Ein Gerücht, dessen böse Kraft bis in die Gegenwart reicht Eine russisch-jüdische Familie flieht von Ost nach West, von Moskau über Prag nach Hamburg und Zürich. Der Großvater des inzwischen in Berlin lebenden Erzählers wurde Opfer eines großen Verrats, einer Denunziation, und 1960 in der Sowjetunion hingerichtet. Unter Verdacht: die eigene Verwandtschaft. Eine Erzählung über sowjetische Geheimdienstakten, über das tschechische Kino der Nachkriegszeit, vergiftete Liebesbeziehungen und die Machenschaften sexsüchtiger Kultur-Apparatschiks - und zugleich über das Leben hier und heute, über unsere moderne, globalisierte Welt, in der fast niemand mehr dort zuhause ist, wo er geboren wurde und aufwuchs.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.08.2018Verhüllt in einer Wehmutswolke
An die Figuren lässt das Buch uns nicht heran: Maxim Billers Roman "Sechs Koffer"
Es kommt gelegentlich vor, dass ein Rezensent das Stroh eines Anfängers zum Gold einer literarischen Entdeckung spinnt. Das Gold rauscht eine Buchmesse lang. Das Strohfeuer wärmt Autor und Verlag. Keiner kommt zu Schaden. Es ist etwas anderes und sehr Unangenehmes, im goldenen Glanz eines bekannten, vielgepriesenen Autors altes Stroh laut knistern zu hören.
Aber auch Maxim Billers neuer Roman "Sechs Koffer" wird viel gepriesen: Von "großer Kunst" wurde in der Schweiz geraunt, von einer jüdischen Variante der "Buddenbrooks" in Deutschland. Der Roman steht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Biller hat unerwartet einen zärtlichen, fast kuscheligen jüdischen Schelmen- und Familienroman vorgelegt, wie es ihn so in deutscher Sprache noch nie gab. Für Vergleichbares müsste man schon auf die jiddische Literatur zurückgreifen. Dort sind Billers Figuren etwa in Familienromanen wie "Die Familie Karnovski", "Die Familie Moskat" oder die "Brüder Aschkenasi" der Brüder Singer vorgebildet, allerdings mit größerer Plastizität und beunruhigendem emotionalen Tiefgang.
Die Zärtlichkeit, die Billers Roman durchzieht, gibt es auch in Pinhas Kahanowitschs "Die Brüder Maschber" (1935/1948), dem größten jiddischen Roman überhaupt. Aber dort schneidet sie Lesern ins Herz, weil sie dem Verfall und der Tragik der Individuen unmittelbar ausgesetzt sind. Billers Zärtlichkeit hingegen verhüllt seine Figuren in einer Wehmutswolke, hinter der man sie nur unscharf wahrnimmt, so als wollte der Autor gar nicht, dass deutsche Leser sie miterleben oder bedauern. Er führt sie uns vor, aber lässt uns nicht an sie heran.
Um es klarer und härter zu sagen: Billers Figuren sind Schablonen. Die fatalste ist die zentrale, doch nie selbst in Erscheinung tretende Gestalt des Taten (jiddisch für "Vater") "mit seinem kleinen, scharfen Galiziergesicht". "Euer kleiner, kluger, unglaublich harter Tate in seinem furchtlosen Schtetlrussisch", sagt seine Schwiegertochter Natalia, "hatte ja bis zum Schluss diesen leichten Akzent . . . jedenfalls konnte er das ,r' nicht richtig aussprechen", ein bekanntes russisches Stereotyp, und konstatiert: "Wie kann ein so kluger Mensch von Geld so besessen sein wie er?" Das übertrug er auf die Seinen: "Ihr seid doch alle in der Familie davon besessen, Geld zu verdienen, Geld zu wechseln, Geld zu verstecken", und so fort. Der Tate repräsentiert das älteste antijüdische Klischee überhaupt. Um ihn kreist der Roman.
