Als sein Vater stirbt, reist Didier Eribon zum ersten Mal nach Jahrzehnten in seine Heimatstadt. Gemeinsam mit seiner Mutter sieht er sich Fotos an - das ist die Ausgangskonstellation dieses Werks, das autobiografisches Schreiben mit soziologischer Reflexion verknüpft. Eribon realisiert, wie sehr er unter der Homophobie seines Herkunftsmilieus litt und dass es der Habitus einer armen Arbeiterfamilie war, der es ihm schwer machte, in der Pariser Gesellschaft Fuß zu fassen. Darüber hinaus liefert er eine Analyse des sozialen und intellektuellen Lebens seit den fünfziger Jahren und fragt, warum ein Teil der Arbeiterschaft zum Front National übergelaufen ist. Das Buch sorgt seit seinem Erscheinen international für Aufsehen. So widmete Édouard Louis dem Autor seinen Bestseller Das Ende von Eddy. Copyright der deutschen Ausgabe Suhrkamp Berlin 2016. Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Robin Celikates liest Didier Eribons Selbstbefragung aus dem Jahr 2009 in "gekonnter" Übersetzung mit Genuss. Die schonungslose Klarheit und soziologisch kontrollierte, mit Foucault, Bourdieu und James Baldwin vorgenommene Introspektion seines Werdegangs vom homosexuellen Arbeiterkind zum Pariser Intellektuellen hat den Rezensenten beeindruckt. Sichtbar wird laut Celikates eine soziale Realität, die den Autor formt, soziale Erfahrungen, unsichtbare Formen der Gewalt. Für den Rezensenten leistet Eribon damit im Bewusstsein der Paradoxien der eigenen Position eine soziologische wie literarische "Politik der Wahrheit", wie sie die französische Linke nicht einzulösen vermochte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.06.2016Das Versagen der Eliten vor den einfachen Leuten
Didier Eribons und Paul B. Preciados erregende Biographien sind zugleich eine Theorie über den blinden Fleck der Gegenwart: das verlorene Bewusstsein für soziale Lagen
Als der Soziologe Didier Eribon nach dem Tod und der Beerdigung seines Vaters sich endlich entschließt, seine Mutter zu besuchen, überfällt ihn eine ganz besondere Scham. Eribon, hierzulande vor allem als Autor einer schon klassischen und immer noch maßgeblichen Biographie Michel Foucaults bekannt, ist 1953 in Reims in das alte Arbeitermilieu hineingeboren worden. Ein Milieu, dem der heute in Frankreich fernsehbekannte Professor und öffentliche Intellektuelle erfolgreich entflohen war, wie er bis zu diesem Moment im Haus seiner Eltern, neben seiner Mutter sitzend, über alte Familienfotos gebeugt, selbst dachte.
Entsetzt muss er feststellen, wie unmittelbar die in der Vergangenheit fotografierten Körper, viel mehr noch als bewegte oder leibhaftig vor uns stehende, ihm als soziale Körper, als "Körper einer Klasse" buchstäblich ins Auge springen. Aus den Physiognomien der Häuser im Hintergrund der Fotos, aus den Inneneinrichtungen, aus den Klamotten, aus den Körpern selbst lässt sich nichts anderes lesen, als dass der öffentlich zu allen möglichen politischen und gesellschaftlichen Themen befragte Intellektuelle Didier Eribon ein Kind genau dieses Arbeitermilieus, dieses Arbeiterelends ist.
Und als er vor den Fotos die Tatsache seiner Herkunft nicht mehr übersehen kann, kriecht ihm die ganz besondere Scham, die "soziale Scham", wie Eribon sie nennt, den Rücken hoch. Eribon beschreibt den Punkt der Aktivierung der sozialen Scham in sich so unaufgeregt klar, dass man im ersten Moment gar nicht merkt, dass hier nicht nur der Schlüssel zum Verständnis einer persönlichen Verstörung liegt. Eribon fügt sich mit seiner Verwischung oder, genauer: Verschleierung seiner Herkunft in die allgemeine Geschichte Frankreichs ein, seine scheinbar nur biographischen Notizen fügen sich in den allgemeinen Gang der französischen Gesellschaft. Eribons Biographie wird exemplarisch für das Versagen der Eliten vor den "einfachen Leuten", den Arbeitern, die heute keine Arbeit mehr haben wie sein älterer Bruder. Während Didier als "Allererster" seiner Familie das Gymnasium besuchen darf, bricht der Bruder die Schule ab, macht eine Metzgerlehre und lebt heute in Belgien von der Sozialhilfe. Das Tragen der Schweine- und Rinderhälften hat seine Schulter ruiniert, so dass er auch keine anderen Arbeiten mehr ausführen kann. In den letzten Jahren war er wie auch die jüngeren Brüder Didiers ein treuer Anhänger des Front National (FN) von Marine Le Pen.
Der Schock, der Eribon angesichts des vom FN beherrschten Milieus bei seiner Rückkehr nach Reims in Körper und Hirn fährt, hat aber nicht nur damit zu tun, dass das Reims seiner Kindheit in den 1950er und 60er Jahren wie selbstverständlich "kommunistisch" gewesen war, in dem Sinn, "dass die Bindung an die Kommunistische Partei als eine Art politisches Ordnungsprinzip den Horizont des Verhältnisses zur Politik überhaupt bestimmte", wie er schreibt. Sein Schock folgt vielmehr aus der tieferen Einsicht in seinen eigenen Anteil am Verrat der "einfachen Leute" - und das, obwohl er sich als Linker, als Verfechter emanzipatorischer Politiken begreift.
Eribon realisiert erst auf dem Sofa seiner Mutter, dass seine Emanzipation aus dem Arbeitermilieu substantiell ein Teil der Geschichte des ewigen Siegs der Herrschenden über die Beherrschten ist. Die Zeitbombe, die er gerade jetzt, aktuell, damit zündet, hat vor allem damit zu tun, dass Eribon weltweit als einer der Soziologen und Denker homosexueller beziehungsweise schwuler, also männlich-minoritärer Subjektivierungsprozesse gilt. Sein Erfolg, seine "Klassenflucht" verdankt sich nämlich wesentlich seiner bewussten Homosexualität. Und so, wie Eribon seine Abwanderung aus seinem Herkunftsmilieu beschreibt, bleibt sie in ihrer Klarheit in jedem Moment nachvollziehbar. Als trotzkistischer Gymnasiast fällt es ihm leicht, von der "Arbeiterklasse" und von der "permanenten Revolution" zu schwärmen, nur im Umgang mit konkreten Arbeitern, also auch seiner Familie, wird es schwierig. Die in jedem Gespräch anklingenden rassistischen Bemerkungen und homophoben Anspielungen nerven. Dabei ist die flächendeckende Homophobie der Arbeiterklasse keine neue Erkenntnis Eribons; die britische Popjournalistin Julie Burchill hat in den frühen 1980er Jahren gegen die allzu arbeiterfreundliche Poplinke schneidend genaue Berichte von der Homophobie der britischen Gewerkschaften und des linken Flügels der Labour Party geliefert, die auch die neuen homophoben Ausfälle wieder linker Labourpolitiker immer noch sehr gut erklären.
Neu an Eribons Text ist die Beschreibung seiner Sprachverwandlung und der damit einhergehende Weg eines jeden bewussten jungen Homosexuellen in die Großstadt Paris als Einstieg in seinen Aufstieg. Sein Buch wird schon in den paar supergenauen Beschreibungen seiner Sprachverwandlung zu einem Meisterwerk. "Auch das Sprechen", schreibt er, "musste ich von Grund auf neu lernen: fehlerhafte Aussprachen oder Wendungen korrigieren, Regionalismen verlernen (nicht länger sagen, dass ein Apfel ,stolz', sondern dass er ,sauer' ist), den Zungenschlag sowohl des Nordostens als auch der Arbeiterschicht ablegen, mir ein feineres Vokabular und präzisere grammatische Konstruktionen angewöhnen - kurz: Ich musste meine Sprache und meine Ausdrucksweise permanent überwachen." Und das gelingt ihm so gut, dass niemand in Paris mehr seine Herkunft auch nur ahnt und er zum Starintellektuellen wird, der selber sein ganzes Leben als schwul begreift: "Ein schwules Kind, ein schwuler Heranwachsender, kein Arbeiterkind." Bis er eben neben seiner Mutter auf dem Sofa sitzt und ihm die schamvolle Erkenntnis kommt, dass es ihm immer leichter gefallen ist, über sexuelle Scham zu schreiben als über soziale. Was dann folgt, ist die eigentliche Ungeheuerlichkeit der empirisch-theoretischen Analyse seiner Biographie angesichts seines Erfolgs. Es erscheint ihm, als sei die Untersuchung der Konstitution homosexueller und anderer minoritärer Subjektivitäten "mit ihren komplexen Mechanismen des Sich-Verschweigens und Sich-Bekennens heute geachtet und achtbar, ja politisch gewollt, wenn es dabei um Sexualität geht, als sei sie aber höchst problematisch und in den Kategorien des öffentlichen Diskurses so gut wie gar nicht vertreten, wenn sie die Herkunft aus einer niedrigen sozialen Schicht zum Thema hat".
Eribons Buch ist die unter dieser These sehr klar zur historischen und theoretischen Analyse geformte Biographie, die zu erfassen versucht, wie gerade unter den Beschreibungen minoritärer Subjektivierungsprozesse die soziale Frage auf eine Weise verschwinden konnte, dass sie die Abgehängten von Reims unter dem Siegel emanzipatorischer Mikropolitiken noch einmal abhängte.
In diesem Punkt verschränkt sich Eribons "Rückkehr nach Reims", im französischen Original bereits 2009 erschienen, mit einem anderen gerade ins Deutsche übertragenen Buch auf ebenso ungeheuerliche Weise: mit Paul B. Preciados "Testo Junkie". Preciado ist 1970 im spanischen Burgos als Beatriz Preciado geboren. Die Automobilindustrie boomte noch. Ihr Vater betrieb die erste und größte Autowerkstatt in Burgos, "einer gotischen Stadt voller Pfarrer und Militärs". Für General Franco, den Diktator Spaniens, war Burgos die symbolische Hauptstadt des faschistischen Spaniens. Die "Garage Centrale", die Werkstatt des Vaters, lag in der Rue du General Mola, benannt nach dem Anführer des Aufstands gegen das republikanische Spanien 1936. Die Kunden des Vaters sind die Reichen und Würdenträger des Franco-Regimes. "Zu Hause gab es keine Bücher, nur Autos", heißt es in einer der vielen knappklaren Situationsbeschreibungen. Dafür muss es die Oldtimersammlung des Vaters in sich gehabt haben, sie reicht von einem schwarzen Mercedes "Lola Flores" bis zu einem Citroën von 1928 mit seinem "Froscharsch" und einem Cadillac mit acht Zylindern. Alt wurde die Sammlung aber nicht, der Vater hatte sein Geld in eine Fabrik zur Ziegelherstellung investiert, mit der es in der Erdölkrise von 1975 bergab ging, zufälligerweise gleichzeitig mit der Diktatur Francos. "Am Ende konnte er den Konkurs seiner Fabrik nur abwenden, indem er seine Autosammlung verkaufte", schreibt Preciado und fährt fort: "Da habe ich geweint. Zwischenzeitlich wuchs ich auf als eine Art Tomboy. Darüber hat mein Vater geweint."
