Mailand, zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Im Waisenhaus Martinitt fristet der kleine Louis Chabos ein unglückliches Dasein. Von den größeren Jungen wird er drangsaliert, und auch von den Erwachsenen erfährt er keine Liebe. Als ihn die Mutter Oberin an seinem zwölften Geburtstag zu sich ruft, ahnt er
noch nicht, dass sich sein Leben in den nächsten Wochen und Monaten komplett ändern wird. Denn nun,…mehrMailand, zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Im Waisenhaus Martinitt fristet der kleine Louis Chabos ein unglückliches Dasein. Von den größeren Jungen wird er drangsaliert, und auch von den Erwachsenen erfährt er keine Liebe. Als ihn die Mutter Oberin an seinem zwölften Geburtstag zu sich ruft, ahnt er noch nicht, dass sich sein Leben in den nächsten Wochen und Monaten komplett ändern wird. Denn nun, da er "erwachsen" ist, ist es Zeit für seinen ersten Job. Beim alten Marchese wird er fortan als Diener eine neue Moral und die Werte des Lebens kennenlernen. Und erfährt erstmals so etwas wie Respekt und Zuneigung...
Der Schweizer Schriftsteller Charles Lewinsky sagte auf einer Lesung zu seinem damaligen Roman "Der Stotterer" einmal, sein Ziel sei es, mit jedem seiner Bücher eine ganz neue Geschichte zu erzählen. Bei Diogenes ist nun sein aktueller Roman "Sein Sohn" erschienen - und erneut gelingt es Lewinsky, aus einer minimalen historischen Information eine ganze Lebensgeschichte zu entwickeln.
"Sein Sohn" ist eine Mischung aus historischem Coming-of-Age- und klassischem Abenteuerroman, die sich weniger durch sprachliche oder literarische Extravaganzen als durch die Kunst des Erzählens selbst auszeichnet. Denn dass Lewinksy ein begnadeter Geschichtenerzähler ist, stellt er mit diesem Werk einmal mehr eindrücklich unter Beweis.
Hervorzuheben ist dabei, wie es Lewinsky gelingt, die Leserschaft an den Protagonisten Louis Chabos zu binden, diesem Jungen und Mann, auf der Suche nach sich selbst und nach seinen Eltern. Denn obwohl die Sätze kurz und knapp sind, die Sprache des auktorialen Erzählers eher distanziert ist, leidet und hofft man als Leser:in mit diesem Louis. Trotz aller Schwierigkeiten und Hindernisse, die ihm in den Weg gelegt werden, hat man das Gefühl, dass Louis nie verloren ist, dass es immer eine helfende Hand gibt, die ihm aus dem Schlamassel befreit.
So folgt man Louis Chabos auf seinem gesamten Lebensweg, den Lewinksy episodenhaft erzählt. Besonders gelungen ist der Beginn, wo sich Louis' Geburt direkt an eine einleitende Beerdigunsszene anschließt. Selten lagen in der Literatur Tod und Geburt so nah beieinander.
Ständig tauchen im Anschluss neue Nebenfiguren auf, die für Louis' Werdegang mal mehr, mal weniger wichtig sind. Gerade in Louis' Kindheit fühlte ich mich dadurch häufig an die Serie "Sans Famille" nach dem Roman von Hector Malot erinnert. Und so schnell, wie die Charaktere auftauchten, sind sie auch schon wieder verschwunden, denn Lewinsky legt ein fast schon abenteuerlich schnelles Erzähltempo vor. Dies ist sogleich Vor- und Nachteil des Buches. Einerseits sorgt das temporeiche Erzählen für kurzweilige und spannende Unterhaltung, doch andererseits fehlt den Nebenfiguren dadurch auch ein wenig Tiefe. Man ist geneigt, sie recht schnell wieder zu vergessen. Sprachlich gestaltet sich der Roman in diesen Phasen relativ einseitig. Kurze pointierte Hauptsätze wechseln sich vor allem mit Dialogen ab.
An zwei Stellen experimentiert Lewinsky mehr mit der Sprache und entwickelt sogleich etwas Rauschhaftes. In einer Nahtoderfahrung Louis' verschwimmen plötzlich die Grenzen des linearen Erzählens und all seine Erinnerungen wirbeln nicht nur den Helden durcheinander, sondern auch die Leser:innen, die blitzlichtartig gewisse Dialoge und besonders wichtige Stellen noch einmal und dadurch Louis' Rausch selbst miterleben. Eine sehr gelungene Extravaganz, von denen ich mir durchaus mehr gewünscht hätte.
Dennoch ist "Sein Sohn" alles andere als eine Enttäuschung. Die Geschichte ist spannend genug, um die knapp 400 Seiten zu tragen, vermutlich hätte sie selbst die doppelte Seitenanzahl gut ausgefüllt. Denn ein echter Lewinsky langweilt eben nie - und erzählt jedes Mal etwas ganz Neues.