Wegen "schwarzer Geschäfte und anderer jüdischer Tricksereien" wird der Tate 1960 in Moskau verhaftet und hingerichtet. Die Frage ist, wer ihn verraten hat. Er hat vier Söhne und zwei Schwiegertöchter; es kann jeder von ihnen gewesen sein. Hier glänzt der Roman. Nicht nur kombiniert Biller die episodische Struktur des Schelmenromans mit der chronologischen Struktur des Familienromans, er kombiniert auch auktoriale und Ich-Erzählung, so dass etwa im Eröffnungskapitel der Ich-Erzähler als er selbst allwissend aus der persönlichen Perspektive seines Vaters über einen Tag in Prag im Mai 1965 erzählt, an dem der Ich-Erzähler erst sechs Jahre alt war. An diesem Tag wird der jüngste der vier Brüder aus einem Prager Gefängnis entlassen, wo er eine Strafe für versuchte Landesflucht mit Devisenschmuggel verbüßte.
Im ständigen Perspektivwechsel dreht sich der Roman nun um die Frage, wer den Tod des Taten verschuldete. Aus fünf verschiedenen Blickwinkeln wird der Hergang rekonstruiert. Das löst in Lesern genau jene Verunsicherung aus, die in der Wirklichkeit faschistischer Regime bestand, in denen keiner die ganze Wahrheit kannte und jeder jedem alles zutraute. Die fundamentale Verunsicherung des Lesers, der sich im barocken Gewirr von widersprüchlichen Informationen bald nicht mehr auskennt, ist sehr gut inszeniert. Clever ist auch Billers Spiel mit den vier Söhnen, die sowohl die vier Söhne aus der Haggadah (Erzählung vom Auszug aus Ägypten) als auch die vier Brüder Karamasow auf den Plan rufen. Billers vielfältige literarische Anspielungen machen Spaß. Man wünschte, sie wären tragende Elemente des Textes.
Das wirkliche Problem des Romans ist die zu einfache, stereotype Sprache. Sie trägt entscheidend dazu bei, dass man die Figuren nur als Klischees wahrnimmt. Es ist hier nur Platz, um eine sprachliche Manie darzustellen, nämlich die klotzige Reihung einfachster Adjektive, in die sich immer eine Wertung einschleicht: "ihre hässlichen, grauen, sackartigen Mäntel", "böser, linker, bärtiger Deutschlehrer", "blauschwarze, schlecht rasierte, volle Wange", "unverschämte, freche, osteuropäische Art", "erstaunlich große, gedrungene, mittelalterliche Häuser", "böser, verklemmter Antisemitenblick", "tiefe, schwere, elegante, dunkelrote Vorkriegssessel", "klares, einfaches, intelligentes Gesicht", "unfreundliches, kleines Osteuropäergesicht", "ihre helldunklen, eingefallenen Vorkriegsgesichter", "hübscher, groß gewachsener und ziemlich unsympathischer Sohn", "große, helle aber auch leicht vernachlässigte, majestätische Gründerzeithaus" und so fort.
Dann ist da noch eine "unfreundliche und ziemliche alte Moderatorin". Als "böse Vogelscheuche" hat sie "schadenfroh ihr deutsches Vogelscheuchen-Gesicht verzogen". Und sollte eine "merkwürdig gehemmte" und "schüchterne deutsche Radio-Moderatorin" fragen, "wer denn nun wirklich schuld am Tod des Taten" war, so würde eine der Antworten sein, "dass es sie als Deutsche überhaupt nichts anging". Die Rezensentin ist dafür, dieses Angebot anzunehmen und das Buch zu ignorieren, zumal deutsches Lob für einen Roman, in dessen Zentrum ein geldversessener Jude steht, für Maxim Biller ein gefundenes Fressen wäre.
SUSANNE KLINGENSTEIN.
Maxim Biller: "Sechs Koffer". Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 198 S., geb., 19,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
An die Figuren lässt das Buch uns nicht heran: Maxim Billers Roman "Sechs Koffer"
Es kommt gelegentlich vor, dass ein Rezensent das Stroh eines Anfängers zum Gold einer literarischen Entdeckung spinnt. Das Gold rauscht eine Buchmesse lang. Das Strohfeuer wärmt Autor und Verlag. Keiner kommt zu Schaden. Es ist etwas anderes und sehr Unangenehmes, im goldenen Glanz eines bekannten, vielgepriesenen Autors altes Stroh laut knistern zu hören.