Es ist nur eine Seite, auf der Preciado ihre Herkunft aus der spanischen Mittelschicht des Franco-Regimes, ihre Technikaffinität und die Tatsache, dass sie sich nie als die Frau oder das Mädchen fühlte, als das man sie benannt und damit definiert hatte, beschreibt. Wobei die schlichte Schönheit der Sprache mit der der Autos korrespondiert. Die Automobilindustrie hatte eine eigene Form der Produktion und des Konsums erzeugt und definiert, "eine sleeke, polychrome Ästhetik der unbelebten Objekte, eine spezifische Weise, den Innenraum zu denken und die Stadt zu bewohnen, eine konfliktuelle Aufteilung zwischen Körper und Maschine, einen diskontinuierlichen Strom der Wünsche und des Widerstands", wie es heißt. Formen und Zustände, die man Preciado noch mit in die Wiege gelegt hatte, denen aber nicht erst seit der Energiekrise der 70er Jahre bestimmt nicht die Zukunft gehört. Die globale Ökonomie begann ihre neuen Wachstumsfelder in biochemischen, elektronischen und digitalen Industrien ebenso zu suchen wie auf dem weiten Feld der Kommunikation. Es sei allerdings aussichtslos, meint Preciado, zu versuchen, mit den Diskursen dieser neuen Wachtstumsindustrien das Neue, das die Wertschöpfung der Gesellschaften bis heute tiefgreifend verändert und die Transformation des Lebens beschleunigt, zu erklären. Die für Preciado grundlegende Frage - "Wie konnte Geschlecht und Sexualität zum zentralen politischen und ökonomischen Einsatz werden?" - kann aus den Spezialdiskursen heraus nicht beantwortet werden. Das kann nur eine körperpolitische Analyse der Weltökonomie. Und Preciados Buch ist die Prolegomena zu einer körperpolitischen Analyse der Weltökonomie unter dem Einsatz des eigenen Körpers, angereichert um die auch klassischen Texte der Philosophiegeschichte.
Denn auf dem Weg von Beatriz zu Paul B. Preciado kamen auch die Bücher in ihr Leben und damit auch Baruch de Spinozas Feststellung, dass wir nicht wissen, was der Körper vermag. Eine Frage, die sich noch dringlicher stellt, wenn man bemerkt, dass der eigene Körper nicht so ist, wie einem immer gesagt wurde, dass er sei.
Wie kommt man also aus dem Körper heraus, von dem man merkt, dass er nicht das ist, was Väter, Ärzte und Ämter einem sagen? Preciados konkreten Weg kann man 1998 mit einem Drag-King-Workshop in New York beginnen lassen. Dort ging es unter anderem darum, diesen Status von Männlichkeit zu erlernen, "der gebraucht wird, um zur herrschenden Klasse zu gehören". Macht, hatte Foucault gesagt, existiere nicht außerhalb der Techniken, die in ihrer Theatralisierung eingesetzt werden. Und die Performance einer übertriebenen Maskulinität funktioniert auch bei Preciado gut, bis sie an der Universität von Santiago de Chile selbst einen Drag-King-Workshop gibt - und eine Hörerin sie als "Repräsentantin der heteropatriarchalen und kolonialen Ordnung" angreift.
Zweifelsfrei ist Preciado weiß, spanisch und mit einem Doktortitel der Universität Princeton ausgezeichnet. Was dann aber aus dem heftigen Streit folgt, kann man als kollektive Wiederaneignung des öffentlichen Raums als agonistisches Feld direkter argumentativer Auseinandersetzung beschreiben. Fast schon als Utopie: 35 Frauen arbeiteten an diesem Wintertag im August in Santiago de Chile am Drag-King-Werden. Es waren militante Mütter aus der feministischen Linken der Allende-Zeit, und mit ihnen kamen Großmütter, Töchter und Nichten. Manche sind ältere Lesben, dazu Paare, Frauen aus der "working poor", die niemals das Land verlassen hatten, auch Mädchen aus der Bourgeoisie, die später an amerikanischen Universitäten studieren würden. Und der Witz bei der Sache war, dass es nach dem Streit nicht mehr um männliche Herrschaft und weibliche Unterwerfung ging, sondern um den Widerstand gegen die Herrschaft im Allgemeinen: um die Weigerung aufzugeben.
CORD RIECHELMANN.
Didier Eribon: "Rückkehr nach Reims". Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn. Edition Suhrkamp, Berlin 2016, 238 Seiten Paul B. Preciado: "Testo Junkie". Aus dem Französischen von Stephan Geene. b_books, Berlin 2016, 455 Seiten
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Didier Eribons und Paul B. Preciados erregende Biographien sind zugleich eine Theorie über den blinden Fleck der Gegenwart: das verlorene Bewusstsein für soziale Lagen
Als der Soziologe Didier Eribon nach dem Tod und der Beerdigung seines Vaters sich endlich entschließt, seine Mutter zu besuchen, überfällt ihn eine ganz besondere Scham. Eribon, hierzulande vor allem als Autor einer schon klassischen und immer noch maßgeblichen Biographie Michel Foucaults bekannt, ist 1953 in Reims in das alte Arbeitermilieu hineingeboren worden. Ein Milieu, dem der heute in Frankreich fernsehbekannte Professor und öffentliche Intellektuelle erfolgreich entflohen war, wie er bis zu diesem Moment im Haus seiner Eltern, neben seiner Mutter sitzend, über alte Familienfotos gebeugt, selbst dachte.
Entsetzt muss er feststellen, wie unmittelbar die in der Vergangenheit fotografierten Körper, viel mehr noch als bewegte oder leibhaftig vor uns stehende, ihm als soziale Körper, als "Körper einer Klasse" buchstäblich ins Auge springen. Aus den Physiognomien der Häuser im Hintergrund der Fotos, aus den Inneneinrichtungen, aus den Klamotten, aus den Körpern selbst lässt sich nichts anderes lesen, als dass der öffentlich zu allen möglichen politischen und gesellschaftlichen Themen befragte Intellektuelle Didier Eribon ein Kind genau dieses Arbeitermilieus, dieses Arbeiterelends ist.
Und als er vor den Fotos die Tatsache seiner Herkunft nicht mehr übersehen kann, kriecht ihm die ganz besondere Scham, die "soziale Scham", wie Eribon sie nennt, den Rücken hoch. Eribon beschreibt den Punkt der Aktivierung der sozialen Scham in sich so unaufgeregt klar, dass man im ersten Moment gar nicht merkt, dass hier nicht nur der Schlüssel zum Verständnis einer persönlichen Verstörung liegt. Eribon fügt sich mit seiner Verwischung oder, genauer: Verschleierung seiner Herkunft in die allgemeine Geschichte Frankreichs ein, seine scheinbar nur biographischen Notizen fügen sich in den allgemeinen Gang der französischen Gesellschaft. Eribons Biographie wird exemplarisch für das Versagen der Eliten vor den "einfachen Leuten", den Arbeitern, die heute keine Arbeit mehr haben wie sein älterer Bruder. Während Didier als "Allererster" seiner Familie das Gymnasium besuchen darf, bricht der Bruder die Schule ab, macht eine Metzgerlehre und lebt heute in Belgien von der Sozialhilfe. Das Tragen der Schweine- und Rinderhälften hat seine Schulter ruiniert, so dass er auch keine anderen Arbeiten mehr ausführen kann. In den letzten Jahren war er wie auch die jüngeren Brüder Didiers ein treuer Anhänger des Front National (FN) von Marine Le Pen.
Der Schock, der Eribon angesichts des vom FN beherrschten Milieus bei seiner Rückkehr nach Reims in Körper und Hirn fährt, hat aber nicht nur damit zu tun, dass das Reims seiner Kindheit in den 1950er und 60er Jahren wie selbstverständlich "kommunistisch" gewesen war, in dem Sinn, "dass die Bindung an die Kommunistische Partei als eine Art politisches Ordnungsprinzip den Horizont des Verhältnisses zur Politik überhaupt bestimmte", wie er schreibt. Sein Schock folgt vielmehr aus der tieferen Einsicht in seinen eigenen Anteil am Verrat der "einfachen Leute" - und das, obwohl er sich als Linker, als Verfechter emanzipatorischer Politiken begreift.
Eribon realisiert erst auf dem Sofa seiner Mutter, dass seine Emanzipation aus dem Arbeitermilieu substantiell ein Teil der Geschichte des ewigen Siegs der Herrschenden über die Beherrschten ist. Die Zeitbombe, die er gerade jetzt, aktuell, damit zündet, hat vor allem damit zu tun, dass Eribon weltweit als einer der Soziologen und Denker homosexueller beziehungsweise schwuler, also männlich-minoritärer Subjektivierungsprozesse gilt. Sein Erfolg, seine "Klassenflucht" verdankt sich nämlich wesentlich seiner bewussten Homosexualität. Und so, wie Eribon seine Abwanderung aus seinem Herkunftsmilieu beschreibt, bleibt sie in ihrer Klarheit in jedem Moment nachvollziehbar. Als trotzkistischer Gymnasiast fällt es ihm leicht, von der "Arbeiterklasse" und von der "permanenten Revolution" zu schwärmen, nur im Umgang mit konkreten Arbeitern, also auch seiner Familie, wird es schwierig. Die in jedem Gespräch anklingenden rassistischen Bemerkungen und homophoben Anspielungen nerven. Dabei ist die flächendeckende Homophobie der Arbeiterklasse keine neue Erkenntnis Eribons; die britische Popjournalistin Julie Burchill hat in den frühen 1980er Jahren gegen die allzu arbeiterfreundliche Poplinke schneidend genaue Berichte von der Homophobie der britischen Gewerkschaften und des linken Flügels der Labour Party geliefert, die auch die neuen homophoben Ausfälle wieder linker Labourpolitiker immer noch sehr gut erklären.
