Kiew, 1919: In den Wirren nach der Russischen Revolution stößt der junge Samson, gerade zur Vollwaise geworden, beinahe durch Zufall zur neuen sowjetischen Polizei. Sein erster Fall ist gleich äußerst mysteriös: Ein abgeschnittenes Ohr, ein Knochen aus reinem Silber und ein Anzug aus feinem englischem Tuch geben ihm Rätsel auf. Doch die Zeiten sind gefährlich und halten jeden Tag neue Überraschungen bereit. Zum Glück lernt Samson die patente Nadjeschda kennen, die ihm bei den Ermittlungen hilft und an die er schon bald sein Herz verliert.
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»Andrej Kurkow hat diese gewissen Nebensätze, die so lakonisch sind, dass man von ihm sogar die Gebrauchsanweisung eines Rasenmähers lesen würde.« Bettina Göcmener / Die Welt Die Welt
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Fritz Göttler liest interessiert Andrej Kurkows Kriminalroman "Samson und Nadjeschda". Der ukrainische Autor erzählt darin ohne Partei zu ergreifen und vor dem Hintergrund des 1919 von Bürgerkrieg und Sozialismus geprägten Kiews von Samson, der als Ermittler bei der Miliz eingestellt wird und bald darauf Schnittmustern, bedrohlichen Wandbeschriftungen und einem Knochen aus Silber auf der Spur ist, erklärt Göttler. Und auch die Liebe findet daneben Platz, denn Samson zieht mit der jungen im Amt für Statistik arbeitenden Nadjeschda zusammen. Die Sprache Kurkows ist dem Rezensenten zufolge märchenhaft gelassen, lustvoll improvisiert und von "behutsamer Aufbruchsstimmung" gekennzeichnet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.08.2022Unerhörte Sehnsucht nach Stille
Revolutionäre Kakophonie, und der böse Nachbar wartet schon: Der ukrainische Autor Andrej Kurkow rückt in einem Kriminalroman die Geschichte seiner Heimat ins Licht
Darf man im Krieg satirische Geschichten erzählen? Andrej Kurkow, geboren in Sankt Petersburg und aufgewachsen in Kiew, hat sich seit Beginn des russischen Angriffskrieges vom Prosaschreiben verabschiedet und sieht sich nunmehr als Dokumentarist und Kommentator des aktuellen Geschehens. Niemand sei jetzt noch mit Romanen beschäftigt. "Für mich gibt es keine Beziehung zu Russland mehr", sagte Kurkow unlängst, und als Präsident des ukrainischen PEN-Clubs fordert er gar den Total-Boykott russischer Kultur. Dass jetzt die Übersetzung des ersten Bandes von Kurkows mit Schwung und Witz erzählter Krimi-Reihe über "Samson und Nadjeschda" auf Deutsch erscheint, könnte also wundernehmen. Aber sind fiktive, satirische Geschichten, ja sogar das Lachen nicht gerade in Zeiten des Krieges wichtig, eben weil sie sich dessen Logik konsequent widersetzen?
Er selbst habe seinen Humor verloren, so Kurkow, und im Übrigen sei die einzige Errungenschaft der Europäer und Amerikaner angesichts des Angriffskrieges ihre Einsicht, dass sie nichts über die Ukraine, ihre Kultur und Geschichte wüssten. Der im Original bereits 2020 erschienene Auftaktband zur Reihe "Samson und Nadjeschda" schafft Abhilfe, denn die um 1919 in Kiew angesiedelte faktengesättigte Kriminalgeschichte über die Anfänge des ukrainischen Nationalstaates ist zugleich ein satirisches Mentalitätsporträt seiner Bewohner. Es ist dunkel in diesem Roman, dunkel und kalt, denn seit der Absetzung des Zaren herrscht Mangel an allem, an Salz, Zucker, Brot, Brennholz und Elektrizität. Im Bürgerkrieg kämpfen kosakische Aufrührer, bolschewikische Rotarmisten, von den deutschen Militärbesatzern unterstützte Nationalisten und die antibolschewikische "Weiße Armee" um die Vorherrschaft im konfessionell, ethnisch und kulturell zerklüfteten Land.
