Von Boston nach San Francisco bis Los Angeles und zurück nach New York: Die Büchner-Preisträgerin Felicitas Hoppe erkundet ein phantastisch unbekanntes Amerika. Zehntausend so komische wie hochpoetische Meilen - eine literarische Weltentdeckung.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2018Notieren Sie das bitte, Gentlemen!
Achtzig Jahre nach zwei sowjetischen Autoren geht Felicitas Hoppe auf Amerika-Tour. Und erfindet dort sich selbst.
Von Angelika Overath
Im Oktober 1935, zur Zeit der Großen Depression, reisten zwei Literatur-Stars der Sowjetunion, der fünfunddreißigjährige Ilja Ilf und der drei Jahre jüngere Jewgeni Petrow, nach Amerika. Im Auftrag der "Prawda" sammelten sie Eindrücke aus einem Land, dessen Industrialisierung als Ansporn galt für Stalins neuen Menschen. Da die beiden weder Autofahren noch Englisch konnten, ließen sie sich begleiten vom Ehepaar Adams. Ihr Buch "Das eingeschossige Amerika" wurde ein Erfolg, erzählte es doch mit unverstelltem Blick nicht nur vom technischen Fortschritt des fernen Landes, sondern auch vom Alltag der Amerikaner, die weniger in Hochhäusern als in Kleinstädten lebten und irgendwie "eingeschossig" waren. Ilja Ilf fotografierte mit einer Leica. 2011 erschien das Buch auf Deutsch in der Anderen Bibliothek; Felicitas Hoppe schrieb dazu das Vorwort.
Im September 2015 reiste Felicitas Hoppe (Jahrgang 1960), unterstützt von der "Villa Aurora" und Goethe-Instituten, mit den bildenden Künstlern Alexej Meschtschanow (Kiew, 42 Jahre), Jana Müller (Halle/Saale, 38 Jahre) und der emeritierten Wiener Literaturwissenschaftlerin Ulrike Rainer auf den Spuren von "Ilf und Petrow": von Boston über San Francisco bis Los Angeles und zurück nach New York. Jana Müller fotografierte.
Die russischen Vorbilder fuhren in einem mausgrauen Ford; die Hoppe-Truppe nimmt einen rubinroten (rubinrot wie die Wunderschuhe von Dorothy aus dem "Zauberer von Oz"). Während der Reise entsteht ein Blog. Anfang 2017 präsentieren Hoppe, Müller und Meschtschanow diese Fahrt als Installation im Kunstverein Langenhagen. Dies, und vieles mehr, lässt sich unter dem Namen des Kleinplaneten "3668.Ilfpetrow" im Netz nachverfolgen.
Und nun das Buch: "Prawda - Eine amerikanische Reise". Es ist interessant wie die Quadratur des Kreises. Oder wie ein Hybrid. Denn lässt sich die literarische Reportage, die, dem Thema dienend, im besten Sinn keusch sein darf (muss?), mit einem lustvoll-draufgängerischen Fabulieren verbinden, das im Erzählen seine Figuren, sein Thema erst erschafft? Natürlich sieht Felicitas Hoppe das Problem. Leitmotivisch durchzieht die Formulierung "wirklich (tatsächlich)" den Text. Was in Romanen wie "Johanna" und radikaler in "Hoppe" (beide kommen als Echo-Spiele in "Prawda" vor) funktioniert, klappt nun nicht immer. Das liegt daran, dass "Prawda" nicht nur eine Hauptfigur hat, die nach dichterischem Belieben und Vermögen konstruiert und dekonstruiert werden kann, sondern von einer Reise durch einen Kontinent und von Begegnungen mit wirklichen ("tatsächlichen") Menschen handelt.
Anders als Reportagen lassen sich Märchen leicht mit Puppen erzählen. Denn die Psychologie ihrer Helden braucht kein Mienenspiel. Bei menschlichen Charakteren erwartet der Leser eine andere Nähe. Hoppe leistet auch das, manchmal. Etwa beim Porträt von Shelly aus Schenectady, einem "lyrisch gealterten Mädchen", geschieden, sozial engagiert, die mit dem Wort "Tara" die Szenerie aus "Vom Winde verweht" aufruft und von einem leerstehenden Nachbarhaus im Südstaatenstil träumt. Aber bei der konfettihaften Fülle von erlebten, erfundenen, historischen, gelesenen Personen kommt die Autorin einfach nicht hinterher.