Neu an Eribons Text ist die Beschreibung seiner Sprachverwandlung und der damit einhergehende Weg eines jeden bewussten jungen Homosexuellen in die Großstadt Paris als Einstieg in seinen Aufstieg. Sein Buch wird schon in den paar supergenauen Beschreibungen seiner Sprachverwandlung zu einem Meisterwerk. "Auch das Sprechen", schreibt er, "musste ich von Grund auf neu lernen: fehlerhafte Aussprachen oder Wendungen korrigieren, Regionalismen verlernen (nicht länger sagen, dass ein Apfel ,stolz', sondern dass er ,sauer' ist), den Zungenschlag sowohl des Nordostens als auch der Arbeiterschicht ablegen, mir ein feineres Vokabular und präzisere grammatische Konstruktionen angewöhnen - kurz: Ich musste meine Sprache und meine Ausdrucksweise permanent überwachen." Und das gelingt ihm so gut, dass niemand in Paris mehr seine Herkunft auch nur ahnt und er zum Starintellektuellen wird, der selber sein ganzes Leben als schwul begreift: "Ein schwules Kind, ein schwuler Heranwachsender, kein Arbeiterkind." Bis er eben neben seiner Mutter auf dem Sofa sitzt und ihm die schamvolle Erkenntnis kommt, dass es ihm immer leichter gefallen ist, über sexuelle Scham zu schreiben als über soziale. Was dann folgt, ist die eigentliche Ungeheuerlichkeit der empirisch-theoretischen Analyse seiner Biographie angesichts seines Erfolgs. Es erscheint ihm, als sei die Untersuchung der Konstitution homosexueller und anderer minoritärer Subjektivitäten "mit ihren komplexen Mechanismen des Sich-Verschweigens und Sich-Bekennens heute geachtet und achtbar, ja politisch gewollt, wenn es dabei um Sexualität geht, als sei sie aber höchst problematisch und in den Kategorien des öffentlichen Diskurses so gut wie gar nicht vertreten, wenn sie die Herkunft aus einer niedrigen sozialen Schicht zum Thema hat".
Eribons Buch ist die unter dieser These sehr klar zur historischen und theoretischen Analyse geformte Biographie, die zu erfassen versucht, wie gerade unter den Beschreibungen minoritärer Subjektivierungsprozesse die soziale Frage auf eine Weise verschwinden konnte, dass sie die Abgehängten von Reims unter dem Siegel emanzipatorischer Mikropolitiken noch einmal abhängte.
In diesem Punkt verschränkt sich Eribons "Rückkehr nach Reims", im französischen Original bereits 2009 erschienen, mit einem anderen gerade ins Deutsche übertragenen Buch auf ebenso ungeheuerliche Weise: mit Paul B. Preciados "Testo Junkie". Preciado ist 1970 im spanischen Burgos als Beatriz Preciado geboren. Die Automobilindustrie boomte noch. Ihr Vater betrieb die erste und größte Autowerkstatt in Burgos, "einer gotischen Stadt voller Pfarrer und Militärs". Für General Franco, den Diktator Spaniens, war Burgos die symbolische Hauptstadt des faschistischen Spaniens. Die "Garage Centrale", die Werkstatt des Vaters, lag in der Rue du General Mola, benannt nach dem Anführer des Aufstands gegen das republikanische Spanien 1936. Die Kunden des Vaters sind die Reichen und Würdenträger des Franco-Regimes. "Zu Hause gab es keine Bücher, nur Autos", heißt es in einer der vielen knappklaren Situationsbeschreibungen. Dafür muss es die Oldtimersammlung des Vaters in sich gehabt haben, sie reicht von einem schwarzen Mercedes "Lola Flores" bis zu einem Citroën von 1928 mit seinem "Froscharsch" und einem Cadillac mit acht Zylindern. Alt wurde die Sammlung aber nicht, der Vater hatte sein Geld in eine Fabrik zur Ziegelherstellung investiert, mit der es in der Erdölkrise von 1975 bergab ging, zufälligerweise gleichzeitig mit der Diktatur Francos. "Am Ende konnte er den Konkurs seiner Fabrik nur abwenden, indem er seine Autosammlung verkaufte", schreibt Preciado und fährt fort: "Da habe ich geweint. Zwischenzeitlich wuchs ich auf als eine Art Tomboy. Darüber hat mein Vater geweint."
Es ist nur eine Seite, auf der Preciado ihre Herkunft aus der spanischen Mittelschicht des Franco-Regimes, ihre Technikaffinität und die Tatsache, dass sie sich nie als die Frau oder das Mädchen fühlte, als das man sie benannt und damit definiert hatte, beschreibt. Wobei die schlichte Schönheit der Sprache mit der der Autos korrespondiert. Die Automobilindustrie hatte eine eigene Form der Produktion und des Konsums erzeugt und definiert, "eine sleeke, polychrome Ästhetik der unbelebten Objekte, eine spezifische Weise, den Innenraum zu denken und die Stadt zu bewohnen, eine konfliktuelle Aufteilung zwischen Körper und Maschine, einen diskontinuierlichen Strom der Wünsche und des Widerstands", wie es heißt. Formen und Zustände, die man Preciado noch mit in die Wiege gelegt hatte, denen aber nicht erst seit der Energiekrise der 70er Jahre bestimmt nicht die Zukunft gehört. Die globale Ökonomie begann ihre neuen Wachstumsfelder in biochemischen, elektronischen und digitalen Industrien ebenso zu suchen wie auf dem weiten Feld der Kommunikation. Es sei allerdings aussichtslos, meint Preciado, zu versuchen, mit den Diskursen dieser neuen Wachtstumsindustrien das Neue, das die Wertschöpfung der Gesellschaften bis heute tiefgreifend verändert und die Transformation des Lebens beschleunigt, zu erklären. Die für Preciado grundlegende Frage - "Wie konnte Geschlecht und Sexualität zum zentralen politischen und ökonomischen Einsatz werden?" - kann aus den Spezialdiskursen heraus nicht beantwortet werden. Das kann nur eine körperpolitische Analyse der Weltökonomie. Und Preciados Buch ist die Prolegomena zu einer körperpolitischen Analyse der Weltökonomie unter dem Einsatz des eigenen Körpers, angereichert um die auch klassischen Texte der Philosophiegeschichte.
Denn auf dem Weg von Beatriz zu Paul B. Preciado kamen auch die Bücher in ihr Leben und damit auch Baruch de Spinozas Feststellung, dass wir nicht wissen, was der Körper vermag. Eine Frage, die sich noch dringlicher stellt, wenn man bemerkt, dass der eigene Körper nicht so ist, wie einem immer gesagt wurde, dass er sei.
Wie kommt man also aus dem Körper heraus, von dem man merkt, dass er nicht das ist, was Väter, Ärzte und Ämter einem sagen? Preciados konkreten Weg kann man 1998 mit einem Drag-King-Workshop in New York beginnen lassen. Dort ging es unter anderem darum, diesen Status von Männlichkeit zu erlernen, "der gebraucht wird, um zur herrschenden Klasse zu gehören". Macht, hatte Foucault gesagt, existiere nicht außerhalb der Techniken, die in ihrer Theatralisierung eingesetzt werden. Und die Performance einer übertriebenen Maskulinität funktioniert auch bei Preciado gut, bis sie an der Universität von Santiago de Chile selbst einen Drag-King-Workshop gibt - und eine Hörerin sie als "Repräsentantin der heteropatriarchalen und kolonialen Ordnung" angreift.
Zweifelsfrei ist Preciado weiß, spanisch und mit einem Doktortitel der Universität Princeton ausgezeichnet. Was dann aber aus dem heftigen Streit folgt, kann man als kollektive Wiederaneignung des öffentlichen Raums als agonistisches Feld direkter argumentativer Auseinandersetzung beschreiben. Fast schon als Utopie: 35 Frauen arbeiteten an diesem Wintertag im August in Santiago de Chile am Drag-King-Werden. Es waren militante Mütter aus der feministischen Linken der Allende-Zeit, und mit ihnen kamen Großmütter, Töchter und Nichten. Manche sind ältere Lesben, dazu Paare, Frauen aus der "working poor", die niemals das Land verlassen hatten, auch Mädchen aus der Bourgeoisie, die später an amerikanischen Universitäten studieren würden. Und der Witz bei der Sache war, dass es nach dem Streit nicht mehr um männliche Herrschaft und weibliche Unterwerfung ging, sondern um den Widerstand gegen die Herrschaft im Allgemeinen: um die Weigerung aufzugeben.
CORD RIECHELMANN.
Didier Eribon: "Rückkehr nach Reims". Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn. Edition Suhrkamp, Berlin 2016, 238 Seiten Paul B. Preciado: "Testo Junkie". Aus dem Französischen von Stephan Geene. b_books, Berlin 2016, 455 Seiten
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.07.2016Sonnenseiten
dieses
Lesesommers
Für alle, die noch nicht wissen, welches
Buch sie in den Urlaub mitnehmen sollen –
hier die Empfehlungen der SZ-Redaktion
für Strandtasche, Rucksack und Reisekoffer.
21 Antworten auf die Frage:
Was soll ich lesen?
Die Botschaft des
Wächters
Als junger Anwalt verteidigt er einen Schwarzen, der wegen Vergewaltigung angeklagt ist, und zieht damit Wut, Spott und Verachtung der ganzen Stadt auf sich. Nur seine Tochter „Scout“ bewundert ihn für seinen Mut. Doch als sie zwanzig Jahre später von New York in ihre Heimat nach Alabama zurückkehrt, entdeckt sie in ihrem Vater Atticus Finch plötzlich einen kleinkarierten, verbissenen Rassisten. Wer nach den tödlichen Schüssen von Falcon Heights, Baton Rouge und Dallas versucht, den Rassenhass in den Vereinigten Staaten aus der Geschichte des Landes heraus zu verstehen, liest unruhig und fasziniert „Gehe hin, stelle einen Wächter“. Das Buch, das fast fünfzig Jahre lang verschollen war und erst 2014 wiederentdeckt wurde, erzählt vom alltäglichen Rassismus in den Südstaaten der Fünfzigerjahre und knüpft an Harper Lees Welterfolg „Wer die Nachtigall stört“ von 1960 an, der lange für ihr einziges Werk gehalten wurde. Verstörend, witzig, ernst, kurzweilig – alles auf einmal ist dieser Roman. Wunderbar, dass das „Wächter“-Manuskript kurz vor Harper Lees Tod in diesem Frühjahr noch gefunden wurde.
WOLFGANG KRACH
Vom Dandy zum
Kriegsgegner
Dieses Buch ist hundert Jahren alt und doch zum Fürchten aktuell. Es ist
leidenschaftlich, es ist humorvoll, es ist zum Verzweifeln; es ist menschlich. Der junge katalanische Journalist Agusti Calvet (1887 – 1964), er nennt sich Gaziel, reist im Auftrag seiner Zeitung in den Krieg, nach Griechenland und weiter nach Serbien; er reist durch das zerfallende Osteuropa. Er berichtet dabei genau von den Gespenstern, die heute wieder wach geworden sind. Sein Tagebuch erzählt vom Wahn, „die Erde als parzellierte Landkarte zu betrachten und in jedes Feld stolze oder einfach nur wohlklingende Namensschilder zu stecken“. Es berichtet von den Flüchtlingen auf der Balkanroute des Jahres 1915: „Nichts hat mich so erschüttert wie diese Scharen von Bauern, halbnackt, in Lumpen
gekleidet, die aus ihrer Heimat gejagt wurden wie menschlicher Abfall“.
