Finster, mysteriös, elektrisierend. Stephen King garantiert Hochspannung Der kleine Jamie bewundert den charismatischen Methodistenprediger Charles Jacobs, der seine Gemeinde für den Glauben begeistert – bis er selbst vom Glauben abfällt. In den folgenden Jahren trifft Jamie, inzwischen drogenabhängiger Musiker, immer wieder auf Jacobs, der ihn jedes Mal tiefer in seine dämonische Welt zieht. Als Jamie sich dessen klar wird, gibt es für ihn schon kein Zurück mehr.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Religion muss keinen Trost spenden, weiß Burkhard Müller, im Gegenteil, sie kann auch Schrecken auslösen, wenn man mit dem Bild eines radikal bösen Gottes spielt, wie Stephen King es in seinem neuen Roman "Revival" tut, verrät der Rezensent. King erzählt die Geschichte eines gefallenen Pfarrers, der nach dem Unfalltod seiner Familie nicht vom Glauben abfällt, sondern die Vorstellung des guten Gottes durch ihr Gegenteil eintauscht, berichtet Müller. Der Pfarrer wird später zwar zum fernsehtauglichen Wunderheiler, aber seine Rückkehr zum Predigen verheißt nur noch mehr Unheil, so der Rezensent, der sich fragt, warum Kings Büchern trotz Geschichten, die so genial seien wie diese, nach wie vor der Status der emphatisch verstandenen Literatur abgesprochen wird.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.03.2015Eine menschliche Sonnenfinsternis
In seinem neuen, fulminanten Roman „Revival“ erschafft Stephen King
die Figur eines besessenen Predigers und spekuliert über einen radikal bösen Gott
VON BURKHARD MÜLLER
Sechs Jahre ist Jamie Morton alt, als ihm die Begegnung seines Lebens widerfährt. Er sitzt am Straßenrand vor dem elterlichen Haus, in einer kleinen Ortschaft in Maine, versunken ins Spiel mit seinen nagelneuen Plastiksoldaten; er lässt sie stürmen und fallen und macht dabei knatternde Geräusche wie MG-Salven in Comic-Heftchen. „An jenem Tag im Oktober 1962, als das Schicksal der Welt an einem seidenen Faden über einer kleinen tropischen Insel namens Kuba hing, kämpfte ich jedenfalls auf beiden Seiten, was bedeutete, dass ich die Schlacht gewinnen würde.“
Mit solch sachtem Humor, mit solch leiser Rührung über die Unschuld des Kindes, das er damals war, spricht der Erzähler, inzwischen ein alter und vom Leben gebeutelter Sünder, aus dem Abstand eines halben Jahrhunderts. Er weiß es, und er lässt es den Leser, der seinen ersten Schritt in diesen Kosmos tut, immerhin erahnen, dass sich im beiläufigen Augenblick etwas anbahnt, neben dem die Kubakrise bloß wie ein Zwischenfall aussieht.
In diesem Augenblick nämlich schiebt sich ein Schatten über das kindliche Schlachtfeld. „Ich blickte auf und sah einen Mann vor mir stehen. Weil sich die Nachmittagssonne hinter ihm befand, war er eine von goldenem Licht umgebene Silhouette – eine menschliche Sonnenfinsternis.“ Doch wer glaubt, nun folge gleich die Geschichte einer Traumatisierung, der unterschätzt den ungeheuer langen Atem, den diese Erzählung hat.
Nein, es ist vielmehr der Beginn einer Freundschaft, uneingestanden und desto stärker, zwischen einem noch recht kleinen Jungen und einem erwachsenen Mann, wie sie heute, im Zeitalter des universalen Pädophilie-Verdachts, von ihrem Umfeld nicht mehr geduldet würde. Charles Jacobs ist der neue methodistische Reverend; er lädt Jamie zu sich ins Pfarrhaus ein, um ihm ein Wunder zu zeigen, ein ziemlich lausiges Wunder, wie auch ein Sechsjähriger leicht erkennen kann: Eine kleine Jesusfigur wandelt mit elektrischem Antrieb über blau gefärbtes Wasser, in dem sich eine Führungsschiene verbirgt. Solchen elektrischen Basteleien gilt die besondere Liebe des jungen Geistlichen, gleich nach seiner hübschen Frau Patsy, deren blonder Schopf hin- und herschwankt, wenn sie in der Sonntagsschule das Harmonium traktiert, und seinem kleinen Sohn Morrie, der noch neu auf den Beinen ist. Ach ja, und nebenbei bewirkt er mit seinem Elektro-Krimskrams eine erstaunliche Spontanheilung bei Jamies Bruder, dem er die verlorene Stimme zurückgibt.