Und sie reist nicht allein. Sie hat ihre "tatsächliche" Begleitung in poetische Rollen gedreht: Foma, Künstler und Gärtner aus Kiew, auf der Suche nach dem "größten Kaktus der Welt"; Jerry, auch "Königin", Fotografin, Hochzeitsberaterin, die ein "Stipendium auf den Kopf hauen muß. Arbeitstitel: Bräute am Wegrand"; und AnnAdams, Akademikerin aus Wien, die den Distanzplan in der Hand hält, "Double Red Road" (alias "Route 66") raucht und hustet (vielleicht weil Ilja Ilf kurz nach der Reise an Tuberkulose gestorben ist). Auch der Ford ("Red Ruby") und Fomas Handy ("Becky") werden personalisiert. Und im "Tocquevilleerker", dem Platz gleich hinter dem Fahrer, sitzt die Erzählerin, alias Frau Eckermann, die bei Radio Goethe immer wieder Vorträge hält, auch als "der letzte Möchtegernritter", "Windschattentyp" oder "Nacherzähler".
Man brauche "kein Land, wenn man einen Kosmos hat", heißt es im Text. Sicher, ein Autor kann nur um sich selbst kreisen, sein eigener Planet im eigenen Universum. Daraus ist Weltliteratur entstanden. Aber wenn er dabei mit dem Land lockt, kann es schwierig werden. In "Prawda" schlägt der Kosmos Hoppe die Welt aus dem Feld. Und das sind dann schöne Stellen. Es gelingen Verwandlungen, auf die die Hoppesche Märchen-Poetik aus ist. "Bräute am Wegrand", das können Kakteen an einer Straße in Mexiko sein oder werbende Kirchen, das kann Hurricane Katrina sein, die "windigste Braut aller", oder die Erzählerin selbst, die auch ein Hurricane ist. Die "Schwalbe", das ist das Schiff des unvergessenen John Maynard, aber auch der Blick des "Schraubers" aus der Tiefe der Halle des Ford-Museums, der die Schriftstellerin (alias Schwalbe) "erkennt". Oder wunderbar, wie sie sich, mit dem Segen von Peter Pan, auf dem Fensterbrett von einem Wirbelsturm mitnehmen lässt, in Hannibal bei Tom Sawyers Zaun und seiner Höhle landet, wo sie dann auf den linkshändigen Zeichner Bruegel den Allerjüngsten trifft, der ihr im Kerzenschein seine Porträts der amerikanischen Präsidenten zeigt und der rastlosen, ehrgeizigen Erzählerin das Glück von Innehalten und Stille schenkt.
Wo der Text aber der informierenden Bringschuld nachkommen möchte, Inventar von Museen beschreibt, aus Faltblättern vorliest oder, etwa am Frankenstein-Museum oder bei den Niagara-Fällen, in Kritik am Massentourismus mündet, wird er unschärfer, als es eine gute Reportage sein darf. Hoppe sieht auch das, versucht später mit einem Denkmal für den kleinen Touristen auszugleichen. Aber man merkt die Absicht. Und nicht die Empathie.
Je mehr Hoppe das tut, was sie mit viel Verve kann, nämlich gegen die lineare Zeit, gegen die Schwerkraft der Vernunft neue Hasenhöhlen der Phantasie zu öffnen, wird das Buch eine vergnügliche, wenn auch nicht immer unanstrengende Hoppe-Freude. Aber wir wissen ja, Reisen macht müde!
Und "Ilf und Petrow"? Sie sind beim Erzählen von der ersten Zeile an dabei, mit dem immer wieder variierten Imperativ: "Schreiben Sie das in Ihre Notizbücher, Gentlemen!"