Kurkow mangelt es nicht an Reverenzen an die ukrainische Literaturgeschichte. Die schnörkellose, knappe Sprache und das Anarchisch-Absurde in einem System aus Gaunerei und Gerüchten erinnern an die grotesken Szenarien von Michail Bulgakow und Isaak Babel. Das zentrale Motiv seiner Geschichte, eine abgetrennte Ohrmuschel, verweist auf die berühmte Novelle "Die Nase" des ebenfalls ukrainischstämmigen Nikolaj Gogol. Gewalt, Chaos und eine omnipräsente subtile Ironie stehen im Mittelpunkt von Kurkows literarischer Bühne. Bereits auf der ersten Seite wird Samsons Vater von marodierenden Kosaken auf offener Straße der Schädel eingeschlagen und dem Sohn sein rechtes Ohr abgetrennt - eine Schlüsselszene, die in präzisen, schmucklosen Sätzen auch in der deutschen Übersetzung ein mitreißendes Tempo vorgibt. "Samson sah es fallen, konnte noch die Hand ausstrecken, fing es auf und hielt es festumschlossen in der Faust, während sein Vater mit gespaltenem Schädel direkt auf die Straße stürzte und das Pferd ihn mit einem beschlagenen Hinterhuf noch einmal niedertrat."
Nicht etwa, dass sich Samson in Trauer oder Selbstmitleid erginge. Unversehens kehrt er in die elterliche Wohnung zurück, schiebt nach kurzem Innehalten je eine Kugel auf dem Abakus für seinen Vater und die zuvor bereits verstorbene Mutter und Schwester hinüber, zieht "einen Strich unter sein vergangenes Leben" und wendet sich wieder den schrulligen Launen der Wirklichkeit zu.
Als unbedarfter Held stolpert Samson durch die Wirren der postrevolutionären Gesellschaft und durch sein Leben voller unwahrscheinlicher Zufälle. Weil er nicht nur lesen und schreiben, sondern auch lesbare Berichte verfassen kann, wird er unvermittelt zur Miliz der gerade in Kiew herrschenden Bolschewiken berufen. Den Doppelmord im Milieu der Silberschmuggler und Brennholzdiebe ermittelt der herrlich naive Kommissar vor allem mithilfe seines Gehörs. Die abgetrennte Ohrmuschel lässt ihn nämlich immer dort mithören, wo er das sorgfältig konservierte Organ gerade platziert. Diese Referenz an die entstehende Überwachungsgesellschaft baut Andrej Kurkow gekonnt aus zu einem auditiven Porträt des nächtlichen Kiews. In der "revolutionären Kakofonie", in der es "Waffen wie Sand am Meer und Ordnung keine mehr gibt", klappern Droschken, knarzen Holztreppen, knirschen verrostete Riegel, knallen Schüsse, erschallt das Echo davonlaufender Füße, klopft es brutal an der Tür oder klackern verräterisch die Metallbeschläge an den Stiefeln der Miliz. Ganze Szenen beschreibt Kurkow detailliert über den Gehörsinn, denn vieles spielt auf den Straßen und Plätzen der dunklen Nacht, wenn die Beleuchtung einmal mehr ausgefallen ist.
Auch am Tage sieht es derweil nicht besser aus, denn ausschließlich schlecht und ärmlich gekleidete Passanten kreuzen Samsons Wege als Ermittler, "auch wenn die Gesichter einiger sie als die Teilnehmer an einer Maskerade verrieten, bei der niemand durch seinen Aufzug auffallen wollte". Andrej Kurkow ist überzeugt, dass den Russen der Platz im Kollektiv und die systemische Stabilität wichtiger sei als die Freiheit, während die Ukrainer Individualismus und "organisierte Anarchie" vorzögen. Diese scharfe Mentalitätsanalyse findet sich auch in seinem Roman wieder. Während die aus dem Osten gesandten Bolschewiken sich einer erbarmungslosen Bürokratie unterordnen, ruft allein der Gedanke an die neue Macht bei Samson ein kummervolles Lächeln hervor: "Der finstere Himmel versprach Regen, aber das tat er schon seit dem Morgen, und das Volk hatte aufgehört, Blicke hinaufzuwerfen, weil es begriffen hatte, dass Versprechungen in der heutigen Zeit nichts wert waren. Nicht einmal die Versprechen der Natur."