Gaziel, der ein koketter Dandy war und auf dieser Reise ein klarsichtiger Kriegsgegner wurde, schildert eine Welt vor dem Untergang. Sein Buch „Nach Saloniki und Serbien“ ist nun erstmals auf Deutsch erschienen. Statt neuer Badelatschen kaufe man sich dieses Buch. HERIBERT PRANTL
Eisblumen
der Liebe
Im Sommer ein Buch über Franz Schuberts „Winterreise“ zu lesen, ist gar nicht abkühlend, denn in diesem Zyklus von 24 Liedern geht es schließlich um die Liebe eines Zurückgewiesenen. Er wandert fort, durch schneeknirschende Landschaften, schreit seine Gefühle hinaus und wispert sie in sich hinein. Selbst wer Wilhelm Müllers von Schubert vertonte Gedichte auswendig kann, wird sie ganz neu hören und sprechen, wenn er Ian Bostridges Buch gelesen hat. Bostridge ist Historiker, aber auch ein großer Liedsänger, weshalb er nicht nur Schuberts Welt und Zeit beleuchten und die Deutungslinien bis in die Gegenwart ziehen kann, er tänzelt auch zwischen Malerei, Literatur, Musik und den Naturwissenschaften so leichtfüßig hin und her, dass es eine Wonne ist. RENATE MEINHOF
Der Tod
steht ihr gut
Ein Buch über den Tod – nein, kein Krimi – als Sommerlektüre? Jawoll, geht. Denn mit Leichen kann man viel erleben. Und lernen kann man von ihnen noch mehr. Die Autorin dieser „Lektionen aus dem Krematorium“, Caitlin Doughty, ist erst 23 – jung, schön und gebildet. Dass sie zudem über warmherzigen Witz verfügt, kann man auch auf ihrem Youtube-Kanal sehen: „Ask A Mortician“ hatte in den USA schon Kultstatus, bevor sie ihre Erfahrungen als Einäscherungsgehilfin niederschrieb. Ihr Buch ist klug und unterhaltsam wie eine gute Tragikomödie. Keiner muss Angst haben, in diese Seiten des Lebens einzutauchen.
SUSANNE HERMANSKI
Die große Stadt
als Schicksal
In einer Zeitung findet George Baldwin die Meldung, dass es am Bahnübergang Eleventh Avenue wieder einen Unfall gegeben habe, ein Milchkutscher wurde verletzt. Daraus ließe sich doch, denkt der junge Anwalt, dem es an Mandanten fehlt, „eine hübsche kleine Schadenersatzklage“ machen. Er findet die Familie des Kutschers McNiel, beginnt eine Affäre mit dessen Frau, erstreitet eine stolze Entschädigungssumme. Der Milchmann steigt auf, wird Gewerkschaftsführer, der Anwalt hat Erfolg und findet doch nirgends richtig Halt. Dies sind nur zwei von vielen Lebensläufen, die John Dos Passos in seinem New-York-Panorama erzählt und durcheinanderwirbelt. „Manhattan Transfer“ erschien 1925 und machte den Autor sofort berühmt. Die Fülle der Schauplätze, Charaktere, Perspektiven, die Technik der Montage, das Spiel mit Tonfällen, der Appell an den Voyeurismus des Lesers – alles dient der Schilderung der großen Stadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie ist das Schicksal und gleichgültig gegenüber den Schicksalen ihrer Bewohner. Dirk van Gunsteren hat „Manhattan Transfer“ neu übersetzt: eine Einladung, sich lustvoll zu verlieren, in der Stadt und im Roman.
JENS BISKY
Die feinen
Unterschiede
Ein Vater stirbt. Ein Sohn macht sich auf die Suche. Was nach einem Roman- oder Filmanfang klingt, ist der autobiografische Kern eines unglaublich spannenden und bestürzend aktuellen soziopolitologischen Sachbuchs: Didier Eribon, kosmopolitischer, schwuler Pariser
Soziologe, hatte mit seiner homophoben Familie radikal gebrochen. Mit über fünfzig kehrt er erstmals in seine Heimatstadt Reims zurück, sucht, mit der Mutter das Fotoalbum durchgehend, nach Spuren seiner proletarischen Kindheit. Eine Studie über Herkunftsverleugnung, sexuelle und soziale Scham und die alles entscheidenden feinen Unterschiede in der französischen Elite. Ein autobiografischer Text, der sehr diskret und nie narzisstisch ist. Vor allem aber findet Eribon, als er sich in Reims umsieht, eine politisch verwüstete Landschaft vor: Die einfachen Arbeiter, die früher im Kollektiv links gewählt haben, sind nun, jeder für sich, zum Front National gewechselt. Aus „Notwehr“, wie
Eribon konstatiert: Die unteren Schichten versuchen so, ihre Lebensdemütigungen zu kompensieren. Beunruhigend und aufschlussreich in Zeiten von Brexit und Populismus. ALEX RÜHLE
Mit einem Fauchen
im Herzen
Elf Jahre nach ihrem Tod 2004 wurde sie – nein, nicht wiederentdeckt, dazu war sie zu unbekannt, sondern überhaupt erst entdeckt als die wohl beste amerikanische Erzählerin ihrer Generation. Eine Auswahl der rund achtzig Shortstorys, die Lucia Berlin geschrieben hat, erschien 2015 in den USA und wurde zum Bestseller. Antje Rávic Strubel hat den Band nun ins Deutsche übersetzt. Es sind harte, lakonische Geschichten aus den Eingeweiden Amerikas, literarische Polaroids von Frauen, die nah am Abgrund balancieren und sich umso fester ans Leben krallen: mit grimmigem Humor und „einem heftigen Fauchen im Herzen“. Große Absturz-
Literatur! CHRISTOPHER SCHMIDT
Kein Ende
ohne Anfang
Die Britin Jane Gardam ist fast 90 Jahre alt, sie hat bereits 25 Bücher geschrieben, doch rätselhafterweise erschien erst im vergangenen Jahr „Ein untadeliger Mann“ auf Deutsch. Es erzählt die Lebensgeschichte eines Anwalts, der London verlässt, um in Hongkong Karriere zu machen – von seiner Jugend, Karriere und Liebe. All das wird vom Ende her betrachtet, man lernt „Old Filth“ (F.i.l.t.h. für „Failed in London try Hongkong“) als alten, schrulligen, also sehr klassischen Briten kennen. Sein Leben ist fast vollendet, und Old Filth blickt zurück, während er sich die letzten Meter vorwärts bewegt. Seine Frau ist gestorben, wird aber in seinen Erinnerungen lebendig. Ihre gleichzeitige An- und Abwesenheit ist ein Hauptmotiv des Romans. Von den ersten Zeilen an schwingt Bedauern mit, das von Seite zu Seite mehr ans Herz geht
– und doch nie in den Kitsch rutscht. Aber die ganz große Erzählkunst entfaltet sich in der Verschränkung von gestern und heute, darin, wie Jane Gardam im perfekten Rhythmus die Handlungsebenen wechselt. Und so melancholisch das Buch beginnt, so tröstlich endet es, auch wenn alles auf das Unvermeidliche hinläuft.
DAVID PFEIFER
Im Vorzimmer
der BRD
Irma Nelles lernte Rudolf Augstein im Jahr 1973 kennen, sie hatte gerade als Sekretärin im Bonner Büro des Spiegel angefangen. Nelles ist eine junge Frau, seit ein paar Jahren verheiratet, Mutter von zwei Kindern und reichlich gelangweilt von ihrem Lebensentwurf. Zwischen Augstein, dem Herausgeber des berühmten Hamburger Nachrichtenmagazins, und der Sekretärin Nelles entwickelt sich in den folgenden Jahren eine Freundschaft, die einem oft sehr wunderlich erscheint. Viele Jahre später wird sie seine Büroleiterin – und beschreibt in ihrem Buch auf wunderbar sensationslose Weise einen der mächtigsten deutschen Journalisten. KATHARINA RIEHL
Warum es besser ist,
ein Offizier zu sein
Krieg ist furchtbar, mörderisch, absurd. Krieg kann aber auch komisch sein,
zumindest in der Literatur. Evelyn Waugh, geboren 1903 in London, im Juni 1966, also vor fünfzig Jahren, gestorben, war ein garstiger englischer Oberklasse-Intellektueller mit der Gabe, alles zu verspotten, auch sich selbst. Der Diogenes-Verlag legt seine Bücher neu auf, darunter das bewundernswerte „Ohne Furcht und Tadel“, ein dicker, enorm lesenswerter, nachgerade kurzweiliger Wälzer aus drei Teilen (erstmals erschienen in den Jahren 1952, 1955 und 1961). Es ist der autobiografisch unterfütterte Roman über die Kriegsjahre des Guy Crouchback, der dem Empire zwischen 1940 und 1945 unter anderem auf Kreta, in Ägypten und in Jugoslawien dient. Das Empire wiederum tritt Crouchback in Form heldenhafter oder grotesker, feiger oder überbürokratisierter Kameraden entgegen, die ihm das Leben meistens schwerer machen als die Deutschen. Man lernt in dieser Trilogie unter anderem, wie man nicht lieben sollte, warum es besser ist, ein Offizier zu sein, und wie man den Krieg gewinnt, obwohl das
Leben entweder langweilig oder gefährlich ist. KURT KISTER
Kraft der
Knappheit
Ein 16-Jähriger, der sich auf den Weg macht, nur weg von der Brutalität des Vaters und den Schrecken der Schule.
Ein alter Mann, der nach dem Tod der Tochter sein bürgerliches Leben hinter sich gelassen hat und als Penner in einem Bahnwagen vegetiert. Ein Mädchen, das nachts bei McDonald’s putzt, um seinem reichen Elternhaus zu entkommen. Sie alle treffen sich in einem kleinen Kaff in Australien, und sie werden sich gemeinsam aus Einsamkeit, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit retten. Trotz des berührenden Happy Ends schließt die Knappheit der lyrischen Sprache Steven Herricks jede Sentimentalität aus.
