Mehr denn je sind wir damit beschäftigt, das Limit des Zumutbaren neu zu justieren. Wo liegt die Grenze des Sagbaren? Ab wann ist eine Berührung eine Belästigung? Svenja Flaßpöhler tritt einen Schritt zurück und beleuchtet den Glutkern des Konflikts: die zunehmende Sensibilisierung des Selbst und der Gesellschaft. "Sensibel" ist ein hochaktuelles, philosophisches und gleichzeitig unterhaltsames Hörbuch, das die Sensibilität dialektisch durchleuchtet und zu dem Schluss kommt: Die Resilienz ist die Schwester der Sensibilität. Die Zukunft meistern können sie nur gemeinsam.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensentin Claudia Mäder scheint überfordert von Svenja Flasspöhlers philosophischem Ideenreigen zur Geschichte der menschlichen Sensibilität, der Bezüge zur Sprachphilosophie, zu Levinas, Freud, Amery, Nietzsche und Hume, Derrida und Butler beinhaltet. Dass die Autorin sich mit Meinungen zu aktuellen Diskussionen eher zurückhält und stattdessen Sensibilität als Fortschritt betrachtet, der im Einklang mit Resilienz zu individueller Selbstverantwortung führen kann, gefällt Mäder gut.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.10.2021Wie viel Widerstreit gilt es auszuhalten?
Sind so empfindlich die Leute: Svenja Flaßpöhler denkt über Vorteile und Gefahren einer Sensibilisierung der Gesellschaft nach.
Von Kai Spanke
Die Philosophin Svenja Flaßpöhler beschäftigt sich in ihren Büchern gerne mit Reizthemen. Über Pornographie hat sie genauso geschrieben wie über selbstbestimmtes Sterben. Aus diesem Grund schätzt man sie als Gast in Diskussionsrunden, wo sie meinungsstark und streitbar auftritt. Als sie vor zwei Jahren von Peter Unfried und Harald Welzer für die taz zur sich steigernden sozialen Empfindlichkeit befragt wurde, gab sie zu bedenken, unsere Gesellschaft sei kaum noch in der Lage, Ambivalenz auszuhalten. Dass jemand etwa ein begabter Musiker, zugleich aber auch ein Kinderschänder sein könne, sei nicht mehr vermittelbar. Deswegen habe Michael Jackson keinen Anspruch auf einen Platz im kulturellen Gedächtnis. "Da zeigt sich eine neue Form von Sensibilität", resümierte die Chefredakteurin vom Philosophie Magazin, und das könne schnell "vom Progressiven ins Regressive kippen und zu moralischem Totalitarismus führen".
Solche Warnungen finden sich auch in dem Buch, das Flaßpöhler nun über die Entstehung moderner "Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren" geschrieben hat. Gleichwohl verzichtet sie diesmal auf die kratzige, von Thea Dorn entlehnte Diktion. Dafür bringt sie ein ganzes Bataillon von Gewährsleuten in Stellung, um die Vor- und Nachteile gesteigerter Sensibilität auf der einen und unverwüstlicher Resilienz auf der anderen Seite herauszuarbeiten: Norbert Elias und Ernst Jünger, Klaus Theweleit und Friedrich Nietzsche, Georg Simmel und Paul Valéry, Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa, Thomas Nagel und Michel Foucault. Die Autorin bricht triftige Thesen dieser Stichwortgeber auf wenig Raum herunter und sinniert über Gewalt, Grenzen der Empathie und Traumata - freilich auf Kosten systematischer Klarheit und zugunsten assoziativ-flotter Betrachtungen.
So geht es vom Zeitalter der Empfindsamkeit, deren Literatur den Lesern einen bislang unbekannten Blick auf das Verhältnis von Frauen und Männern erlaubte, mit Siebenmeilenstiefeln in die Wiener Moderne. Gerade noch in Gedanken bei Samuel Richardson und Jean-Jacques Rousseau, liegt man ein paar Absätze später auf der Couch von Sigmund Freud. Das Postulat, das diesen Spagat rechtfertigen soll: Sowohl in den Briefromanen des achtzehnten Jahrhunderts als auch in der therapeutischen Praxis vollziehe sich eine Aufwertung des Erzählens - und der einfühlsamen Betrachtung des Erzählten.
Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts fangen Sprachwissenschaftler der Autorin zufolge damit an, sich immer stärker für Zeichen zu interessieren. Das habe der Linguist Ferdinand de Saussure zu verantworten, dessen Idee einer Sprache, die als eigenes System Bedeutungen aus sich selbst hervorbringt, am Ende von Dekonstruktivisten infrage gestellt wurde. Jacques Derrida etwa argumentierte: Sollte nichts als die stets gleiche Wiederholung den Anschein einer sprachlichen Struktur nahelegen, ließe sich die Bedeutung mit einem anderen Gebrauch von Zeichen womöglich verändern.
Auftritt Judith Butler. Die Philosophin habe Derridas Ausführungen einfach auf die Geschlechterfrage übertragen: "Der sprachliche Akt immergleicher Bezeichnung erweckt lediglich den Anschein, als gebe es von Natur aus zwei fixe Geschlechtsidentitäten mit heterosexuellem Begehren." Tatsächlich seien solche Identitäten aber nur der Effekt eines bestimmten Sprachgebrauchs. Und wie ist das nun mit Triggerwarnungen und dem Gendern? Flaßpöhler sucht den Kompromiss. Ja, Sprache könne verletzen, man müsse sie vorsichtig verwenden und Rücksicht nehmen. Doch gerade weil sie in ihrer Bedeutungsdimension nicht fixiert sei, spreche "aus dekonstruktiver Sicht viel, wenn nicht gar alles gegen starre, kontextunabhängige Vorgaben".
Homosexuelle seien beispielsweise lange mit dem Wort "queer" diskriminiert worden. Heute führten sie den Begriff als Ausdruck des Selbstbewusstseins im Munde. Butler schreibt: "Das Wort, das verwundet, wird in der neuen Anwendung, die sein früheres Wirkungsgebiet zerstört, zum Instrument des Widerstands." Worauf Flaßpöhler hinauswill: Wer auf Differenzen beharrt und sie sprachlich zementiert, schreibt Identitäten fest. Das könne nicht Sinn einer Sensibilisierung sein. Konstruktiv erscheint der Autorin gegenseitiges Verständnis: für die, die sagen, der Einzelne müsse an sich arbeiten und widerstandsfähiger werden, und für jene, die fordern, die soziale Umgebung habe sich zu ändern. An einem lässt Flaßpöhler keinen Zweifel: Die Sensibilisierung der Gesellschaft markiert einen zivilisatorischen Fortschritt.
Svenja Flaßpöhler: "Sensibel". Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2021. 240 S., geb., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sind so empfindlich die Leute: Svenja Flaßpöhler denkt über Vorteile und Gefahren einer Sensibilisierung der Gesellschaft nach.
Von Kai Spanke
Die Philosophin Svenja Flaßpöhler beschäftigt sich in ihren Büchern gerne mit Reizthemen. Über Pornographie hat sie genauso geschrieben wie über selbstbestimmtes Sterben. Aus diesem Grund schätzt man sie als Gast in Diskussionsrunden, wo sie meinungsstark und streitbar auftritt. Als sie vor zwei Jahren von Peter Unfried und Harald Welzer für die taz zur sich steigernden sozialen Empfindlichkeit befragt wurde, gab sie zu bedenken, unsere Gesellschaft sei kaum noch in der Lage, Ambivalenz auszuhalten. Dass jemand etwa ein begabter Musiker, zugleich aber auch ein Kinderschänder sein könne, sei nicht mehr vermittelbar. Deswegen habe Michael Jackson keinen Anspruch auf einen Platz im kulturellen Gedächtnis. "Da zeigt sich eine neue Form von Sensibilität", resümierte die Chefredakteurin vom Philosophie Magazin, und das könne schnell "vom Progressiven ins Regressive kippen und zu moralischem Totalitarismus führen".