Unerschütterlich bahnt Samson sich als frisch gekürter Milizionär seinen Weg durch das Chaos, in dem unsicher ist, ob man einen nächtlichen Spaziergang überlebt und welche Währung gültig, welche Gruppe an der Macht und welche politische Haltung gerade opportun ist. Samsons Verlobte Nadjeschda, eine Funktionärin im Amt für Statistik, die im vorliegenden ersten Band der Reihe nur eine Nebenrolle einnimmt, inszeniert der Autor als Beispiel des "künftigen Menschen", der "entschieden, fleißig und gutherzig sein soll". Kurkow, der auf Russisch schreibt und dessen Bücher in Russland seit Jahren verboten sind, hat mit "Samson und Nadjeschda" einen augenscheinlich unpolitischen Unterhaltungsroman geschrieben, der gleichwohl hintergründige Erkenntnisse über die ukrainische Staatswerdung und die Auseinandersetzung mit der politischen und auch kulturellen Bevormundung durch den großen Nachbarn ins Licht rückt. Er beweist, dass satirische Geschichten auch und gerade in Kriegszeiten geschrieben und gelesen werden müssen. Am Ende, als Samson mit Nadjeschdas Hilfe den Doppelmord aufklärt, erfüllt sich im bürgerkriegsgebeutelten Kiew sogar seine größte Sehnsucht, einfach der Stille zu lauschen. CORNELIUS WÜLLENKEMPER
Andrej Kurkow: "Samson und Nadjeschda". Roman.
Aus dem Russischen von Johanna Marx und Sabine Grebing. Diogenes Verlag, Zürich 2022. 367 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Revolutionäre Kakophonie, und der böse Nachbar wartet schon: Der ukrainische Autor Andrej Kurkow rückt in einem Kriminalroman die Geschichte seiner Heimat ins Licht
Darf man im Krieg satirische Geschichten erzählen? Andrej Kurkow, geboren in Sankt Petersburg und aufgewachsen in Kiew, hat sich seit Beginn des russischen Angriffskrieges vom Prosaschreiben verabschiedet und sieht sich nunmehr als Dokumentarist und Kommentator des aktuellen Geschehens. Niemand sei jetzt noch mit Romanen beschäftigt. "Für mich gibt es keine Beziehung zu Russland mehr", sagte Kurkow unlängst, und als Präsident des ukrainischen PEN-Clubs fordert er gar den Total-Boykott russischer Kultur. Dass jetzt die Übersetzung des ersten Bandes von Kurkows mit Schwung und Witz erzählter Krimi-Reihe über "Samson und Nadjeschda" auf Deutsch erscheint, könnte also wundernehmen. Aber sind fiktive, satirische Geschichten, ja sogar das Lachen nicht gerade in Zeiten des Krieges wichtig, eben weil sie sich dessen Logik konsequent widersetzen?
Er selbst habe seinen Humor verloren, so Kurkow, und im Übrigen sei die einzige Errungenschaft der Europäer und Amerikaner angesichts des Angriffskrieges ihre Einsicht, dass sie nichts über die Ukraine, ihre Kultur und Geschichte wüssten. Der im Original bereits 2020 erschienene Auftaktband zur Reihe "Samson und Nadjeschda" schafft Abhilfe, denn die um 1919 in Kiew angesiedelte faktengesättigte Kriminalgeschichte über die Anfänge des ukrainischen Nationalstaates ist zugleich ein satirisches Mentalitätsporträt seiner Bewohner. Es ist dunkel in diesem Roman, dunkel und kalt, denn seit der Absetzung des Zaren herrscht Mangel an allem, an Salz, Zucker, Brot, Brennholz und Elektrizität. Im Bürgerkrieg kämpfen kosakische Aufrührer, bolschewikische Rotarmisten, von den deutschen Militärbesatzern unterstützte Nationalisten und die antibolschewikische "Weiße Armee" um die Vorherrschaft im konfessionell, ethnisch und kulturell zerklüfteten Land.