Aber auch Maxim Billers neuer Roman "Sechs Koffer" wird viel gepriesen: Von "großer Kunst" wurde in der Schweiz geraunt, von einer jüdischen Variante der "Buddenbrooks" in Deutschland. Der Roman steht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Biller hat unerwartet einen zärtlichen, fast kuscheligen jüdischen Schelmen- und Familienroman vorgelegt, wie es ihn so in deutscher Sprache noch nie gab. Für Vergleichbares müsste man schon auf die jiddische Literatur zurückgreifen. Dort sind Billers Figuren etwa in Familienromanen wie "Die Familie Karnovski", "Die Familie Moskat" oder die "Brüder Aschkenasi" der Brüder Singer vorgebildet, allerdings mit größerer Plastizität und beunruhigendem emotionalen Tiefgang.
Die Zärtlichkeit, die Billers Roman durchzieht, gibt es auch in Pinhas Kahanowitschs "Die Brüder Maschber" (1935/1948), dem größten jiddischen Roman überhaupt. Aber dort schneidet sie Lesern ins Herz, weil sie dem Verfall und der Tragik der Individuen unmittelbar ausgesetzt sind. Billers Zärtlichkeit hingegen verhüllt seine Figuren in einer Wehmutswolke, hinter der man sie nur unscharf wahrnimmt, so als wollte der Autor gar nicht, dass deutsche Leser sie miterleben oder bedauern. Er führt sie uns vor, aber lässt uns nicht an sie heran.
Um es klarer und härter zu sagen: Billers Figuren sind Schablonen. Die fatalste ist die zentrale, doch nie selbst in Erscheinung tretende Gestalt des Taten (jiddisch für "Vater") "mit seinem kleinen, scharfen Galiziergesicht". "Euer kleiner, kluger, unglaublich harter Tate in seinem furchtlosen Schtetlrussisch", sagt seine Schwiegertochter Natalia, "hatte ja bis zum Schluss diesen leichten Akzent . . . jedenfalls konnte er das ,r' nicht richtig aussprechen", ein bekanntes russisches Stereotyp, und konstatiert: "Wie kann ein so kluger Mensch von Geld so besessen sein wie er?" Das übertrug er auf die Seinen: "Ihr seid doch alle in der Familie davon besessen, Geld zu verdienen, Geld zu wechseln, Geld zu verstecken", und so fort. Der Tate repräsentiert das älteste antijüdische Klischee überhaupt. Um ihn kreist der Roman.
Wegen "schwarzer Geschäfte und anderer jüdischer Tricksereien" wird der Tate 1960 in Moskau verhaftet und hingerichtet. Die Frage ist, wer ihn verraten hat. Er hat vier Söhne und zwei Schwiegertöchter; es kann jeder von ihnen gewesen sein. Hier glänzt der Roman. Nicht nur kombiniert Biller die episodische Struktur des Schelmenromans mit der chronologischen Struktur des Familienromans, er kombiniert auch auktoriale und Ich-Erzählung, so dass etwa im Eröffnungskapitel der Ich-Erzähler als er selbst allwissend aus der persönlichen Perspektive seines Vaters über einen Tag in Prag im Mai 1965 erzählt, an dem der Ich-Erzähler erst sechs Jahre alt war. An diesem Tag wird der jüngste der vier Brüder aus einem Prager Gefängnis entlassen, wo er eine Strafe für versuchte Landesflucht mit Devisenschmuggel verbüßte.
Im ständigen Perspektivwechsel dreht sich der Roman nun um die Frage, wer den Tod des Taten verschuldete. Aus fünf verschiedenen Blickwinkeln wird der Hergang rekonstruiert. Das löst in Lesern genau jene Verunsicherung aus, die in der Wirklichkeit faschistischer Regime bestand, in denen keiner die ganze Wahrheit kannte und jeder jedem alles zutraute. Die fundamentale Verunsicherung des Lesers, der sich im barocken Gewirr von widersprüchlichen Informationen bald nicht mehr auskennt, ist sehr gut inszeniert. Clever ist auch Billers Spiel mit den vier Söhnen, die sowohl die vier Söhne aus der Haggadah (Erzählung vom Auszug aus Ägypten) als auch die vier Brüder Karamasow auf den Plan rufen. Billers vielfältige literarische Anspielungen machen Spaß. Man wünschte, sie wären tragende Elemente des Textes.