Solche Warnungen finden sich auch in dem Buch, das Flaßpöhler nun über die Entstehung moderner "Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren" geschrieben hat. Gleichwohl verzichtet sie diesmal auf die kratzige, von Thea Dorn entlehnte Diktion. Dafür bringt sie ein ganzes Bataillon von Gewährsleuten in Stellung, um die Vor- und Nachteile gesteigerter Sensibilität auf der einen und unverwüstlicher Resilienz auf der anderen Seite herauszuarbeiten: Norbert Elias und Ernst Jünger, Klaus Theweleit und Friedrich Nietzsche, Georg Simmel und Paul Valéry, Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa, Thomas Nagel und Michel Foucault. Die Autorin bricht triftige Thesen dieser Stichwortgeber auf wenig Raum herunter und sinniert über Gewalt, Grenzen der Empathie und Traumata - freilich auf Kosten systematischer Klarheit und zugunsten assoziativ-flotter Betrachtungen.
So geht es vom Zeitalter der Empfindsamkeit, deren Literatur den Lesern einen bislang unbekannten Blick auf das Verhältnis von Frauen und Männern erlaubte, mit Siebenmeilenstiefeln in die Wiener Moderne. Gerade noch in Gedanken bei Samuel Richardson und Jean-Jacques Rousseau, liegt man ein paar Absätze später auf der Couch von Sigmund Freud. Das Postulat, das diesen Spagat rechtfertigen soll: Sowohl in den Briefromanen des achtzehnten Jahrhunderts als auch in der therapeutischen Praxis vollziehe sich eine Aufwertung des Erzählens - und der einfühlsamen Betrachtung des Erzählten.
Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts fangen Sprachwissenschaftler der Autorin zufolge damit an, sich immer stärker für Zeichen zu interessieren. Das habe der Linguist Ferdinand de Saussure zu verantworten, dessen Idee einer Sprache, die als eigenes System Bedeutungen aus sich selbst hervorbringt, am Ende von Dekonstruktivisten infrage gestellt wurde. Jacques Derrida etwa argumentierte: Sollte nichts als die stets gleiche Wiederholung den Anschein einer sprachlichen Struktur nahelegen, ließe sich die Bedeutung mit einem anderen Gebrauch von Zeichen womöglich verändern.
Auftritt Judith Butler. Die Philosophin habe Derridas Ausführungen einfach auf die Geschlechterfrage übertragen: "Der sprachliche Akt immergleicher Bezeichnung erweckt lediglich den Anschein, als gebe es von Natur aus zwei fixe Geschlechtsidentitäten mit heterosexuellem Begehren." Tatsächlich seien solche Identitäten aber nur der Effekt eines bestimmten Sprachgebrauchs. Und wie ist das nun mit Triggerwarnungen und dem Gendern? Flaßpöhler sucht den Kompromiss. Ja, Sprache könne verletzen, man müsse sie vorsichtig verwenden und Rücksicht nehmen. Doch gerade weil sie in ihrer Bedeutungsdimension nicht fixiert sei, spreche "aus dekonstruktiver Sicht viel, wenn nicht gar alles gegen starre, kontextunabhängige Vorgaben".
Homosexuelle seien beispielsweise lange mit dem Wort "queer" diskriminiert worden. Heute führten sie den Begriff als Ausdruck des Selbstbewusstseins im Munde. Butler schreibt: "Das Wort, das verwundet, wird in der neuen Anwendung, die sein früheres Wirkungsgebiet zerstört, zum Instrument des Widerstands." Worauf Flaßpöhler hinauswill: Wer auf Differenzen beharrt und sie sprachlich zementiert, schreibt Identitäten fest. Das könne nicht Sinn einer Sensibilisierung sein. Konstruktiv erscheint der Autorin gegenseitiges Verständnis: für die, die sagen, der Einzelne müsse an sich arbeiten und widerstandsfähiger werden, und für jene, die fordern, die soziale Umgebung habe sich zu ändern. An einem lässt Flaßpöhler keinen Zweifel: Die Sensibilisierung der Gesellschaft markiert einen zivilisatorischen Fortschritt.