Felicitas Hoppe: "Prawda". Eine amerikanische Reise.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2018. 319 S., 2 Abb., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Achtzig Jahre nach zwei sowjetischen Autoren geht Felicitas Hoppe auf Amerika-Tour. Und erfindet dort sich selbst.
Von Angelika Overath
Im Oktober 1935, zur Zeit der Großen Depression, reisten zwei Literatur-Stars der Sowjetunion, der fünfunddreißigjährige Ilja Ilf und der drei Jahre jüngere Jewgeni Petrow, nach Amerika. Im Auftrag der "Prawda" sammelten sie Eindrücke aus einem Land, dessen Industrialisierung als Ansporn galt für Stalins neuen Menschen. Da die beiden weder Autofahren noch Englisch konnten, ließen sie sich begleiten vom Ehepaar Adams. Ihr Buch "Das eingeschossige Amerika" wurde ein Erfolg, erzählte es doch mit unverstelltem Blick nicht nur vom technischen Fortschritt des fernen Landes, sondern auch vom Alltag der Amerikaner, die weniger in Hochhäusern als in Kleinstädten lebten und irgendwie "eingeschossig" waren. Ilja Ilf fotografierte mit einer Leica. 2011 erschien das Buch auf Deutsch in der Anderen Bibliothek; Felicitas Hoppe schrieb dazu das Vorwort.
Im September 2015 reiste Felicitas Hoppe (Jahrgang 1960), unterstützt von der "Villa Aurora" und Goethe-Instituten, mit den bildenden Künstlern Alexej Meschtschanow (Kiew, 42 Jahre), Jana Müller (Halle/Saale, 38 Jahre) und der emeritierten Wiener Literaturwissenschaftlerin Ulrike Rainer auf den Spuren von "Ilf und Petrow": von Boston über San Francisco bis Los Angeles und zurück nach New York. Jana Müller fotografierte.
Die russischen Vorbilder fuhren in einem mausgrauen Ford; die Hoppe-Truppe nimmt einen rubinroten (rubinrot wie die Wunderschuhe von Dorothy aus dem "Zauberer von Oz"). Während der Reise entsteht ein Blog. Anfang 2017 präsentieren Hoppe, Müller und Meschtschanow diese Fahrt als Installation im Kunstverein Langenhagen. Dies, und vieles mehr, lässt sich unter dem Namen des Kleinplaneten "3668.Ilfpetrow" im Netz nachverfolgen.
Und nun das Buch: "Prawda - Eine amerikanische Reise". Es ist interessant wie die Quadratur des Kreises. Oder wie ein Hybrid. Denn lässt sich die literarische Reportage, die, dem Thema dienend, im besten Sinn keusch sein darf (muss?), mit einem lustvoll-draufgängerischen Fabulieren verbinden, das im Erzählen seine Figuren, sein Thema erst erschafft? Natürlich sieht Felicitas Hoppe das Problem. Leitmotivisch durchzieht die Formulierung "wirklich (tatsächlich)" den Text. Was in Romanen wie "Johanna" und radikaler in "Hoppe" (beide kommen als Echo-Spiele in "Prawda" vor) funktioniert, klappt nun nicht immer. Das liegt daran, dass "Prawda" nicht nur eine Hauptfigur hat, die nach dichterischem Belieben und Vermögen konstruiert und dekonstruiert werden kann, sondern von einer Reise durch einen Kontinent und von Begegnungen mit wirklichen ("tatsächlichen") Menschen handelt.
Anders als Reportagen lassen sich Märchen leicht mit Puppen erzählen. Denn die Psychologie ihrer Helden braucht kein Mienenspiel. Bei menschlichen Charakteren erwartet der Leser eine andere Nähe. Hoppe leistet auch das, manchmal. Etwa beim Porträt von Shelly aus Schenectady, einem "lyrisch gealterten Mädchen", geschieden, sozial engagiert, die mit dem Wort "Tara" die Szenerie aus "Vom Winde verweht" aufruft und von einem leerstehenden Nachbarhaus im Südstaatenstil träumt. Aber bei der konfettihaften Fülle von erlebten, erfundenen, historischen, gelesenen Personen kommt die Autorin einfach nicht hinterher.