Das wirkliche Problem des Romans ist die zu einfache, stereotype Sprache. Sie trägt entscheidend dazu bei, dass man die Figuren nur als Klischees wahrnimmt. Es ist hier nur Platz, um eine sprachliche Manie darzustellen, nämlich die klotzige Reihung einfachster Adjektive, in die sich immer eine Wertung einschleicht: "ihre hässlichen, grauen, sackartigen Mäntel", "böser, linker, bärtiger Deutschlehrer", "blauschwarze, schlecht rasierte, volle Wange", "unverschämte, freche, osteuropäische Art", "erstaunlich große, gedrungene, mittelalterliche Häuser", "böser, verklemmter Antisemitenblick", "tiefe, schwere, elegante, dunkelrote Vorkriegssessel", "klares, einfaches, intelligentes Gesicht", "unfreundliches, kleines Osteuropäergesicht", "ihre helldunklen, eingefallenen Vorkriegsgesichter", "hübscher, groß gewachsener und ziemlich unsympathischer Sohn", "große, helle aber auch leicht vernachlässigte, majestätische Gründerzeithaus" und so fort.
Dann ist da noch eine "unfreundliche und ziemliche alte Moderatorin". Als "böse Vogelscheuche" hat sie "schadenfroh ihr deutsches Vogelscheuchen-Gesicht verzogen". Und sollte eine "merkwürdig gehemmte" und "schüchterne deutsche Radio-Moderatorin" fragen, "wer denn nun wirklich schuld am Tod des Taten" war, so würde eine der Antworten sein, "dass es sie als Deutsche überhaupt nichts anging". Die Rezensentin ist dafür, dieses Angebot anzunehmen und das Buch zu ignorieren, zumal deutsches Lob für einen Roman, in dessen Zentrum ein geldversessener Jude steht, für Maxim Biller ein gefundenes Fressen wäre.
SUSANNE KLINGENSTEIN.
Maxim Biller: "Sechs Koffer". Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 198 S., geb., 19,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.09.2018Verdammte Verwandte
Maxim Billers eleganter Familienroman „Sechs Koffer“ handelt von den seelischen Folgen
des Verrats und der Zumutung, vertrauen zu müssen
VON JENS-CHRISTIAN RABE
Der neue Roman „Sechs Koffer“ von Maxim Biller ist bevor man auch nur eine Zeile gelesen hat, nicht einfach nur der nächste Roman im Werk dieses streitbaren Schriftstellers, Essayisten, Fernseh-Literaturkritikers und Polemikers. Es ist sein erster Roman nach dem 2016 veröffentlichten, fast 900 Seiten langen, grellen, schnellen, komischen und bisschen sexbesessenen Biller-Memoir „Biografie“. So umfangreich war bis dahin nicht annähernd eines der Bücher Billers gewesen, er gilt eher als Großmeister der kleineren erzählenden Form. Acht lange Jahre hatte er am Ende daran gesessen, allein die vorangestellte Liste der wichtigsten Figuren umfasste fünf Seiten, alles an „Biografie“ war unübersehbar als krasses, wüstes Opus magnum angelegt – aber dann war es so hart kritisiert worden, dass Biller tat, was man natürlich bitte, bitte, bitte nicht tun soll.
Er schrieb in der Zeit ein Jahr später eine riesige, zornige Kritik seiner Kritiker – und erklärte sie allesamt zu verkappten Antisemiten, tief geprägt von ihren alten Nazi-Lehrern, oder von Lehrern, die ihrerseits von alten Nazi-Lehrern geprägt worden waren. Im Juni dieses Jahres folgte dann im Rahmen seiner Heidelberger Poetik-Dozentur mit dem Vortrag „Wer nicht glaubt, schreibt“ noch das ganz große, allerdings fast überraschend stille Zeugnis davon, was es für ihn hieß und heißt, ein Schriftsteller in Deutschland zu sein, aber eben einer, der doch nicht von denen abstammt, die „am Rand des polnischen oder ukrainischen Massengrabs“ standen und „immer weiter auf die darin liegenden Toten und Halbtoten“ feuerten, sondern „von den wenigen, die es geschafft haben, wieder herauszukriechen und zu fliehen“.
