter Staufer schreibt. Es hatte in all den Jahren seit Sils Maria nur eine einzige zufällige Begegnung der Männer gegeben. Der Brief enthält eine Episode aus Lionels Kindheit, ein Geheimnis, beinah ein Vermächtnis des inzwischen greisen Manns. Der Brief ist der letzte Akt in einem Künstlerroman, der nicht nur eine Biographie, sondern eine Epoche verdichtet. Auch Sulzers voriges Buch, "Aus den Fugen" von 2012, galt einem Künstler, einem Pianisten, und hatte ebenfalls etwas von einem Reigen; "Postskriptum" ist weniger verspielt, härter. Lionel Kupfer ist ein Überlebender, der seit damals am See vom Tod umfangen ist. Tatsächlich schenkt ihm der amerikanische Film noch einen kleinen Nachruhm; er wird sogar für einen Oscar nominiert, in einer Nebenrolle. Das Ende des Romans hält vieles offen. Auch die Frage, ob Walter noch am Leben ist. Es gibt keine glatten Schnitte.
Alain Claude Sulzer: "Postskriptum". Roman.
Verlag Galiani, Berlin 2015. 260 S., geb., 19,99 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Ambivalent fällt Christoph Schröders Urteil zu Alain Claude Sulzers Roman über einen homosexuellen, jüdischen Schauspieler zur Zeit des Dritten Reichs und dessen Erinnerungen aus: Einerseits sei "Postskriptum" ein subtiler, elegant gebauter Roman "vom Vergessen und Vergessenwerden", in dem der Rezensent immer wieder auf "fein gearbeitete Szenen" und "atmosphärisch gelungene Darstellungen" stößt. Schröder zeigt sich beeindruckt davon, wie Sulzer in seinem Werk historische Eindeutigkeiten vermeide, wie er die soziale Struktur eines Schweizer Hotels und die beklemmende Engstirnigkeit der Nachkriegsjahre mit wenigen Worten beschreibt. Doch überrascht bis entsetzt ist der Kritiker, wenn es an die Darstellung von Leidenschaften geht: Dort wird Sulzers Sprache maniriert und kitschig, bedauert der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Alain Claude Sulzer ist mit dem Roman Postskriptum [...] ein bewegendes Künstlerporträt gelungen.« Journal Kassel