Kurkow mangelt es nicht an Reverenzen an die ukrainische Literaturgeschichte. Die schnörkellose, knappe Sprache und das Anarchisch-Absurde in einem System aus Gaunerei und Gerüchten erinnern an die grotesken Szenarien von Michail Bulgakow und Isaak Babel. Das zentrale Motiv seiner Geschichte, eine abgetrennte Ohrmuschel, verweist auf die berühmte Novelle "Die Nase" des ebenfalls ukrainischstämmigen Nikolaj Gogol. Gewalt, Chaos und eine omnipräsente subtile Ironie stehen im Mittelpunkt von Kurkows literarischer Bühne. Bereits auf der ersten Seite wird Samsons Vater von marodierenden Kosaken auf offener Straße der Schädel eingeschlagen und dem Sohn sein rechtes Ohr abgetrennt - eine Schlüsselszene, die in präzisen, schmucklosen Sätzen auch in der deutschen Übersetzung ein mitreißendes Tempo vorgibt. "Samson sah es fallen, konnte noch die Hand ausstrecken, fing es auf und hielt es festumschlossen in der Faust, während sein Vater mit gespaltenem Schädel direkt auf die Straße stürzte und das Pferd ihn mit einem beschlagenen Hinterhuf noch einmal niedertrat."
Nicht etwa, dass sich Samson in Trauer oder Selbstmitleid erginge. Unversehens kehrt er in die elterliche Wohnung zurück, schiebt nach kurzem Innehalten je eine Kugel auf dem Abakus für seinen Vater und die zuvor bereits verstorbene Mutter und Schwester hinüber, zieht "einen Strich unter sein vergangenes Leben" und wendet sich wieder den schrulligen Launen der Wirklichkeit zu.
Als unbedarfter Held stolpert Samson durch die Wirren der postrevolutionären Gesellschaft und durch sein Leben voller unwahrscheinlicher Zufälle. Weil er nicht nur lesen und schreiben, sondern auch lesbare Berichte verfassen kann, wird er unvermittelt zur Miliz der gerade in Kiew herrschenden Bolschewiken berufen. Den Doppelmord im Milieu der Silberschmuggler und Brennholzdiebe ermittelt der herrlich naive Kommissar vor allem mithilfe seines Gehörs. Die abgetrennte Ohrmuschel lässt ihn nämlich immer dort mithören, wo er das sorgfältig konservierte Organ gerade platziert. Diese Referenz an die entstehende Überwachungsgesellschaft baut Andrej Kurkow gekonnt aus zu einem auditiven Porträt des nächtlichen Kiews. In der "revolutionären Kakofonie", in der es "Waffen wie Sand am Meer und Ordnung keine mehr gibt", klappern Droschken, knarzen Holztreppen, knirschen verrostete Riegel, knallen Schüsse, erschallt das Echo davonlaufender Füße, klopft es brutal an der Tür oder klackern verräterisch die Metallbeschläge an den Stiefeln der Miliz. Ganze Szenen beschreibt Kurkow detailliert über den Gehörsinn, denn vieles spielt auf den Straßen und Plätzen der dunklen Nacht, wenn die Beleuchtung einmal mehr ausgefallen ist.
Auch am Tage sieht es derweil nicht besser aus, denn ausschließlich schlecht und ärmlich gekleidete Passanten kreuzen Samsons Wege als Ermittler, "auch wenn die Gesichter einiger sie als die Teilnehmer an einer Maskerade verrieten, bei der niemand durch seinen Aufzug auffallen wollte". Andrej Kurkow ist überzeugt, dass den Russen der Platz im Kollektiv und die systemische Stabilität wichtiger sei als die Freiheit, während die Ukrainer Individualismus und "organisierte Anarchie" vorzögen. Diese scharfe Mentalitätsanalyse findet sich auch in seinem Roman wieder. Während die aus dem Osten gesandten Bolschewiken sich einer erbarmungslosen Bürokratie unterordnen, ruft allein der Gedanke an die neue Macht bei Samson ein kummervolles Lächeln hervor: "Der finstere Himmel versprach Regen, aber das tat er schon seit dem Morgen, und das Volk hatte aufgehört, Blicke hinaufzuwerfen, weil es begriffen hatte, dass Versprechungen in der heutigen Zeit nichts wert waren. Nicht einmal die Versprechen der Natur."