Und sie reist nicht allein. Sie hat ihre "tatsächliche" Begleitung in poetische Rollen gedreht: Foma, Künstler und Gärtner aus Kiew, auf der Suche nach dem "größten Kaktus der Welt"; Jerry, auch "Königin", Fotografin, Hochzeitsberaterin, die ein "Stipendium auf den Kopf hauen muß. Arbeitstitel: Bräute am Wegrand"; und AnnAdams, Akademikerin aus Wien, die den Distanzplan in der Hand hält, "Double Red Road" (alias "Route 66") raucht und hustet (vielleicht weil Ilja Ilf kurz nach der Reise an Tuberkulose gestorben ist). Auch der Ford ("Red Ruby") und Fomas Handy ("Becky") werden personalisiert. Und im "Tocquevilleerker", dem Platz gleich hinter dem Fahrer, sitzt die Erzählerin, alias Frau Eckermann, die bei Radio Goethe immer wieder Vorträge hält, auch als "der letzte Möchtegernritter", "Windschattentyp" oder "Nacherzähler".
Man brauche "kein Land, wenn man einen Kosmos hat", heißt es im Text. Sicher, ein Autor kann nur um sich selbst kreisen, sein eigener Planet im eigenen Universum. Daraus ist Weltliteratur entstanden. Aber wenn er dabei mit dem Land lockt, kann es schwierig werden. In "Prawda" schlägt der Kosmos Hoppe die Welt aus dem Feld. Und das sind dann schöne Stellen. Es gelingen Verwandlungen, auf die die Hoppesche Märchen-Poetik aus ist. "Bräute am Wegrand", das können Kakteen an einer Straße in Mexiko sein oder werbende Kirchen, das kann Hurricane Katrina sein, die "windigste Braut aller", oder die Erzählerin selbst, die auch ein Hurricane ist. Die "Schwalbe", das ist das Schiff des unvergessenen John Maynard, aber auch der Blick des "Schraubers" aus der Tiefe der Halle des Ford-Museums, der die Schriftstellerin (alias Schwalbe) "erkennt". Oder wunderbar, wie sie sich, mit dem Segen von Peter Pan, auf dem Fensterbrett von einem Wirbelsturm mitnehmen lässt, in Hannibal bei Tom Sawyers Zaun und seiner Höhle landet, wo sie dann auf den linkshändigen Zeichner Bruegel den Allerjüngsten trifft, der ihr im Kerzenschein seine Porträts der amerikanischen Präsidenten zeigt und der rastlosen, ehrgeizigen Erzählerin das Glück von Innehalten und Stille schenkt.
Wo der Text aber der informierenden Bringschuld nachkommen möchte, Inventar von Museen beschreibt, aus Faltblättern vorliest oder, etwa am Frankenstein-Museum oder bei den Niagara-Fällen, in Kritik am Massentourismus mündet, wird er unschärfer, als es eine gute Reportage sein darf. Hoppe sieht auch das, versucht später mit einem Denkmal für den kleinen Touristen auszugleichen. Aber man merkt die Absicht. Und nicht die Empathie.
Je mehr Hoppe das tut, was sie mit viel Verve kann, nämlich gegen die lineare Zeit, gegen die Schwerkraft der Vernunft neue Hasenhöhlen der Phantasie zu öffnen, wird das Buch eine vergnügliche, wenn auch nicht immer unanstrengende Hoppe-Freude. Aber wir wissen ja, Reisen macht müde!
Und "Ilf und Petrow"? Sie sind beim Erzählen von der ersten Zeile an dabei, mit dem immer wieder variierten Imperativ: "Schreiben Sie das in Ihre Notizbücher, Gentlemen!"
Felicitas Hoppe: "Prawda". Eine amerikanische Reise.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2018. 319 S., 2 Abb., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
'Prawda' ist als Text so vielspurig wie US-Autobahnen an Ortseinfahrten schon 1935:die Historie und die fantastische Übermalung fahren immer mit. Petra Kohse Berliner Zeitung 20180305