Die Rede strahlt die lakonische Trauer dessen aus, der in dieser Welt so mittendrin wie nur möglich (Star-Autor, Star-Kritiker) und doch nie ganz dabei ist. Diese Trauer über die ewig unüberwindbare Fremdheit im scheinbar Vertrauten treibt die Kunst Maxim Billers an, der 1970 als Kind jüdischer Eltern mit zehn Jahren nach Deutschland kam; nicht der heftige und oft als extrem ungerecht wahrgenommene Zorn, der mehr trotzige Notwehrübung auf verlorenem Posten ist als selbstgewisse Angriffslust des mächtigen Diskursdompteurs. Es ist die Reaktion von einem, der – wie Biller mal in einem Interview mit der Berliner Tageszeitung taz erzählte – in den Siebzigern und Achtzigern in Deutschland viel „stillen Rassismus“ erlebt hat und sich irgendwann dachte: „Ihr verallgemeinert mich, und wisst ihr was? Ihr habt recht! Ich würde mich zwar anders verallgemeinern, als ihr mich verallgemeinert, aber bitte, und darum werde ich euch ab jetzt auch verallgemeinern.“
„Sechs Koffer“ ist innerhalb dieser psychosozialen Situation nun das zugleich unwahrscheinlichste und das wahrscheinlichste neue Buch. Das unwahrscheinlichste, weil es als Bohrung ins Innenleben einer von Osteuropa in den Westen fliehenden russisch-jüdischen Familie, deren Vorlage natürlich Billers eigene ist, vergleichsweise unkämpferisch daherkommt. Es ist weniger eine Provokation als eine Introspektion.
Das wahrscheinlichste ist es, weil die Familie als primäre Quelle der Identität in Zeiten der Unsicherheit natürlich der Ort der Selbstversicherung ist. Ein Brecht-Zitat steht in „Sechs Koffer“ allem voran: „Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen.“ Da steht für alle Schwarz auf Weiß drin, wo man zu Hause sein darf und wer man ist. Oder gerade genau überhaupt nicht mehr? Und deshalb dann doch wieder umso mehr?
Maxim Biller wäre nicht Maxim Biller, wenn die Identitätssuche glatt abginge – und vor allem: wenn seine eigene Sehnsucht nach Identität dabei ungebrochen dargestellt würde. Das ist ja gerade der Witz, der bittersüße jüdische Witz, der in „Sechs Koffer“ nur nicht so unverschämt extrovertiert und ausladend verpackt wie in „Biografie“, sondern wieder etwas ernster, existenzieller und zahmer (also für Deutsche bequemer) erzählt wird, und das auch noch auf gerade einmal 198 Seiten.
Der dramaturgische Angelpunkt von „Sechs Koffer“ ist ein tödlicher Verrat am Großvater Schmil Biller, genannt „der Tate“ (was im Jiddischen schlicht Vater bedeutet), dem es als jüdischem Schwarzmarkthändler in Tschechien in den Jahren nach dem Krieg gelingt, zu so wertvollem wie verbotenen Westgeld zu kommen. Im Frühjahr 1960 wird er am Flughafen in Moskau mit ein paar hundert Dollar als Devisenschmuggler verhaftet, auf dem Weg nach Prag, wo er mit dem Geld seinem Sohn Sjoma und dessen Frau Rada zur Geburt des „Sechs Koffer“-Erzählers Maxim Biller ein neues Auto kaufen wollte. Drei Monate später wird er in Moskau hingerichtet.
Die Frage, wer den Taten an die Sowjets verraten hat, ist fortan das Familiengeheimnis, das der – am Anfang fünf Jahre, am Ende 56 Jahre alte – Erzähler Maxim Biller zu lösen versucht. Nicht brav chronologisch, sondern in sechs Kapiteln, von denen fünf je einem verdächtigen Familienmitglied und seiner Geschichte gewidmet sind.
War es einer von Schmils vier Söhnen? Der freundliche Schwächling Dima womöglich, der im Sommer 1960 in Prag mit Devisen von der Staatssicherheit festgenommen wird, aber wieder freikommt? Oder seine schöne Frau, die Regisseurin Natalia, die sich, um ihrem Beruf nachgehen zu können, die Gunst so mancher Funktionäre erkämpfen muss? Oder gar Onkel Lev, der als erster in den Westen flieht und reich wird? Und spielt das wirklich eine Rolle?