Unerschütterlich bahnt Samson sich als frisch gekürter Milizionär seinen Weg durch das Chaos, in dem unsicher ist, ob man einen nächtlichen Spaziergang überlebt und welche Währung gültig, welche Gruppe an der Macht und welche politische Haltung gerade opportun ist. Samsons Verlobte Nadjeschda, eine Funktionärin im Amt für Statistik, die im vorliegenden ersten Band der Reihe nur eine Nebenrolle einnimmt, inszeniert der Autor als Beispiel des "künftigen Menschen", der "entschieden, fleißig und gutherzig sein soll". Kurkow, der auf Russisch schreibt und dessen Bücher in Russland seit Jahren verboten sind, hat mit "Samson und Nadjeschda" einen augenscheinlich unpolitischen Unterhaltungsroman geschrieben, der gleichwohl hintergründige Erkenntnisse über die ukrainische Staatswerdung und die Auseinandersetzung mit der politischen und auch kulturellen Bevormundung durch den großen Nachbarn ins Licht rückt. Er beweist, dass satirische Geschichten auch und gerade in Kriegszeiten geschrieben und gelesen werden müssen. Am Ende, als Samson mit Nadjeschdas Hilfe den Doppelmord aufklärt, erfüllt sich im bürgerkriegsgebeutelten Kiew sogar seine größte Sehnsucht, einfach der Stille zu lauschen. CORNELIUS WÜLLENKEMPER
Andrej Kurkow: "Samson und Nadjeschda". Roman.
Aus dem Russischen von Johanna Marx und Sabine Grebing. Diogenes Verlag, Zürich 2022. 367 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.08.2022Ein anderer
Krieg
Andrej Kurkow erzählt einen
Krimi aus dem Kiew von 1919
Der Arzt holt eine kleine leere Puderschachtel, bedeckt ihren Boden mit einem Fetzen Watte, darauf legt dann Samson sein abgeschnittenes Ohr, er schließt die Schachtel und steckt sie in die Tasche seiner Feldjacke. Dann geht er mit dem Doktor, der seine Wunde verbunden hat, seinen Vater beerdigen, dessen Leiche noch auf der Straße liegt. Ein Trupp Kosaken war durch die Straße geprescht, einer hatte mit dem Säbel dem Vater den Kopf gespalten, ein anderer Samson das rechte Ohr abgehauen. Der Arzt schimpft, mit der Zunge schnalzend: „Läuft man denn etwa heutzutage auf den Straßen herum?“
Heutzutage, das ist der 11. Mai 1919 in Kiew. Eine Zeit der Anarchie, der Bürgerkrieg, der nach der russischen Revolution entbrannte, prägt auch das Leben in der Ukraine, der die Bolschewiki ihre Herrschaft aufzudrücken versuchen. Die alte Ordnung ist in Stücke gebrochen, es wird an der neuen sozialistischen Gesellschaft gebaut, bürokratisch, finanziell, ideologisch, und dafür die alte bürgerliche ausgeschlachtet. Rotarmisten, Kosaken und Tschekisten agieren neben- und gegeneinander.
Andrej Kurkow beschreibt das, ohne Partei zu ergreifen, wie man das aus seinen anderen Büchern kennt, ohne fatales Pathos oder Sensationalismus, ganz und gar pragmatisch. Reaktionäres und Progressives ist untrennbar verbunden, eine unglaubliche, manchmal geradezu märchenhafte Gelassenheit zeichnet die Menschen aus, mit denen Samson zu tun kriegt. Wenn der Strom abgeschaltet wird, weiß man, dem Kraftwerk ist das Brennholz ausgegangen. Täglich wird requiriert – manchmal sieht das eher nach Plünderung aus –, einquartiert, desertiert. Oder es gibt einen Subbotnik – einen Arbeitseinsatz für alle, samstags und ohne Entlohnung, zum Beispiel: gefrorene, mit Müll durchsetzte Schneehaufen zerkleinern, die den Verkehr behindern.