In einigen seiner letzten Bücher, das ist wahr, hat es sich der Autor Stephen King etwas arg gemütlich gemacht. Nicht so in diesem. Der Reverend verliert Frau und Sohn bei einem grässlichen Verkehrsunfall und hält am nächsten Sonntag, was als „furchtbare Predigt“ in die Annalen der Kongregation eingehen wird. Er gebärdet sich als ein Hiob, der sich in sein Los nicht ergibt, zählt mit bitterem Sarkasmus einen Fall nach dem andern auf, in dem Gott seine Schäfchen nicht nur getötet hat, sondern geradezu verhöhnt zu haben scheint – eine Pfarrgemeinde beispielsweise, die von einem Tornado ausgelöscht wird, gerade als sie sich zu einer Dankesfeier versammelt – und muss danach natürlich in Schanden sein Amt verlassen. Sein Jesus ist untergegangen.
Danach bleibt der Leser lang mit Jamie allein und begleitet ihn durch Highschool, erste Liebe, eine Laufbahn als zweitklassiger Rock-Gitarrist und den totalen Absturz in den Drogensumpf der Achtziger- und Neunzigerjahre. Ein Zufall führt ihn, als er kurz vor dem sozialen und physischen Aus steht, in einen schäbigen kleinen Elektroladen, den natürlich niemand anderes betreibt als Jacobs, der gefallene Reverend; und wieder vollbringt er ein elektrisches Mirakel, das vor den Augen der Wissenschaft zwar vermutlich nicht standhielte, aber Jamie auf die Beine bringt und kuriert. Und wieder einige Zeit später trifft er Jacobs als Marktschreier auf einem Volksfest im tiefen Mittelwesten, wo er hingerissenen jungen Frauen zu märchenhaften Wunschbildern ihrer selbst verhilft.
Dann beginnt seine eigentliche Karriere, als Prediger und Heiler in der Tradition der amerikanischen Tele-Evangelisten; sein Aufstieg geht einher mit der zynischen Verkommenheit des Scharlatans. Doch die verzweifelten und begeisterten Gläubigen, die sich in einem großen Zirkuszelt um ihn versammeln und um Wunder bestürmen, werden nicht enttäuscht; sie dürfen vielmehr mit eigenen Augen sehen, wie die Lahmen sich reihenweise aus ihren Rollstühlen erheben – eine ungeheuer starke Szene.
Trotz allem spürt Jamie noch immer das alte Band zwischen ihnen. Trauen kann er seinem väterlichen Freund allerdings nicht mehr. Er beginnt zu recherchieren, mit doppelt bestürzendem Ergebnis: Erstens, ein großer Teil dieser Heilungen ist echt (nicht alle natürlich, manche der mit bloßer Hand entfernten Tumore erweisen sich bei näherer Inspektion als rohe Kalbsleber). Zweitens, die meisten Geheilten kamen nach Monaten oder vielen Jahren in irgendwelchen Katastrophen um.
Es ist eine Erzählung, die man als eine außerordentliche Leistung selbst für King bezeichnen muss, der doch wahrlich alles darüber weiß, wie man eine gute Story über viele hundert Seiten am Laufen hält. Die starke Zeichnung der Charaktere, die emotionale Kraft, die Ökonomie des Plots mit seinen unterschiedlichen Geschwindigkeiten und der starken Beschleunigung gegen Ende zu: Man fragt sich als Leser, mit welchem Recht eigentlich Stephen King, dem man zwar immer so dieses und jenes relative Verdienst bescheinigt (und am ehesten und missmutigsten seinen belletristischen Erfolg), nach wie vor aus dem Bereich der Literatur in einem emphatischen Sinn ausgeschlossen wird. Liegt es daran, dass er sich weigert, seine Kunst auch auf den Bereich des einzelnen Satzes auszudehnen und stattdessen die Nachbildung des amerikanischen Alltagslebens auch in seiner stilistischen Anspruchslosigkeit durchzieht? Wahrscheinlich ist das der Grund, aber ganz und gar fair ist es nicht.