Natürlich nicht. Dieses Buch ist ja keine Ermittlung, keine Kolportage des Verrats. Wenn schon geht es in Billers verwinkelter und verwackelter Roman-Version der kosmopolitischen Geschichte seiner Familie, die zuvor sowohl seine Mutter Rada als auch seine Schwester Elena Lappin schon literarisiert haben, um das schleichende Gift des Verdächtigens und ewigen Aushaltens eines Verrats. Also um alles, was sich auf halben Weg zwischen dem Verdacht und der Wahrheit unter Menschen, die sich nah sind oder einmal waren, ein Leben lang so ereignen kann.
Das eigentlich zentrale Thema dieses Buchs ist deshalb auch nicht der Verrat, sondern sein Gegenteil, die Bedingung der Möglichkeit des Verrats: das Vertrauen. Viel mehr als die Unausweichlichkeit des Verrats beschäftigt ihn, dass gerade die ums Vertrauen gar nicht herumkommen, denen die Gnade – oder die Qual – erspart geblieben ist, irgendwo wirklich ankommen zu dürfen. Was bleibt ihnen sonst?
So energisch Maxim Biller dies in seinen Romanen und Essays in den vergangenen bald 30 Jahren erforscht hat, so energisch hat er dabei versucht, bloß kein fader Moralist zu sein. Daher die stilistische Eleganz, daher aber auch die oft karge Figurenzeichnung, die ihm oft vorgeworfen wird. Aber Biller war nie ein klassischer Fabulierer und Sprach-Parfümierer, er konnte es gar nicht sein. Seine Erzählungen sind eher erzählte Essays, die die Kostbarkeit des Vertrauens als Selbstverständlichkeit inszenieren gegen den blutleeren Common Sense, weshalb der Vertrauensbruch dann ein umso monströsere, unausweichliche Angelegenheit ist.
David Foster Wallace hat einmal geschrieben, dass man den Witz Kafkas nur verstehen kann, wenn man verstehe, dass die schreckliche Plackerei, die nötig ist, um eine menschliche Identität auszubilden, zu einer Identität führt, deren Menschlichkeit untrennbar mit der schrecklichen Plackerei verbunden ist. Genau so ist es auch bei Maxim Biller. Dass er mit „Sechs Koffer“ nun erstmals auf der Shortlist für den deutschen Buchpreis steht, geht wirklich sehr in Ordnung.
Maxim Biller: Sechs Koffer. Roman. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2018. 198 Seiten, 19 Euro.
Die Trauer über die ewige
Fremdheit im scheinbar
Vertrauten treibt Billers Kunst an
Seit bald 30 Jahren versucht
er energisch, bloß
kein fader Moralist zu sein
Der Schriftsteller, Kolumnist und Kritiker Maxim Biller in seiner Wohnung in Berlin.
Foto: Regina Schmeken
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Maxim Billers eleganter Familienroman „Sechs Koffer“ handelt von den seelischen Folgen
des Verrats und der Zumutung, vertrauen zu müssen
VON JENS-CHRISTIAN RABE
Der neue Roman „Sechs Koffer“ von Maxim Biller ist bevor man auch nur eine Zeile gelesen hat, nicht einfach nur der nächste Roman im Werk dieses streitbaren Schriftstellers, Essayisten, Fernseh-Literaturkritikers und Polemikers. Es ist sein erster Roman nach dem 2016 veröffentlichten, fast 900 Seiten langen, grellen, schnellen, komischen und bisschen sexbesessenen Biller-Memoir „Biografie“. So umfangreich war bis dahin nicht annähernd eines der Bücher Billers gewesen, er gilt eher als Großmeister der kleineren erzählenden Form. Acht lange Jahre hatte er am Ende daran gesessen, allein die vorangestellte Liste der wichtigsten Figuren umfasste fünf Seiten, alles an „Biografie“ war unübersehbar als krasses, wüstes Opus magnum angelegt – aber dann war es so hart kritisiert worden, dass Biller tat, was man natürlich bitte, bitte, bitte nicht tun soll.