ROSWITHA BUDEUS-BUDDE
Manneskraft aus
der Savanne
Ein halbes Jahr war der junge Biologe Léo Grasset 2013 in der Savanne, im Hwange-Nationalpark in Simbabwe; von den Erfahrungen und Erkenntnissen dort erzählt er in „Giraffentheater“. Es ist eine fröhliche, gleichwohl dreckige Wissenschaft, die gern von der unerwarteten Seite her ihren Anlauf nimmt. „Der Honigdachs ist bekannt dafür, dass er, wenn er große Tiere angreift, vor allem auf deren Hoden losgeht.“ Aber auch: „Es heißt, er könne die Bedürftigen heilen: Ein Blick auf einen Honigdachs genüge, um wieder zu Stärke und Manneskraft zu finden.“ „Dirty Biology“ heißt Grassets Blog im Internet, irgendwie dreckig, trickreich, fies. FRITZ GÖTTLER
Fallen für Ratten,
Wölfe, Träume
Es gibt jede Menge unvergessliche Gestalten, den anarchischen Mo zum Beispiel, der noch jedes Eiapopeia-Menschenrechtsmeeting unterwandert, stiehlt, lügt und mit schlechten Antikriegsbildern dealt. Oder den Fallensteller aus der Titelgeschichte, der Fallen für alles hat, für Ratten, für Wölfe, auch für Träume. Oder aber auch den Laien-Zauberer aus dem Sägewerk, der mit stiller Entschlossenheit vor einem gnadenlos abgelenkten Publikum sein Zauberdebüt gibt. Aber wer auch nur ein bisschen Sympathie für unsere Freunde aus dem Osten hat, der wird den Russen in sein Herz schließen, einen mäßig guten Billardspieler, die Zähne gebleicht, Lyrik auf den Lippen, ein Vieh, ein Zar, „der seine Schwächen nicht versteckt, wie miese Herrscher es tun.“ Der Russe gewinnt die Billardpartie, mit Glück, ist eben ein Spieler, wie alle Figuren in Saša Stanišićs Erzählungsband „Fallensteller“. Stanišić, der 1992 aus den Resten Jugoslawiens nach Deutschland kam, hat Geschichten mit doppeltem Boden geschrieben, glitzernd wie der Schnee in der Uckermark. Sein größter Trick aber ist: eine unbändige Lust auf diese sensationelle Nummernrevue, die Leben heißt.
SONJA ZEKRI
Gestochen
scharfer Nebel
Ein Bettler spricht einen russischen
Exilanten in einem Pariser Park an,
irgendwann in den Zwanzigerjahren. Der Bettler bekommt zehn Francs, verneigt sich und geht davon, und dem Exilanten bleibt die Szene im Gedächtnis: „Die Aprilsonne neigte sich schon, und meine Phantasie – wie eine schlechte Uhr ging sie ein paar Minuten vor – ließ entlang des Gitters am Jardin du Luxembourg jenes Dämmerlicht aufkommen, das ein wenig später anbrechen sollte und zu der Zeit noch gar nicht angebrochen war.“ Mit großer Präzision wandelt in solchen Sätzen ein Erzähler zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte – aber nicht ist. Er ist ein Meister im Entwerfen von sprachlich genau erfassten, aber dann wie in Nebelgebilden verschwimmenden Beobachtungen, und so wie dieser Satz ist schließlich die ganze
Geschichte: Gaito Gasdanows erstmals 1947 publizierter Roman „Die Rückkehr des Buddha“ ist – wiederentdeckt wie das ganze Werk des russischen Exilautors, der mit „Das Phantom des Alexander Wolf“ (1948) berühmt wurde – eine Art Kriminalgeschichte, deren eigentliches Geheimnis in der Sprache verborgen ist. THOMAS STEINFELD
Mit Diana von
Oxford nach Athen
Irgendwer schlägt vor, einen Abstecher zum Balkan zu machen. Also brechen drei junge Engländer, die sich aus Oxford kennen, Anfang August 1925 zu einer Reise auf den Kontinent auf. Ihr Automobil nennen sie Diana. Die Route führt von Hamburg über Bayern, Österreich und Italien nach Athen. Den Reisebericht verfasst Robert Byron, der seinen Vorfahren, Lord Byron, nicht mag. Er gibt, mal klug, mal altklug plaudernd, Einblick in den lässigen Snobismus der Reisenden – und in ein Europa, das vom Weltkrieg gezeichnet ist. Am Ende entdeckt Byron etwas Unerwartetes: „das Bewusstsein, nicht nur Engländer zu sein, sondern auch Europäer“.
LOTHAR MÜLLER
Ein falsches
Lächeln
Der Albtraum überfällt Frau, Mann und Kind: Die Zähne fallen aus – Grusel im Schlaf. Die aus Mexiko stammende Autorin Valeria Luiselli hat das Gegenmittel auf den Markt gebracht, ein valentineskes Buch mit dem Titel „Die Geschichte meiner Zähne“. Das Werk ist auch Lesern zu empfehlen, die nie Albträume haben: Gustavo Sánchez ist ein erfolgreicher Auktionator, braucht aber ein neues
Gebiss. Er versteigert seine alten Zähne (und zwar als die von Platon, Montaigne, Rousseau) und besorgt sich neue, angeblich die von Marilyn Monroe. Valeria Luiselli hat eine traumhaft verrückte, lustige Geschichte geschrieben. Wer sich in der Literatur auskennt, wird doppelten Spaß haben. FRANZISKA AUGSTEIN
Sound des
Lebens
Zu den schönsten Momenten des Urlaubs gehört die Frage: Mit welchem Buch fange ich an? „Auerhaus“ von Bov Bjerg macht es einem da leicht. Von der ersten Zeile an entsteht ein so eigener, wunderbarer Sound, dass man ihn kaum je vergessen wird. Sechs Freunde – Höppner, Frieder, Vera, Cäcilia, Harry und Pauline – alle im Abiturientenalter, wollen ihrem Elternhaus oder der „Klapse“ entkommen. Gemeinsam beziehen sie ein heruntergekommenes Haus in der schwäbischen Provinz und beginnen „ein richtiges Leben mit Aufstehen und Frühstückmachen, mit Essenbesorgen“ – und mit den drängenden Fragen, die auf Heranwachsende einstürzen. Sie lesen Comics, Philosophen, Psychologen und Suizidanleitungen. Es geht um Eifersucht, Liebe und Sex, um Klauen als Wissenschaft, um Drogen, vor allem aber um das wahre Leben, das auch ein jähes Ende finden kann. So wie der Autor Rolf Böttcher sich mit „Bov Bjerg“ ein Pseudonym zugelegt hat, das beste Rockmusik verheißt, so hat er mit diesem Roman eine große Komposition aus Wahrhaftigkeit, Melancholie und Lebenswitz erschaffen, die keinen Ton zu viel und keinen Gedanken zu wenig hat. HENDRIK MUNSBERG
Das Geheimnis
der Witwe
Kann es sein, dass eine Lüge zur Wahrheit wird, wenn man nur lange genug daran festhält? Die Lebenslüge als wahres Leben? Diese Frage steht im Zentrum des Thriller-Debüts „Die Witwe“ von Fiona Barton. Die Autorin hat jahrelang für die Daily Mail als Gerichtsreporterin gearbeitet, sie kennt sich – das merkt man dem Roman an – bestens mit jenen Gespinsten aus, die Tatverdächtige als Fakten ausgeben. Die will man jetzt unbedingt von eben jener „Witwe“ erfahren. Jean heißt sie, eine unscheinbare Frau, die durch ihren Mann Glen mit einem schlimmen Verbrechen in Verbindung gebracht ist: Mord an einem Kind. Jedenfalls verdächtigt die Polizei ihn dringend. Doch dann stirbt Glen. Sofort stürzt sich eine bellende Presse auf die Witwe, jetzt kann sie es ja sagen, ob ihr Mann der Mörder war. Was weiß sie? Doch Jean tischt die gewünschte Geschichte nicht auf, spricht nur einmal davon, dass mit dem Gattentod „der Blödsinn endlich ein Ende“ habe. Ist sie Komplizin? Dumm? Oder selber Opfer? Lügt sie raffiniert – oder macht sie sich etwas vor? „Die Witwe“ zieht reichlich Suspense aus diesen kunstvoll in der Schwebe gehaltenen Fragen.
BERND GRAFF
Keiner tut gern tun,
was er tun darf
Bernd Cailloux erzählt in seinen Büchern von den sogenannten wilden Jahren. Wäre man selbst ein wildes Jahr, würde man sich allerdings über Cailloux ärgern, denn er nimmt dem Leser die Illusion, früher sei alles toller gewesen. Jetzt hat der gloriose Erzähler Cailloux ein kleines Buch mit Haschisch-Geschichten gemacht. Aber für die blanken Hedonisten ist das nichts: Es geht um die verstohlenen Momente der Jugend, um die Sorge, entdeckt zu werden, um die Lächerlichkeit sowieso. Am Schluss kriegen die Legalisierungs-Spießer zum Glück auch noch eine rein: Haschischrauchen ist Abenteuer, sagt Cailloux, und muss deshalb verboten bleiben.
HILMAR KLUTE
Deutsch lernen
mit den Schlümpfen
Diese Geschichtensammlung hat alles, was ein Strandbuch braucht: Sie ist kurz, kurzweilig, hat einen sommerlichen Umschlag, und lustig ist sie auch. Was allein schon als Leistung der 1984 geborenen syrischen Autorin Rasha Abbas gelten kann. Schließlich schreibt sie in „Die Erfindung der deutschen Grammatik“ über ein Thema, bei dem man eher Schwermut erwartet. Die meist ins Surreale überzogenen Ich-Texte handeln vom Ankommen als Geflüchtete in Deutschland. Mit einer Mischung aus Renitenz und Erfindungsreichtum nähert sich die Heldin ihrer neuen Heimat. Um Deutsch zu lernen, schaut sie die Schlümpfe. Und Behördengänge meistert sie im Computerspiel-Modus.
VERA SCHROEDER
Immer dem
Milky Way folgen
Zum Überleben braucht der Mensch vier Dinge: Wasser, Essen, Wetterschutz und Wärme. Mehr nicht. Bekommt er dann mal ein Milky Way zwischen die Zähne, kann das pures Glück bedeuten – „wildes körperliches Glück“, ausgelöst durch einen Schokoriegel. Auch die Wonne einer warmen Dusche nach wochenlangem Marsch durch die Mojave-Wüste oder das Sierra-Nevada-Hochgebirge gehört zu dieser Sorte Glückserfahrung, wie sie Christine Thürmer in „Laufen. Essen. Schlafen.“ beschreibt, ihrem sehr anschaulichen Erfahrungsbericht als Langstreckenwanderin auf den drei
großen amerikanischen Hiking-Trails zwischen Mexiko und Kanada. Einst eine knallharte Unternehmenssaniererin mit Sekretärin und Dienstwagen, brach die Geschäftsfrau 2004, nachdem ihr selber gekündigt worden war, zu ihrem ersten Trip auf – allein. Wie sich die Fränkin als „German Tourist“ einen Namen erwandert in der Szene der „Thru-Hiker“, wie sie insgesamt 12 700 Kilometer zu Fuß zurücklegt und dabei Wind und Wetter, Moskitos und Bären trotzt, ist ein Abenteuer, dem man gerne folgt – vor allem, wenn man sich dabei entspannt zurücklehnen kann.
CHRISTINE DÖSSEL
Harper Lee:Gehe hin,
stelle einen Wächter.
Roman. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann.
DVA Verlag, München 2015,
320 Seiten, 19,99 Euro.
Gaziel: Nach Saloniki
und Serbien. Eine Reise in den Ersten Weltkrieg. Berenberg Verlag,
Berlin 2016.
272 Seiten, 25 Euro.
Ian Bostridge:
Schuberts Winterreise. Lieder von Liebe und Schmerz. Aus dem
Englischen von Anabel Zettel. Verlag C.H. Beck, München 2015.
405 Seiten, 29,95 Euro. E-Book 24,99 Euro.
Caitlin Doughty: Fragen Sie ihren Bestatter.