Der gestürzte Reverend, falsche Heiland und echte Besessene ist einer zweiten, geheimen Elektrizität auf der Spur, was einen reichlich unzulänglichen Begriff für eine Kraft abgibt, die die Tür zwischen dieser und der nächsten Welt zu öffnen vermag. Dort warten Patsy und Morrie. Dass es keine so gute Idee sein könnte, sie unbedingt wiedersehen zu wollen, weiß der King-erfahrene Leser seit dem „Friedhof der Kuscheltiere“. Die Tür ist unscheinbar, von vertrocknetem Efeu umrankt, und dahinter haust (so berichten die, die einen Blick dahinter werfen konnten) unter einem papierenen Himmel „Die Mutter“ – ein Wort, das in dieser Vereinzelung am Rand des Verstummens Grauen weckt. Der Reverend, der nur noch Wochen zu leben hat, wendet seine glühende Restenergie für eine abgefeimte Erpressung auf, durch die er Jamie ein letztes und entscheidendes Mal zwingt, ihm zu Willen zu sein – und dann geschieht Unfassliches.
Mit diesem Buch und vor allem dessen Ende kehrt King zu seinen Wurzeln zurück, zum Horror, und zwar in jener Form, wie er sie ganz am Anfang seines Schreibens von seinem Vorbild H.P. Lovecraft empfing: Horror ist, was unser Denkvermögen schlechthin übersteigt und was den, der es streift, die geistige Gesundheit kostet. Dem Buch ist denn auch ein Motto von Lovecraft vorangestellt. Es lautet: „Das ist nicht tot, was ewig liegt, / Bis dass die Zeit den Tod besiegt.“ Dessen abgründiger Sinn erschließt sich dem Leser erst nach und nach. Ja, der Gehalt ist ein theologischer. Aber wer sagt denn, dass Theologie von der Erlösung des Menschen zu handeln habe?
King hat die packende Figur des abgefallenen Priesters ins Zentrum seines neuen Romans gerückt, um über die Möglichkeit eines radikal bösen Gottes zu spekulieren. Es ist ein sehr gutes Buch geworden, und eines, das schwer beunruhigt.
Mit diesem Buch kehrt King
zu seinen Wurzeln zurück und
entfesselt den reinen Horror
Robert Mitchum als diabolischer Wanderprediger in Charles Laughtons Hollywood-Klassiker „Die Nacht des Jägers“ aus dem Jahr 1955.
Foto: imago
Fast einhundert Bücher hat Stephen King, geboren 1947 in Portland, bisher veröffentlicht. Und immer noch gilt er als Genre-Lieferant statt als Weltliterat. Gerechtfertigt ist das nicht. Foto: AFP
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In seinem neuen, fulminanten Roman „Revival“ erschafft Stephen King
die Figur eines besessenen Predigers und spekuliert über einen radikal bösen Gott
VON BURKHARD MÜLLER
Sechs Jahre ist Jamie Morton alt, als ihm die Begegnung seines Lebens widerfährt. Er sitzt am Straßenrand vor dem elterlichen Haus, in einer kleinen Ortschaft in Maine, versunken ins Spiel mit seinen nagelneuen Plastiksoldaten; er lässt sie stürmen und fallen und macht dabei knatternde Geräusche wie MG-Salven in Comic-Heftchen. „An jenem Tag im Oktober 1962, als das Schicksal der Welt an einem seidenen Faden über einer kleinen tropischen Insel namens Kuba hing, kämpfte ich jedenfalls auf beiden Seiten, was bedeutete, dass ich die Schlacht gewinnen würde.“
Mit solch sachtem Humor, mit solch leiser Rührung über die Unschuld des Kindes, das er damals war, spricht der Erzähler, inzwischen ein alter und vom Leben gebeutelter Sünder, aus dem Abstand eines halben Jahrhunderts. Er weiß es, und er lässt es den Leser, der seinen ersten Schritt in diesen Kosmos tut, immerhin erahnen, dass sich im beiläufigen Augenblick etwas anbahnt, neben dem die Kubakrise bloß wie ein Zwischenfall aussieht.