Er schrieb in der Zeit ein Jahr später eine riesige, zornige Kritik seiner Kritiker – und erklärte sie allesamt zu verkappten Antisemiten, tief geprägt von ihren alten Nazi-Lehrern, oder von Lehrern, die ihrerseits von alten Nazi-Lehrern geprägt worden waren. Im Juni dieses Jahres folgte dann im Rahmen seiner Heidelberger Poetik-Dozentur mit dem Vortrag „Wer nicht glaubt, schreibt“ noch das ganz große, allerdings fast überraschend stille Zeugnis davon, was es für ihn hieß und heißt, ein Schriftsteller in Deutschland zu sein, aber eben einer, der doch nicht von denen abstammt, die „am Rand des polnischen oder ukrainischen Massengrabs“ standen und „immer weiter auf die darin liegenden Toten und Halbtoten“ feuerten, sondern „von den wenigen, die es geschafft haben, wieder herauszukriechen und zu fliehen“.
Die Rede strahlt die lakonische Trauer dessen aus, der in dieser Welt so mittendrin wie nur möglich (Star-Autor, Star-Kritiker) und doch nie ganz dabei ist. Diese Trauer über die ewig unüberwindbare Fremdheit im scheinbar Vertrauten treibt die Kunst Maxim Billers an, der 1970 als Kind jüdischer Eltern mit zehn Jahren nach Deutschland kam; nicht der heftige und oft als extrem ungerecht wahrgenommene Zorn, der mehr trotzige Notwehrübung auf verlorenem Posten ist als selbstgewisse Angriffslust des mächtigen Diskursdompteurs. Es ist die Reaktion von einem, der – wie Biller mal in einem Interview mit der Berliner Tageszeitung taz erzählte – in den Siebzigern und Achtzigern in Deutschland viel „stillen Rassismus“ erlebt hat und sich irgendwann dachte: „Ihr verallgemeinert mich, und wisst ihr was? Ihr habt recht! Ich würde mich zwar anders verallgemeinern, als ihr mich verallgemeinert, aber bitte, und darum werde ich euch ab jetzt auch verallgemeinern.“
„Sechs Koffer“ ist innerhalb dieser psychosozialen Situation nun das zugleich unwahrscheinlichste und das wahrscheinlichste neue Buch. Das unwahrscheinlichste, weil es als Bohrung ins Innenleben einer von Osteuropa in den Westen fliehenden russisch-jüdischen Familie, deren Vorlage natürlich Billers eigene ist, vergleichsweise unkämpferisch daherkommt. Es ist weniger eine Provokation als eine Introspektion.
Das wahrscheinlichste ist es, weil die Familie als primäre Quelle der Identität in Zeiten der Unsicherheit natürlich der Ort der Selbstversicherung ist. Ein Brecht-Zitat steht in „Sechs Koffer“ allem voran: „Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen.“ Da steht für alle Schwarz auf Weiß drin, wo man zu Hause sein darf und wer man ist. Oder gerade genau überhaupt nicht mehr? Und deshalb dann doch wieder umso mehr?
Maxim Biller wäre nicht Maxim Biller, wenn die Identitätssuche glatt abginge – und vor allem: wenn seine eigene Sehnsucht nach Identität dabei ungebrochen dargestellt würde. Das ist ja gerade der Witz, der bittersüße jüdische Witz, der in „Sechs Koffer“ nur nicht so unverschämt extrovertiert und ausladend verpackt wie in „Biografie“, sondern wieder etwas ernster, existenzieller und zahmer (also für Deutsche bequemer) erzählt wird, und das auch noch auf gerade einmal 198 Seiten.
Der dramaturgische Angelpunkt von „Sechs Koffer“ ist ein tödlicher Verrat am Großvater Schmil Biller, genannt „der Tate“ (was im Jiddischen schlicht Vater bedeutet), dem es als jüdischem Schwarzmarkthändler in Tschechien in den Jahren nach dem Krieg gelingt, zu so wertvollem wie verbotenen Westgeld zu kommen. Im Frühjahr 1960 wird er am Flughafen in Moskau mit ein paar hundert Dollar als Devisenschmuggler verhaftet, auf dem Weg nach Prag, wo er mit dem Geld seinem Sohn Sjoma und dessen Frau Rada zur Geburt des „Sechs Koffer“-Erzählers Maxim Biller ein neues Auto kaufen wollte. Drei Monate später wird er in Moskau hingerichtet.
Die Frage, wer den Taten an die Sowjets verraten hat, ist fortan das Familiengeheimnis, das der – am Anfang fünf Jahre, am Ende 56 Jahre alte – Erzähler Maxim Biller zu lösen versucht. Nicht brav chronologisch, sondern in sechs Kapiteln, von denen fünf je einem verdächtigen Familienmitglied und seiner Geschichte gewidmet sind.