Svenja Flaßpöhler: "Sensibel". Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2021. 240 S., geb., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.10.2021Starre
Sturheit
Svenja Flaßpöhler versucht eine
Grundsatzkritik moderner Empfindlichkeit
VON AURELIE VON BLAZEKOVIC
Svenja Flaßpöhler hat ein Spiel für ihre Leser vorbereitet, einen Psychotest. Er besteht aus drei Situationen, die erste geht so: „Sie sitzen im Theater, es wird Shakespeares ‚Othello‘ gespielt, auf der Bühne wird das ‚M-Wort‘ ausgesprochen.“ Die Reaktionsmöglichkeiten: „A) Es fällt Ihnen gar nicht weiter auf.“ Oder „B) Sie sind geschockt und verlassen den Saal.“
Das wären zwei mögliche Verhaltensweisen. Mindestens eine weitere, naheliegende Option fehlt aber – nicht nur bei diesem bipolaren Spiel in „Sensibel“: C) Es fällt Ihnen auf, aber Sie sind nicht geschockt. Auch denkbar: D) Es stört Sie und Sie besprechen die Sache später mit Ihrer Begleitung. Oder E) Sie erinnern sich an Situationen, in denen Sie selbst mit M- oder N-Wort überzogen wurden, und wissen nicht, wie Sie sich jetzt verhalten sollen. Oder auch F) Sie wollten nur mal eben auf Toilette gehen und nun denken alle, es wäre eine Protestaktion gewesen, als Sie den Saal verlassen haben.
Gesellschaft und Selbst werden immer sensibler, so die Grundannahme Flaßpöhlers. Es geht um die Grenzen des Zumutbaren, die, den Eindruck kann man bei den vielen Triggerwarnungen im Internet ja schon bekommen, irgendwie enger werden. Dass gerade Generationen wehleidiger Schneeflöckchen heranwachsen, die sich überall und ständig von Verletzungen bedroht fühlen und fordern, dass sich zu ihrem Schutz alle anderen anzupassen haben, ist seit mindestens zehn Jahren eine beliebte Erzählung über junge Leute. Ein bisschen Kulturpessimismus geht immer.
Ganz so leicht macht es sich die Chefredakteurin des Philosophie Magazins zwar nicht, geht es ihr doch darum, die angeblich verhärteten Fronten zwischen Empfindlichen und Unempfindlichen aufzulösen. Als Gegenstück zur Sensibilität wählt sie die Resilienz, also die seelische Widerstandskraft. Berührungspunkte zwischen den beiden Konzepten möchte sie herausarbeiten, „denn wenn es gelänge, die Resilienz mit der Kraft der Empfindsamkeit in ein Bündnis zu bringen, wäre der Konflikt, der gegenwärtig die Gesellschaft spaltet, in etwas Drittem aufgehoben“.
Fraglich nur, ob man das erst erreichen muss oder dieses Bündnis nicht schon existiert. Denn die Prämisse des Buchs, dass sich Sensible und Resiliente heutzutage oder sogar prinzipiell unversöhnlich gegenüberstünden, will selbst nach vielen interessanten Betrachtungen des Sensibilitäts-Verständnisses von Rousseau, Foucault und Freud, auch von der Sprachsensibilität nach Ferdinand de Saussure bis Judith Butler nicht einleuchten.
Flaßpöhler löst also Widersprüche auf, wo keine sein müssten. Um nur auf der individuellen Ebene zu bleiben: Warum sollte jemand Sensibles – ob eher empfänglich veranlagt oder weinerlich – nicht auch Widerstandskraft beweisen? Dass Verletzlichkeit eine Stärke sein kann, erklärt inzwischen sogar Heidi Klum ihren Mädchen bei „Germany’s Next Topmodel“. Dennoch meint Flaßpöhler das Trend-Thema der Resilienz verteidigen zu müssen. Gleichzeitig stellt sie klar, dass hier genauso wie im Fall der Sensibilität zu viel des Guten zu viel ist. Zur Veranschaulichung entwirft sie fiktive Figuren, Johan, einen nonnenschändenden Ritter des 11. Jahrhunderts und dessen mimosenhaften Widerpart Jan aus dem 21. Jahrhundert, der für die Tiere vegetarisch isst und für die Frauen gendert.
Immer wieder erkennt Flaßpöhler dann, dass bestimmte Dinge „zwei Seiten einer Medaille“ sind und ein Mittelweg zwischen Extremen gut wäre, dass Sensibilität wie Resilienz in bestimmten Kontexten hilfreich sein können und in anderen hinderlich. Dass seelische Verpanzerung etwa Kriegszeugen beim Überleben hilft, ist genauso nachvollziehbar wie die Tatsache, dass man es mit Forderungen nach „Safe Spaces“ auch übertreiben kann. Flaßpöhler erläutert das aber nicht etwa anhand von Studien, die reihenweise zur Verfügung stünden, sondern intuitiv – und leider auch mit Strohmännern wie dem herzlosen Mittelaltermonster und der modernen Großstadtheulsuse.