In diesem Augenblick nämlich schiebt sich ein Schatten über das kindliche Schlachtfeld. „Ich blickte auf und sah einen Mann vor mir stehen. Weil sich die Nachmittagssonne hinter ihm befand, war er eine von goldenem Licht umgebene Silhouette – eine menschliche Sonnenfinsternis.“ Doch wer glaubt, nun folge gleich die Geschichte einer Traumatisierung, der unterschätzt den ungeheuer langen Atem, den diese Erzählung hat.
Nein, es ist vielmehr der Beginn einer Freundschaft, uneingestanden und desto stärker, zwischen einem noch recht kleinen Jungen und einem erwachsenen Mann, wie sie heute, im Zeitalter des universalen Pädophilie-Verdachts, von ihrem Umfeld nicht mehr geduldet würde. Charles Jacobs ist der neue methodistische Reverend; er lädt Jamie zu sich ins Pfarrhaus ein, um ihm ein Wunder zu zeigen, ein ziemlich lausiges Wunder, wie auch ein Sechsjähriger leicht erkennen kann: Eine kleine Jesusfigur wandelt mit elektrischem Antrieb über blau gefärbtes Wasser, in dem sich eine Führungsschiene verbirgt. Solchen elektrischen Basteleien gilt die besondere Liebe des jungen Geistlichen, gleich nach seiner hübschen Frau Patsy, deren blonder Schopf hin- und herschwankt, wenn sie in der Sonntagsschule das Harmonium traktiert, und seinem kleinen Sohn Morrie, der noch neu auf den Beinen ist. Ach ja, und nebenbei bewirkt er mit seinem Elektro-Krimskrams eine erstaunliche Spontanheilung bei Jamies Bruder, dem er die verlorene Stimme zurückgibt.
In einigen seiner letzten Bücher, das ist wahr, hat es sich der Autor Stephen King etwas arg gemütlich gemacht. Nicht so in diesem. Der Reverend verliert Frau und Sohn bei einem grässlichen Verkehrsunfall und hält am nächsten Sonntag, was als „furchtbare Predigt“ in die Annalen der Kongregation eingehen wird. Er gebärdet sich als ein Hiob, der sich in sein Los nicht ergibt, zählt mit bitterem Sarkasmus einen Fall nach dem andern auf, in dem Gott seine Schäfchen nicht nur getötet hat, sondern geradezu verhöhnt zu haben scheint – eine Pfarrgemeinde beispielsweise, die von einem Tornado ausgelöscht wird, gerade als sie sich zu einer Dankesfeier versammelt – und muss danach natürlich in Schanden sein Amt verlassen. Sein Jesus ist untergegangen.
Danach bleibt der Leser lang mit Jamie allein und begleitet ihn durch Highschool, erste Liebe, eine Laufbahn als zweitklassiger Rock-Gitarrist und den totalen Absturz in den Drogensumpf der Achtziger- und Neunzigerjahre. Ein Zufall führt ihn, als er kurz vor dem sozialen und physischen Aus steht, in einen schäbigen kleinen Elektroladen, den natürlich niemand anderes betreibt als Jacobs, der gefallene Reverend; und wieder vollbringt er ein elektrisches Mirakel, das vor den Augen der Wissenschaft zwar vermutlich nicht standhielte, aber Jamie auf die Beine bringt und kuriert. Und wieder einige Zeit später trifft er Jacobs als Marktschreier auf einem Volksfest im tiefen Mittelwesten, wo er hingerissenen jungen Frauen zu märchenhaften Wunschbildern ihrer selbst verhilft.
Dann beginnt seine eigentliche Karriere, als Prediger und Heiler in der Tradition der amerikanischen Tele-Evangelisten; sein Aufstieg geht einher mit der zynischen Verkommenheit des Scharlatans. Doch die verzweifelten und begeisterten Gläubigen, die sich in einem großen Zirkuszelt um ihn versammeln und um Wunder bestürmen, werden nicht enttäuscht; sie dürfen vielmehr mit eigenen Augen sehen, wie die Lahmen sich reihenweise aus ihren Rollstühlen erheben – eine ungeheuer starke Szene.