War es einer von Schmils vier Söhnen? Der freundliche Schwächling Dima womöglich, der im Sommer 1960 in Prag mit Devisen von der Staatssicherheit festgenommen wird, aber wieder freikommt? Oder seine schöne Frau, die Regisseurin Natalia, die sich, um ihrem Beruf nachgehen zu können, die Gunst so mancher Funktionäre erkämpfen muss? Oder gar Onkel Lev, der als erster in den Westen flieht und reich wird? Und spielt das wirklich eine Rolle?
Natürlich nicht. Dieses Buch ist ja keine Ermittlung, keine Kolportage des Verrats. Wenn schon geht es in Billers verwinkelter und verwackelter Roman-Version der kosmopolitischen Geschichte seiner Familie, die zuvor sowohl seine Mutter Rada als auch seine Schwester Elena Lappin schon literarisiert haben, um das schleichende Gift des Verdächtigens und ewigen Aushaltens eines Verrats. Also um alles, was sich auf halben Weg zwischen dem Verdacht und der Wahrheit unter Menschen, die sich nah sind oder einmal waren, ein Leben lang so ereignen kann.
Das eigentlich zentrale Thema dieses Buchs ist deshalb auch nicht der Verrat, sondern sein Gegenteil, die Bedingung der Möglichkeit des Verrats: das Vertrauen. Viel mehr als die Unausweichlichkeit des Verrats beschäftigt ihn, dass gerade die ums Vertrauen gar nicht herumkommen, denen die Gnade – oder die Qual – erspart geblieben ist, irgendwo wirklich ankommen zu dürfen. Was bleibt ihnen sonst?
So energisch Maxim Biller dies in seinen Romanen und Essays in den vergangenen bald 30 Jahren erforscht hat, so energisch hat er dabei versucht, bloß kein fader Moralist zu sein. Daher die stilistische Eleganz, daher aber auch die oft karge Figurenzeichnung, die ihm oft vorgeworfen wird. Aber Biller war nie ein klassischer Fabulierer und Sprach-Parfümierer, er konnte es gar nicht sein. Seine Erzählungen sind eher erzählte Essays, die die Kostbarkeit des Vertrauens als Selbstverständlichkeit inszenieren gegen den blutleeren Common Sense, weshalb der Vertrauensbruch dann ein umso monströsere, unausweichliche Angelegenheit ist.
David Foster Wallace hat einmal geschrieben, dass man den Witz Kafkas nur verstehen kann, wenn man verstehe, dass die schreckliche Plackerei, die nötig ist, um eine menschliche Identität auszubilden, zu einer Identität führt, deren Menschlichkeit untrennbar mit der schrecklichen Plackerei verbunden ist. Genau so ist es auch bei Maxim Biller. Dass er mit „Sechs Koffer“ nun erstmals auf der Shortlist für den deutschen Buchpreis steht, geht wirklich sehr in Ordnung.
Maxim Biller: Sechs Koffer. Roman. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2018. 198 Seiten, 19 Euro.
Die Trauer über die ewige
Fremdheit im scheinbar
Vertrauten treibt Billers Kunst an
Seit bald 30 Jahren versucht
er energisch, bloß
kein fader Moralist zu sein
Der Schriftsteller, Kolumnist und Kritiker Maxim Biller in seiner Wohnung in Berlin.
Foto: Regina Schmeken
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Cornelia Geißler scheint Maxim Billers neues Buch zu mögen. Vor allem, wie der Autor Wahrheit und Zweifel mischt, sodass der Leser beides gleich überzeugend findet, ohne aber das Geheimnis hinter der erzählten Familiengeschichte zu erfahren, hat ihr gefallen. Warum musste der Großvater sterben? Wer hat ihn in den sechziger Jahren in Moskau an den KGB verraten? Auch die schiere Dichte des Erzählten, Flucht, familiärer Neid, Verwandtschaft und Liebe, findet Geißler staunenswert. Kunstvoll erscheint ihr des Weiteren Billers schachtelartiges Wechseln der mannigfachen Perspektiven, für die der Autor laut Rezensentin immer den richtigen Ton findet, mal pathetisch, mal melancholisch, aber immer intensiv.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Große Literatur« David Baum stern 20180809