Lektionen aus dem
Krematorium. Aus dem Englischen von Sky
Nonhoff. Verlag C.H.
Beck, München 2016.
270 Seiten, 19,95 Euro. E-Book 15,99 Euro.
John Dos Passos:
Manhattan Transfer.
Roman. Aus dem
Englischen von Dirk
van Gunsteren. Rowohlt
Verlag, Reinbek 2016.
544 Seiten, 24,95 Euro. E-Book 21,99 Euro.
Didier Eribon: Rückkehr nach Reims. Aus dem
Französischen von Tobias Haberkorn. Suhrkamp
Verlag, Berlin 2014.
240 Seiten, 18 Euro.
Lucia Berlin: Was ich
sonst noch verpasst
habe. Stories. Aus dem
Englischen von Antje
Rávic Strubel.
Arche Literatur Verlag, Zürich 2016. 384 Seiten, 22,99 Euro.
Jane Gardam:
Ein untadeliger Mann. Roman. Aus dem
Englischen von Isabel Bogdan. Carl Hanser
Verlag, München 2015.
352 Seiten, 22,90 Euro. E-Book 16,99 Euro.
Irma Nelles:
Der Herausgeber.
Erinnerungen an Rudolf Augstein. Aufbau Verlag, Berlin 2016. 320 Seiten, 22,95 Euro
E-Book 16,99 Euro
Evelyn Waugh:
Ohne Furcht und Tadel.
Aus dem Englischen
von Werner Peterich.
Diogenes Verlag,
Zürich 2016.
992 Seiten, 29 Euro,
E-Book 25,99 Euro.
Steven Herrick: Wir
beide wussten, es war was
passiert. Aus dem Englischen von Uwe-Michael Gutzschhahn.
Thienemann-Esslinger Verlag, Stuttgart 2016.
208 Seiten, 14,99 Euro. E-Book 11,99 Euro.
Léo Grasset: Giraffentheater.
Anekdoten aus der Savanne. Aus dem Französischen
von Till Bardoux. Klaus
Wagenbach Verlag, Berlin 2016. 144 Seiten, 17 Euro.
Saša Stanišić: Fallensteller. Erzählungen. Luchterhand Literaturverlag, München 2016. 288 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 15,99 Euro
Gaito Gasdanow:
Die Rückkehr des Buddha. Roman. Aus dem
Russischen von Rosemarie Tietze. Carl Hanser Verlag,
München 2016.
224 Seiten, 19,90 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Robert Byron: Europa 1925. Aus dem Englischen von Peter Torberg. Die Andere Bibliothek, Berlin 2016.
360 Seiten, 42 Euro.
Valeria Luiselli: Die
Geschichte meiner Zähne. Aus dem Spanischen
von Dagmar Ploetz.
Verlag Antje Kunstmann, München 2016.
192 Seiten, 18,95 Euro. E-Book 16,99 Euro.
Bov Bjerg:Auerhaus. Roman. Blumenbar
im Aufbau Verlag,
Berlin 2015. 240 Seiten,
18 Euro. E-Book
13,99 Euro.
Fiona Barton: Die Witwe. Ein liebender Ehemann oder ein kaltblütiger
Mörder . . . Was weiß sie wirklich? Roman.
Wunderlich Verlag,
Reinbek 2016.
432 Seiten, 16,99 Euro. E-Book 14,99 Euro.
Bernd Cailloux:
Surabaya Gold – Haschischgeschichten. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 139 Seiten, 10 Euro.
Rasha Abbas: Die Erfindung der deutschen Grammatik. Kurzgeschichten. Aus dem Arabischen von Sandra Hetzl. Orlanda Frauenverlag, Berlin 2016. 160 Seiten, 12,50 Euro. E-Book 3,99 Euro.
Illustration: Tina Berning
Christine Thürmer: Laufen. Essen. Schlafen. Eine Frau, drei Trails und 12 700 Kilometer Wildnis. Malik Verlag, München 2016.
288 Seiten, 16,99 Euro. E-Book 12,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
dieses
Lesesommers
Für alle, die noch nicht wissen, welches
Buch sie in den Urlaub mitnehmen sollen –
hier die Empfehlungen der SZ-Redaktion
für Strandtasche, Rucksack und Reisekoffer.
21 Antworten auf die Frage:
Was soll ich lesen?
Die Botschaft des
Wächters
Als junger Anwalt verteidigt er einen Schwarzen, der wegen Vergewaltigung angeklagt ist, und zieht damit Wut, Spott und Verachtung der ganzen Stadt auf sich. Nur seine Tochter „Scout“ bewundert ihn für seinen Mut. Doch als sie zwanzig Jahre später von New York in ihre Heimat nach Alabama zurückkehrt, entdeckt sie in ihrem Vater Atticus Finch plötzlich einen kleinkarierten, verbissenen Rassisten. Wer nach den tödlichen Schüssen von Falcon Heights, Baton Rouge und Dallas versucht, den Rassenhass in den Vereinigten Staaten aus der Geschichte des Landes heraus zu verstehen, liest unruhig und fasziniert „Gehe hin, stelle einen Wächter“. Das Buch, das fast fünfzig Jahre lang verschollen war und erst 2014 wiederentdeckt wurde, erzählt vom alltäglichen Rassismus in den Südstaaten der Fünfzigerjahre und knüpft an Harper Lees Welterfolg „Wer die Nachtigall stört“ von 1960 an, der lange für ihr einziges Werk gehalten wurde. Verstörend, witzig, ernst, kurzweilig – alles auf einmal ist dieser Roman. Wunderbar, dass das „Wächter“-Manuskript kurz vor Harper Lees Tod in diesem Frühjahr noch gefunden wurde.
WOLFGANG KRACH
Vom Dandy zum
Kriegsgegner
Dieses Buch ist hundert Jahren alt und doch zum Fürchten aktuell. Es ist
leidenschaftlich, es ist humorvoll, es ist zum Verzweifeln; es ist menschlich. Der junge katalanische Journalist Agusti Calvet (1887 – 1964), er nennt sich Gaziel, reist im Auftrag seiner Zeitung in den Krieg, nach Griechenland und weiter nach Serbien; er reist durch das zerfallende Osteuropa. Er berichtet dabei genau von den Gespenstern, die heute wieder wach geworden sind. Sein Tagebuch erzählt vom Wahn, „die Erde als parzellierte Landkarte zu betrachten und in jedes Feld stolze oder einfach nur wohlklingende Namensschilder zu stecken“. Es berichtet von den Flüchtlingen auf der Balkanroute des Jahres 1915: „Nichts hat mich so erschüttert wie diese Scharen von Bauern, halbnackt, in Lumpen
gekleidet, die aus ihrer Heimat gejagt wurden wie menschlicher Abfall“.
Gaziel, der ein koketter Dandy war und auf dieser Reise ein klarsichtiger Kriegsgegner wurde, schildert eine Welt vor dem Untergang. Sein Buch „Nach Saloniki und Serbien“ ist nun erstmals auf Deutsch erschienen. Statt neuer Badelatschen kaufe man sich dieses Buch. HERIBERT PRANTL
Eisblumen
der Liebe
Im Sommer ein Buch über Franz Schuberts „Winterreise“ zu lesen, ist gar nicht abkühlend, denn in diesem Zyklus von 24 Liedern geht es schließlich um die Liebe eines Zurückgewiesenen. Er wandert fort, durch schneeknirschende Landschaften, schreit seine Gefühle hinaus und wispert sie in sich hinein. Selbst wer Wilhelm Müllers von Schubert vertonte Gedichte auswendig kann, wird sie ganz neu hören und sprechen, wenn er Ian Bostridges Buch gelesen hat. Bostridge ist Historiker, aber auch ein großer Liedsänger, weshalb er nicht nur Schuberts Welt und Zeit beleuchten und die Deutungslinien bis in die Gegenwart ziehen kann, er tänzelt auch zwischen Malerei, Literatur, Musik und den Naturwissenschaften so leichtfüßig hin und her, dass es eine Wonne ist. RENATE MEINHOF
Der Tod
steht ihr gut
Ein Buch über den Tod – nein, kein Krimi – als Sommerlektüre? Jawoll, geht. Denn mit Leichen kann man viel erleben. Und lernen kann man von ihnen noch mehr. Die Autorin dieser „Lektionen aus dem Krematorium“, Caitlin Doughty, ist erst 23 – jung, schön und gebildet. Dass sie zudem über warmherzigen Witz verfügt, kann man auch auf ihrem Youtube-Kanal sehen: „Ask A Mortician“ hatte in den USA schon Kultstatus, bevor sie ihre Erfahrungen als Einäscherungsgehilfin niederschrieb. Ihr Buch ist klug und unterhaltsam wie eine gute Tragikomödie. Keiner muss Angst haben, in diese Seiten des Lebens einzutauchen.
SUSANNE HERMANSKI
Die große Stadt
als Schicksal
In einer Zeitung findet George Baldwin die Meldung, dass es am Bahnübergang Eleventh Avenue wieder einen Unfall gegeben habe, ein Milchkutscher wurde verletzt. Daraus ließe sich doch, denkt der junge Anwalt, dem es an Mandanten fehlt, „eine hübsche kleine Schadenersatzklage“ machen. Er findet die Familie des Kutschers McNiel, beginnt eine Affäre mit dessen Frau, erstreitet eine stolze Entschädigungssumme. Der Milchmann steigt auf, wird Gewerkschaftsführer, der Anwalt hat Erfolg und findet doch nirgends richtig Halt. Dies sind nur zwei von vielen Lebensläufen, die John Dos Passos in seinem New-York-Panorama erzählt und durcheinanderwirbelt. „Manhattan Transfer“ erschien 1925 und machte den Autor sofort berühmt. Die Fülle der Schauplätze, Charaktere, Perspektiven, die Technik der Montage, das Spiel mit Tonfällen, der Appell an den Voyeurismus des Lesers – alles dient der Schilderung der großen Stadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie ist das Schicksal und gleichgültig gegenüber den Schicksalen ihrer Bewohner. Dirk van Gunsteren hat „Manhattan Transfer“ neu übersetzt: eine Einladung, sich lustvoll zu verlieren, in der Stadt und im Roman.