Trotz allem spürt Jamie noch immer das alte Band zwischen ihnen. Trauen kann er seinem väterlichen Freund allerdings nicht mehr. Er beginnt zu recherchieren, mit doppelt bestürzendem Ergebnis: Erstens, ein großer Teil dieser Heilungen ist echt (nicht alle natürlich, manche der mit bloßer Hand entfernten Tumore erweisen sich bei näherer Inspektion als rohe Kalbsleber). Zweitens, die meisten Geheilten kamen nach Monaten oder vielen Jahren in irgendwelchen Katastrophen um.
Es ist eine Erzählung, die man als eine außerordentliche Leistung selbst für King bezeichnen muss, der doch wahrlich alles darüber weiß, wie man eine gute Story über viele hundert Seiten am Laufen hält. Die starke Zeichnung der Charaktere, die emotionale Kraft, die Ökonomie des Plots mit seinen unterschiedlichen Geschwindigkeiten und der starken Beschleunigung gegen Ende zu: Man fragt sich als Leser, mit welchem Recht eigentlich Stephen King, dem man zwar immer so dieses und jenes relative Verdienst bescheinigt (und am ehesten und missmutigsten seinen belletristischen Erfolg), nach wie vor aus dem Bereich der Literatur in einem emphatischen Sinn ausgeschlossen wird. Liegt es daran, dass er sich weigert, seine Kunst auch auf den Bereich des einzelnen Satzes auszudehnen und stattdessen die Nachbildung des amerikanischen Alltagslebens auch in seiner stilistischen Anspruchslosigkeit durchzieht? Wahrscheinlich ist das der Grund, aber ganz und gar fair ist es nicht.
Der gestürzte Reverend, falsche Heiland und echte Besessene ist einer zweiten, geheimen Elektrizität auf der Spur, was einen reichlich unzulänglichen Begriff für eine Kraft abgibt, die die Tür zwischen dieser und der nächsten Welt zu öffnen vermag. Dort warten Patsy und Morrie. Dass es keine so gute Idee sein könnte, sie unbedingt wiedersehen zu wollen, weiß der King-erfahrene Leser seit dem „Friedhof der Kuscheltiere“. Die Tür ist unscheinbar, von vertrocknetem Efeu umrankt, und dahinter haust (so berichten die, die einen Blick dahinter werfen konnten) unter einem papierenen Himmel „Die Mutter“ – ein Wort, das in dieser Vereinzelung am Rand des Verstummens Grauen weckt. Der Reverend, der nur noch Wochen zu leben hat, wendet seine glühende Restenergie für eine abgefeimte Erpressung auf, durch die er Jamie ein letztes und entscheidendes Mal zwingt, ihm zu Willen zu sein – und dann geschieht Unfassliches.
Mit diesem Buch und vor allem dessen Ende kehrt King zu seinen Wurzeln zurück, zum Horror, und zwar in jener Form, wie er sie ganz am Anfang seines Schreibens von seinem Vorbild H.P. Lovecraft empfing: Horror ist, was unser Denkvermögen schlechthin übersteigt und was den, der es streift, die geistige Gesundheit kostet. Dem Buch ist denn auch ein Motto von Lovecraft vorangestellt. Es lautet: „Das ist nicht tot, was ewig liegt, / Bis dass die Zeit den Tod besiegt.“ Dessen abgründiger Sinn erschließt sich dem Leser erst nach und nach. Ja, der Gehalt ist ein theologischer. Aber wer sagt denn, dass Theologie von der Erlösung des Menschen zu handeln habe?
King hat die packende Figur des abgefallenen Priesters ins Zentrum seines neuen Romans gerückt, um über die Möglichkeit eines radikal bösen Gottes zu spekulieren. Es ist ein sehr gutes Buch geworden, und eines, das schwer beunruhigt.
Mit diesem Buch kehrt King
zu seinen Wurzeln zurück und
entfesselt den reinen Horror
Robert Mitchum als diabolischer Wanderprediger in Charles Laughtons Hollywood-Klassiker „Die Nacht des Jägers“ aus dem Jahr 1955.
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Fast einhundert Bücher hat Stephen King, geboren 1947 in Portland, bisher veröffentlicht. Und immer noch gilt er als Genre-Lieferant statt als Weltliterat. Gerechtfertigt ist das nicht. Foto: AFP
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"Es ist eine Erzählung, die man als eine außerordentliche Leistung selbst für King bezeichnen muss." Süddeutsche Zeitung