Mit einem heftigen Schnitt beginnt in diesem Buch das Coming of Age, das von Samson Teofilowitsch Koletschko und das der sozialistischen Gesellschaft. Samson wird als Ermittler bei der Miliz angestellt, weil er so schön und folgerichtig Sachverhalte darstellen kann in seinen Rapports. Er bekommt Stiefel, Hose und eine Lederjacke und eine Nagant mit hölzernem Holster. Die junge Nadjeschda wird seine Freundin, sie arbeitet beim Amt für Statistik, und weil das ganz nah bei Samsons Wohnung liegt, zieht sie dort ein. Bald kriegt es Samson mit einem rätselhaften Fall zu tun, in dem es um Schnittmuster geht, um bedrohliche Schriften an der Wand „Dein Tod kommt bald“ und um einen Knochen aus Silber, Os femoris. Eine irrwitzige, tragische Hoffnung auf Gesundung steckt in diesem Fall, wie sie für das Land typisch ist.
Andrej Kurkow ist der PEN-Vorsitzende der Ukraine, sein Roman ist 2020 in Kiew erschienen, man sollte also Analogien zwischen dem aktuellen Kriegszustand nach der russischen Invasion und dem Bürgerkrieg 1919 nicht überbewerten. Die Kommunikation, die unermüdliche Solidarität, von der Kurkow erzählt, ist märchenhaft in ihrer Lust an der Improvisation, wird motiviert von behutsamer Aufbruchstimmung. Samsons abgeschlagenes Ohr funktioniert wie ein Abhörsender, er kann damit Gespräche mithören, in einer eigenen Form der Telepathie, auch wenn die Schachtel, in der er das Ohr verstaute, sich in einem anderen Zimmer oder Haus befindet als er selber.
Es gibt diverse Währungen in der Stadt, mit denen gehandelt und gezahlt wird, Karbowanzen oder Kerenski-Rubel oder Essensgutscheine für die sowjetische Kantine, da gibt es Hafergrütze mit Schweinefett oder Maisbrei mit einem Stück Hering, dazu ein Glas Kompott zum Hinterhertrinken. Noch herrscht keine Mangelsituation, die Ressourcen des Bürgertums schaffen eine Aura von Überfluss. Eine Aura, an der auch die Liebe Anteil nimmt.
Eines Nachts begleitet Samson Nadjeschda auf der dunklen Straße – das elektrische Licht ist mal wieder ausgefallen: „Kannst du mal schießen?“, flüstert Nadjeschda verschwörerisch. „Samson lud den Revolver, blickte in den dunklen, wie in sich selbst verborgenen Himmel und gab dorthin einen Schuss ab ... ,Danke’ flüsterte Nadjeschda ihm ins linke Ohr. Und gleichzeitig spürte er dort die Berührung ihrer weichen, leicht klebrigen Lippen.“
FRITZ GÖTTLER
Der Autor und ukrainische PEN-Vorsitzende Andrej Kurkow. Foto: Alex Halada/imago
Andrej Kurkow: Samson und Nadjeschda
Aus dem Russischen von Johanna Marx und Sabine Grebing. Mit Illustrationen von Jurij Nikitin. Diogenes Verlag, Zürich 2022.
368 Seiten. 24 Euro
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Krieg
Andrej Kurkow erzählt einen
Krimi aus dem Kiew von 1919
Der Arzt holt eine kleine leere Puderschachtel, bedeckt ihren Boden mit einem Fetzen Watte, darauf legt dann Samson sein abgeschnittenes Ohr, er schließt die Schachtel und steckt sie in die Tasche seiner Feldjacke. Dann geht er mit dem Doktor, der seine Wunde verbunden hat, seinen Vater beerdigen, dessen Leiche noch auf der Straße liegt. Ein Trupp Kosaken war durch die Straße geprescht, einer hatte mit dem Säbel dem Vater den Kopf gespalten, ein anderer Samson das rechte Ohr abgehauen. Der Arzt schimpft, mit der Zunge schnalzend: „Läuft man denn etwa heutzutage auf den Straßen herum?“
Heutzutage, das ist der 11. Mai 1919 in Kiew. Eine Zeit der Anarchie, der Bürgerkrieg, der nach der russischen Revolution entbrannte, prägt auch das Leben in der Ukraine, der die Bolschewiki ihre Herrschaft aufzudrücken versuchen. Die alte Ordnung ist in Stücke gebrochen, es wird an der neuen sozialistischen Gesellschaft gebaut, bürokratisch, finanziell, ideologisch, und dafür die alte bürgerliche ausgeschlachtet. Rotarmisten, Kosaken und Tschekisten agieren neben- und gegeneinander.