JENS BISKY
Die feinen
Unterschiede
Ein Vater stirbt. Ein Sohn macht sich auf die Suche. Was nach einem Roman- oder Filmanfang klingt, ist der autobiografische Kern eines unglaublich spannenden und bestürzend aktuellen soziopolitologischen Sachbuchs: Didier Eribon, kosmopolitischer, schwuler Pariser
Soziologe, hatte mit seiner homophoben Familie radikal gebrochen. Mit über fünfzig kehrt er erstmals in seine Heimatstadt Reims zurück, sucht, mit der Mutter das Fotoalbum durchgehend, nach Spuren seiner proletarischen Kindheit. Eine Studie über Herkunftsverleugnung, sexuelle und soziale Scham und die alles entscheidenden feinen Unterschiede in der französischen Elite. Ein autobiografischer Text, der sehr diskret und nie narzisstisch ist. Vor allem aber findet Eribon, als er sich in Reims umsieht, eine politisch verwüstete Landschaft vor: Die einfachen Arbeiter, die früher im Kollektiv links gewählt haben, sind nun, jeder für sich, zum Front National gewechselt. Aus „Notwehr“, wie
Eribon konstatiert: Die unteren Schichten versuchen so, ihre Lebensdemütigungen zu kompensieren. Beunruhigend und aufschlussreich in Zeiten von Brexit und Populismus. ALEX RÜHLE
Mit einem Fauchen
im Herzen
Elf Jahre nach ihrem Tod 2004 wurde sie – nein, nicht wiederentdeckt, dazu war sie zu unbekannt, sondern überhaupt erst entdeckt als die wohl beste amerikanische Erzählerin ihrer Generation. Eine Auswahl der rund achtzig Shortstorys, die Lucia Berlin geschrieben hat, erschien 2015 in den USA und wurde zum Bestseller. Antje Rávic Strubel hat den Band nun ins Deutsche übersetzt. Es sind harte, lakonische Geschichten aus den Eingeweiden Amerikas, literarische Polaroids von Frauen, die nah am Abgrund balancieren und sich umso fester ans Leben krallen: mit grimmigem Humor und „einem heftigen Fauchen im Herzen“. Große Absturz-
Literatur! CHRISTOPHER SCHMIDT
Kein Ende
ohne Anfang
Die Britin Jane Gardam ist fast 90 Jahre alt, sie hat bereits 25 Bücher geschrieben, doch rätselhafterweise erschien erst im vergangenen Jahr „Ein untadeliger Mann“ auf Deutsch. Es erzählt die Lebensgeschichte eines Anwalts, der London verlässt, um in Hongkong Karriere zu machen – von seiner Jugend, Karriere und Liebe. All das wird vom Ende her betrachtet, man lernt „Old Filth“ (F.i.l.t.h. für „Failed in London try Hongkong“) als alten, schrulligen, also sehr klassischen Briten kennen. Sein Leben ist fast vollendet, und Old Filth blickt zurück, während er sich die letzten Meter vorwärts bewegt. Seine Frau ist gestorben, wird aber in seinen Erinnerungen lebendig. Ihre gleichzeitige An- und Abwesenheit ist ein Hauptmotiv des Romans. Von den ersten Zeilen an schwingt Bedauern mit, das von Seite zu Seite mehr ans Herz geht
– und doch nie in den Kitsch rutscht. Aber die ganz große Erzählkunst entfaltet sich in der Verschränkung von gestern und heute, darin, wie Jane Gardam im perfekten Rhythmus die Handlungsebenen wechselt. Und so melancholisch das Buch beginnt, so tröstlich endet es, auch wenn alles auf das Unvermeidliche hinläuft.
DAVID PFEIFER
Im Vorzimmer
der BRD
Irma Nelles lernte Rudolf Augstein im Jahr 1973 kennen, sie hatte gerade als Sekretärin im Bonner Büro des Spiegel angefangen. Nelles ist eine junge Frau, seit ein paar Jahren verheiratet, Mutter von zwei Kindern und reichlich gelangweilt von ihrem Lebensentwurf. Zwischen Augstein, dem Herausgeber des berühmten Hamburger Nachrichtenmagazins, und der Sekretärin Nelles entwickelt sich in den folgenden Jahren eine Freundschaft, die einem oft sehr wunderlich erscheint. Viele Jahre später wird sie seine Büroleiterin – und beschreibt in ihrem Buch auf wunderbar sensationslose Weise einen der mächtigsten deutschen Journalisten. KATHARINA RIEHL
Warum es besser ist,
ein Offizier zu sein
Krieg ist furchtbar, mörderisch, absurd. Krieg kann aber auch komisch sein,
zumindest in der Literatur. Evelyn Waugh, geboren 1903 in London, im Juni 1966, also vor fünfzig Jahren, gestorben, war ein garstiger englischer Oberklasse-Intellektueller mit der Gabe, alles zu verspotten, auch sich selbst. Der Diogenes-Verlag legt seine Bücher neu auf, darunter das bewundernswerte „Ohne Furcht und Tadel“, ein dicker, enorm lesenswerter, nachgerade kurzweiliger Wälzer aus drei Teilen (erstmals erschienen in den Jahren 1952, 1955 und 1961). Es ist der autobiografisch unterfütterte Roman über die Kriegsjahre des Guy Crouchback, der dem Empire zwischen 1940 und 1945 unter anderem auf Kreta, in Ägypten und in Jugoslawien dient. Das Empire wiederum tritt Crouchback in Form heldenhafter oder grotesker, feiger oder überbürokratisierter Kameraden entgegen, die ihm das Leben meistens schwerer machen als die Deutschen. Man lernt in dieser Trilogie unter anderem, wie man nicht lieben sollte, warum es besser ist, ein Offizier zu sein, und wie man den Krieg gewinnt, obwohl das
Leben entweder langweilig oder gefährlich ist. KURT KISTER
Kraft der
Knappheit
Ein 16-Jähriger, der sich auf den Weg macht, nur weg von der Brutalität des Vaters und den Schrecken der Schule.
Ein alter Mann, der nach dem Tod der Tochter sein bürgerliches Leben hinter sich gelassen hat und als Penner in einem Bahnwagen vegetiert. Ein Mädchen, das nachts bei McDonald’s putzt, um seinem reichen Elternhaus zu entkommen. Sie alle treffen sich in einem kleinen Kaff in Australien, und sie werden sich gemeinsam aus Einsamkeit, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit retten. Trotz des berührenden Happy Ends schließt die Knappheit der lyrischen Sprache Steven Herricks jede Sentimentalität aus.
ROSWITHA BUDEUS-BUDDE
Manneskraft aus
der Savanne
Ein halbes Jahr war der junge Biologe Léo Grasset 2013 in der Savanne, im Hwange-Nationalpark in Simbabwe; von den Erfahrungen und Erkenntnissen dort erzählt er in „Giraffentheater“. Es ist eine fröhliche, gleichwohl dreckige Wissenschaft, die gern von der unerwarteten Seite her ihren Anlauf nimmt. „Der Honigdachs ist bekannt dafür, dass er, wenn er große Tiere angreift, vor allem auf deren Hoden losgeht.“ Aber auch: „Es heißt, er könne die Bedürftigen heilen: Ein Blick auf einen Honigdachs genüge, um wieder zu Stärke und Manneskraft zu finden.“ „Dirty Biology“ heißt Grassets Blog im Internet, irgendwie dreckig, trickreich, fies. FRITZ GÖTTLER
Fallen für Ratten,
Wölfe, Träume
Es gibt jede Menge unvergessliche Gestalten, den anarchischen Mo zum Beispiel, der noch jedes Eiapopeia-Menschenrechtsmeeting unterwandert, stiehlt, lügt und mit schlechten Antikriegsbildern dealt. Oder den Fallensteller aus der Titelgeschichte, der Fallen für alles hat, für Ratten, für Wölfe, auch für Träume. Oder aber auch den Laien-Zauberer aus dem Sägewerk, der mit stiller Entschlossenheit vor einem gnadenlos abgelenkten Publikum sein Zauberdebüt gibt. Aber wer auch nur ein bisschen Sympathie für unsere Freunde aus dem Osten hat, der wird den Russen in sein Herz schließen, einen mäßig guten Billardspieler, die Zähne gebleicht, Lyrik auf den Lippen, ein Vieh, ein Zar, „der seine Schwächen nicht versteckt, wie miese Herrscher es tun.“ Der Russe gewinnt die Billardpartie, mit Glück, ist eben ein Spieler, wie alle Figuren in Saša Stanišićs Erzählungsband „Fallensteller“. Stanišić, der 1992 aus den Resten Jugoslawiens nach Deutschland kam, hat Geschichten mit doppeltem Boden geschrieben, glitzernd wie der Schnee in der Uckermark. Sein größter Trick aber ist: eine unbändige Lust auf diese sensationelle Nummernrevue, die Leben heißt.
SONJA ZEKRI
Gestochen
scharfer Nebel
Ein Bettler spricht einen russischen
Exilanten in einem Pariser Park an,
irgendwann in den Zwanzigerjahren. Der Bettler bekommt zehn Francs, verneigt sich und geht davon, und dem Exilanten bleibt die Szene im Gedächtnis: „Die Aprilsonne neigte sich schon, und meine Phantasie – wie eine schlechte Uhr ging sie ein paar Minuten vor – ließ entlang des Gitters am Jardin du Luxembourg jenes Dämmerlicht aufkommen, das ein wenig später anbrechen sollte und zu der Zeit noch gar nicht angebrochen war.“ Mit großer Präzision wandelt in solchen Sätzen ein Erzähler zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte – aber nicht ist. Er ist ein Meister im Entwerfen von sprachlich genau erfassten, aber dann wie in Nebelgebilden verschwimmenden Beobachtungen, und so wie dieser Satz ist schließlich die ganze
Geschichte: Gaito Gasdanows erstmals 1947 publizierter Roman „Die Rückkehr des Buddha“ ist – wiederentdeckt wie das ganze Werk des russischen Exilautors, der mit „Das Phantom des Alexander Wolf“ (1948) berühmt wurde – eine Art Kriminalgeschichte, deren eigentliches Geheimnis in der Sprache verborgen ist. THOMAS STEINFELD
Mit Diana von
Oxford nach Athen
Irgendwer schlägt vor, einen Abstecher zum Balkan zu machen. Also brechen drei junge Engländer, die sich aus Oxford kennen, Anfang August 1925 zu einer Reise auf den Kontinent auf. Ihr Automobil nennen sie Diana. Die Route führt von Hamburg über Bayern, Österreich und Italien nach Athen. Den Reisebericht verfasst Robert Byron, der seinen Vorfahren, Lord Byron, nicht mag. Er gibt, mal klug, mal altklug plaudernd, Einblick in den lässigen Snobismus der Reisenden – und in ein Europa, das vom Weltkrieg gezeichnet ist. Am Ende entdeckt Byron etwas Unerwartetes: „das Bewusstsein, nicht nur Engländer zu sein, sondern auch Europäer“.
LOTHAR MÜLLER
Ein falsches
Lächeln
Der Albtraum überfällt Frau, Mann und Kind: Die Zähne fallen aus – Grusel im Schlaf. Die aus Mexiko stammende Autorin Valeria Luiselli hat das Gegenmittel auf den Markt gebracht, ein valentineskes Buch mit dem Titel „Die Geschichte meiner Zähne“. Das Werk ist auch Lesern zu empfehlen, die nie Albträume haben: Gustavo Sánchez ist ein erfolgreicher Auktionator, braucht aber ein neues
Gebiss. Er versteigert seine alten Zähne (und zwar als die von Platon, Montaigne, Rousseau) und besorgt sich neue, angeblich die von Marilyn Monroe. Valeria Luiselli hat eine traumhaft verrückte, lustige Geschichte geschrieben. Wer sich in der Literatur auskennt, wird doppelten Spaß haben. FRANZISKA AUGSTEIN
Sound des
Lebens
Zu den schönsten Momenten des Urlaubs gehört die Frage: Mit welchem Buch fange ich an? „Auerhaus“ von Bov Bjerg macht es einem da leicht. Von der ersten Zeile an entsteht ein so eigener, wunderbarer Sound, dass man ihn kaum je vergessen wird. Sechs Freunde – Höppner, Frieder, Vera, Cäcilia, Harry und Pauline – alle im Abiturientenalter, wollen ihrem Elternhaus oder der „Klapse“ entkommen. Gemeinsam beziehen sie ein heruntergekommenes Haus in der schwäbischen Provinz und beginnen „ein richtiges Leben mit Aufstehen und Frühstückmachen, mit Essenbesorgen“ – und mit den drängenden Fragen, die auf Heranwachsende einstürzen. Sie lesen Comics, Philosophen, Psychologen und Suizidanleitungen. Es geht um Eifersucht, Liebe und Sex, um Klauen als Wissenschaft, um Drogen, vor allem aber um das wahre Leben, das auch ein jähes Ende finden kann. So wie der Autor Rolf Böttcher sich mit „Bov Bjerg“ ein Pseudonym zugelegt hat, das beste Rockmusik verheißt, so hat er mit diesem Roman eine große Komposition aus Wahrhaftigkeit, Melancholie und Lebenswitz erschaffen, die keinen Ton zu viel und keinen Gedanken zu wenig hat. HENDRIK MUNSBERG
Das Geheimnis
der Witwe
Kann es sein, dass eine Lüge zur Wahrheit wird, wenn man nur lange genug daran festhält? Die Lebenslüge als wahres Leben? Diese Frage steht im Zentrum des Thriller-Debüts „Die Witwe“ von Fiona Barton. Die Autorin hat jahrelang für die Daily Mail als Gerichtsreporterin gearbeitet, sie kennt sich – das merkt man dem Roman an – bestens mit jenen Gespinsten aus, die Tatverdächtige als Fakten ausgeben. Die will man jetzt unbedingt von eben jener „Witwe“ erfahren. Jean heißt sie, eine unscheinbare Frau, die durch ihren Mann Glen mit einem schlimmen Verbrechen in Verbindung gebracht ist: Mord an einem Kind. Jedenfalls verdächtigt die Polizei ihn dringend. Doch dann stirbt Glen. Sofort stürzt sich eine bellende Presse auf die Witwe, jetzt kann sie es ja sagen, ob ihr Mann der Mörder war. Was weiß sie? Doch Jean tischt die gewünschte Geschichte nicht auf, spricht nur einmal davon, dass mit dem Gattentod „der Blödsinn endlich ein Ende“ habe. Ist sie Komplizin? Dumm? Oder selber Opfer? Lügt sie raffiniert – oder macht sie sich etwas vor? „Die Witwe“ zieht reichlich Suspense aus diesen kunstvoll in der Schwebe gehaltenen Fragen.
BERND GRAFF
Keiner tut gern tun,
was er tun darf
Bernd Cailloux erzählt in seinen Büchern von den sogenannten wilden Jahren. Wäre man selbst ein wildes Jahr, würde man sich allerdings über Cailloux ärgern, denn er nimmt dem Leser die Illusion, früher sei alles toller gewesen. Jetzt hat der gloriose Erzähler Cailloux ein kleines Buch mit Haschisch-Geschichten gemacht. Aber für die blanken Hedonisten ist das nichts: Es geht um die verstohlenen Momente der Jugend, um die Sorge, entdeckt zu werden, um die Lächerlichkeit sowieso. Am Schluss kriegen die Legalisierungs-Spießer zum Glück auch noch eine rein: Haschischrauchen ist Abenteuer, sagt Cailloux, und muss deshalb verboten bleiben.
HILMAR KLUTE
Deutsch lernen
mit den Schlümpfen
Diese Geschichtensammlung hat alles, was ein Strandbuch braucht: Sie ist kurz, kurzweilig, hat einen sommerlichen Umschlag, und lustig ist sie auch. Was allein schon als Leistung der 1984 geborenen syrischen Autorin Rasha Abbas gelten kann. Schließlich schreibt sie in „Die Erfindung der deutschen Grammatik“ über ein Thema, bei dem man eher Schwermut erwartet. Die meist ins Surreale überzogenen Ich-Texte handeln vom Ankommen als Geflüchtete in Deutschland. Mit einer Mischung aus Renitenz und Erfindungsreichtum nähert sich die Heldin ihrer neuen Heimat. Um Deutsch zu lernen, schaut sie die Schlümpfe. Und Behördengänge meistert sie im Computerspiel-Modus.
VERA SCHROEDER
Immer dem
Milky Way folgen
Zum Überleben braucht der Mensch vier Dinge: Wasser, Essen, Wetterschutz und Wärme. Mehr nicht. Bekommt er dann mal ein Milky Way zwischen die Zähne, kann das pures Glück bedeuten – „wildes körperliches Glück“, ausgelöst durch einen Schokoriegel. Auch die Wonne einer warmen Dusche nach wochenlangem Marsch durch die Mojave-Wüste oder das Sierra-Nevada-Hochgebirge gehört zu dieser Sorte Glückserfahrung, wie sie Christine Thürmer in „Laufen. Essen. Schlafen.“ beschreibt, ihrem sehr anschaulichen Erfahrungsbericht als Langstreckenwanderin auf den drei
großen amerikanischen Hiking-Trails zwischen Mexiko und Kanada. Einst eine knallharte Unternehmenssaniererin mit Sekretärin und Dienstwagen, brach die Geschäftsfrau 2004, nachdem ihr selber gekündigt worden war, zu ihrem ersten Trip auf – allein. Wie sich die Fränkin als „German Tourist“ einen Namen erwandert in der Szene der „Thru-Hiker“, wie sie insgesamt 12 700 Kilometer zu Fuß zurücklegt und dabei Wind und Wetter, Moskitos und Bären trotzt, ist ein Abenteuer, dem man gerne folgt – vor allem, wenn man sich dabei entspannt zurücklehnen kann.
CHRISTINE DÖSSEL
Harper Lee:Gehe hin,
stelle einen Wächter.
Roman. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann.
DVA Verlag, München 2015,
320 Seiten, 19,99 Euro.
Gaziel: Nach Saloniki
und Serbien. Eine Reise in den Ersten Weltkrieg. Berenberg Verlag,
Berlin 2016.
272 Seiten, 25 Euro.
Ian Bostridge:
Schuberts Winterreise. Lieder von Liebe und Schmerz. Aus dem
Englischen von Anabel Zettel. Verlag C.H. Beck, München 2015.
405 Seiten, 29,95 Euro. E-Book 24,99 Euro.
Caitlin Doughty: Fragen Sie ihren Bestatter.
Lektionen aus dem
Krematorium. Aus dem Englischen von Sky
Nonhoff. Verlag C.H.
Beck, München 2016.
270 Seiten, 19,95 Euro. E-Book 15,99 Euro.
John Dos Passos:
Manhattan Transfer.
Roman. Aus dem
Englischen von Dirk
van Gunsteren. Rowohlt
Verlag, Reinbek 2016.
544 Seiten, 24,95 Euro. E-Book 21,99 Euro.
Didier Eribon: Rückkehr nach Reims. Aus dem
Französischen von Tobias Haberkorn. Suhrkamp
Verlag, Berlin 2014.
240 Seiten, 18 Euro.
Lucia Berlin: Was ich
sonst noch verpasst
habe. Stories. Aus dem
Englischen von Antje
Rávic Strubel.
Arche Literatur Verlag, Zürich 2016. 384 Seiten, 22,99 Euro.
Jane Gardam:
Ein untadeliger Mann. Roman. Aus dem
Englischen von Isabel Bogdan. Carl Hanser
Verlag, München 2015.
352 Seiten, 22,90 Euro. E-Book 16,99 Euro.
Irma Nelles:
Der Herausgeber.
Erinnerungen an Rudolf Augstein. Aufbau Verlag, Berlin 2016. 320 Seiten, 22,95 Euro
E-Book 16,99 Euro
Evelyn Waugh:
Ohne Furcht und Tadel.
Aus dem Englischen
von Werner Peterich.
Diogenes Verlag,
Zürich 2016.
992 Seiten, 29 Euro,
E-Book 25,99 Euro.
Steven Herrick: Wir
beide wussten, es war was
passiert. Aus dem Englischen von Uwe-Michael Gutzschhahn.
Thienemann-Esslinger Verlag, Stuttgart 2016.
208 Seiten, 14,99 Euro. E-Book 11,99 Euro.
Léo Grasset: Giraffentheater.
Anekdoten aus der Savanne. Aus dem Französischen
von Till Bardoux. Klaus
Wagenbach Verlag, Berlin 2016. 144 Seiten, 17 Euro.
Saša Stanišić: Fallensteller. Erzählungen. Luchterhand Literaturverlag, München 2016. 288 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 15,99 Euro
Gaito Gasdanow:
Die Rückkehr des Buddha. Roman. Aus dem
Russischen von Rosemarie Tietze. Carl Hanser Verlag,
München 2016.
224 Seiten, 19,90 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Robert Byron: Europa 1925. Aus dem Englischen von Peter Torberg. Die Andere Bibliothek, Berlin 2016.
360 Seiten, 42 Euro.
Valeria Luiselli: Die
Geschichte meiner Zähne. Aus dem Spanischen
von Dagmar Ploetz.
Verlag Antje Kunstmann, München 2016.
192 Seiten, 18,95 Euro. E-Book 16,99 Euro.
Bov Bjerg:Auerhaus. Roman. Blumenbar
im Aufbau Verlag,
Berlin 2015. 240 Seiten,
18 Euro. E-Book
13,99 Euro.
Fiona Barton: Die Witwe. Ein liebender Ehemann oder ein kaltblütiger
Mörder . . . Was weiß sie wirklich? Roman.
Wunderlich Verlag,
Reinbek 2016.
432 Seiten, 16,99 Euro. E-Book 14,99 Euro.
Bernd Cailloux:
Surabaya Gold – Haschischgeschichten. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 139 Seiten, 10 Euro.
Rasha Abbas: Die Erfindung der deutschen Grammatik. Kurzgeschichten. Aus dem Arabischen von Sandra Hetzl. Orlanda Frauenverlag, Berlin 2016. 160 Seiten, 12,50 Euro. E-Book 3,99 Euro.
Illustration: Tina Berning
Christine Thürmer: Laufen. Essen. Schlafen. Eine Frau, drei Trails und 12 700 Kilometer Wildnis. Malik Verlag, München 2016.
288 Seiten, 16,99 Euro. E-Book 12,99 Euro.
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»... das Buch der Stunde, menschlich zutiefst berührend und aufschlussreich.« Michaela Maria Müller Frankfurter Rundschau 20161119