Andrej Kurkow beschreibt das, ohne Partei zu ergreifen, wie man das aus seinen anderen Büchern kennt, ohne fatales Pathos oder Sensationalismus, ganz und gar pragmatisch. Reaktionäres und Progressives ist untrennbar verbunden, eine unglaubliche, manchmal geradezu märchenhafte Gelassenheit zeichnet die Menschen aus, mit denen Samson zu tun kriegt. Wenn der Strom abgeschaltet wird, weiß man, dem Kraftwerk ist das Brennholz ausgegangen. Täglich wird requiriert – manchmal sieht das eher nach Plünderung aus –, einquartiert, desertiert. Oder es gibt einen Subbotnik – einen Arbeitseinsatz für alle, samstags und ohne Entlohnung, zum Beispiel: gefrorene, mit Müll durchsetzte Schneehaufen zerkleinern, die den Verkehr behindern.
Mit einem heftigen Schnitt beginnt in diesem Buch das Coming of Age, das von Samson Teofilowitsch Koletschko und das der sozialistischen Gesellschaft. Samson wird als Ermittler bei der Miliz angestellt, weil er so schön und folgerichtig Sachverhalte darstellen kann in seinen Rapports. Er bekommt Stiefel, Hose und eine Lederjacke und eine Nagant mit hölzernem Holster. Die junge Nadjeschda wird seine Freundin, sie arbeitet beim Amt für Statistik, und weil das ganz nah bei Samsons Wohnung liegt, zieht sie dort ein. Bald kriegt es Samson mit einem rätselhaften Fall zu tun, in dem es um Schnittmuster geht, um bedrohliche Schriften an der Wand „Dein Tod kommt bald“ und um einen Knochen aus Silber, Os femoris. Eine irrwitzige, tragische Hoffnung auf Gesundung steckt in diesem Fall, wie sie für das Land typisch ist.
Andrej Kurkow ist der PEN-Vorsitzende der Ukraine, sein Roman ist 2020 in Kiew erschienen, man sollte also Analogien zwischen dem aktuellen Kriegszustand nach der russischen Invasion und dem Bürgerkrieg 1919 nicht überbewerten. Die Kommunikation, die unermüdliche Solidarität, von der Kurkow erzählt, ist märchenhaft in ihrer Lust an der Improvisation, wird motiviert von behutsamer Aufbruchstimmung. Samsons abgeschlagenes Ohr funktioniert wie ein Abhörsender, er kann damit Gespräche mithören, in einer eigenen Form der Telepathie, auch wenn die Schachtel, in der er das Ohr verstaute, sich in einem anderen Zimmer oder Haus befindet als er selber.
Es gibt diverse Währungen in der Stadt, mit denen gehandelt und gezahlt wird, Karbowanzen oder Kerenski-Rubel oder Essensgutscheine für die sowjetische Kantine, da gibt es Hafergrütze mit Schweinefett oder Maisbrei mit einem Stück Hering, dazu ein Glas Kompott zum Hinterhertrinken. Noch herrscht keine Mangelsituation, die Ressourcen des Bürgertums schaffen eine Aura von Überfluss. Eine Aura, an der auch die Liebe Anteil nimmt.
Eines Nachts begleitet Samson Nadjeschda auf der dunklen Straße – das elektrische Licht ist mal wieder ausgefallen: „Kannst du mal schießen?“, flüstert Nadjeschda verschwörerisch. „Samson lud den Revolver, blickte in den dunklen, wie in sich selbst verborgenen Himmel und gab dorthin einen Schuss ab ... ,Danke’ flüsterte Nadjeschda ihm ins linke Ohr. Und gleichzeitig spürte er dort die Berührung ihrer weichen, leicht klebrigen Lippen.“
FRITZ GÖTTLER
Der Autor und ukrainische PEN-Vorsitzende Andrej Kurkow. Foto: Alex Halada/imago
Andrej Kurkow: Samson und Nadjeschda
Aus dem Russischen von Johanna Marx und Sabine Grebing. Mit Illustrationen von Jurij Nikitin. Diogenes Verlag, Zürich 2022.
368 Seiten. 24 Euro
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