Die richtige Intuition, die Flaßpöhler auf die Sensibilität als Thema unserer Zeit gebracht hat, zeigt sich erst in späteren Teilen des Buchs. Zum Beispiel die Entgrenzung des Trauma-Begriffs, die Frage, ob man sich bei Forderungen nach Sprachtabus auf die Genderforscherin Judith Butler berufen kann, die Überlegung, wo Grenzüberschreitung beim Sex anfängt – sie alle sind relevant. Dafür in verschiedene Denkschulen zu sehen und anhand von Theorien zu ordnen, ist gleichfalls hilfreich.
Nur – auch wenn sie sich explizit bemüht, es nicht zu tun – holt Flaßpöhler immer wieder zu überzogener Gegenwartskritik aus: Etwa schauten „weite Teile der Bevölkerung, anstatt ihre Umwelt auch nur aus den Augenwinkeln wahrzunehmen, starr und stur auf ihr Smartphone“. Sätze, die zum Staubwischen animieren.
Zu Beginn behauptet Flaßpöhler noch, kein polemisches Buch geschrieben zu haben. Gerade ihre Dosis an Polemik ist es jedoch, die vielleicht auch Überzeugungsarbeit leistet, also den einen oder anderen ignoranten Polemiker abholt und ihn zur goldenen Mitte führt.
Denn dass heute allerorts nicht mehr Argumente, sondern Empfindungen über Recht und Unrecht entschieden (und das auch noch von Menschen, die auf ihr Smartphone starren!), beweinen ja nicht nur alte weiße Männer.
Der Ansatz, zwischen Sensiblen und Resilienten zu vermitteln, bleibt aber unsinnig, weil unnötig. In einer Welt, in der mehr Menschen denn je ihre Wirkmacht erkennen, das Wort ergreifen, ihr Verhalten in Therapien bereitwillig ändern wollen und Unrecht anklagen, muss man nicht pauschal allen erklären, dass sie die Dinge auch selbst in die Hand nehmen können.
Vielleicht ist dies ein grundsätzliches Missverständnis, das schon Flaßpöhlers Kritik an „MeToo“ erahnen ließ: Frauen hätten sich in der Debatte in die Opferrolle ergeben, argumentierte sie in ihrer Streitschrift „Die potente Frau“ von 2018. Ausgerechnet Frauen, die aktiv gegen widerfahrenes Unrecht vorgingen, sollen die eigene Autonomie vergessen haben? Und solche, die sich aus guten Gründen dagegen entschieden, an die Öffentlichkeit zu treten, sind dann keine Opfer? Oder die besseren Opfer? Die einen sensibel, die anderen resilient? Manche Gegensätze konstruiert man besser nicht. Auch nicht, um sie selbst wieder aufzulösen.
Dass Verletzlichkeit
eine Stärke sein kann,
erklärt inzwischen sogar
Heidi Klum ihren
Topmodel-Kandidatinnen
Svenja Flaßpöhler:
Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren. Klett-Cotta, Stuttgart 2021.
240 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Sturheit
Svenja Flaßpöhler versucht eine
Grundsatzkritik moderner Empfindlichkeit
VON AURELIE VON BLAZEKOVIC
Svenja Flaßpöhler hat ein Spiel für ihre Leser vorbereitet, einen Psychotest. Er besteht aus drei Situationen, die erste geht so: „Sie sitzen im Theater, es wird Shakespeares ‚Othello‘ gespielt, auf der Bühne wird das ‚M-Wort‘ ausgesprochen.“ Die Reaktionsmöglichkeiten: „A) Es fällt Ihnen gar nicht weiter auf.“ Oder „B) Sie sind geschockt und verlassen den Saal.“
Das wären zwei mögliche Verhaltensweisen. Mindestens eine weitere, naheliegende Option fehlt aber – nicht nur bei diesem bipolaren Spiel in „Sensibel“: C) Es fällt Ihnen auf, aber Sie sind nicht geschockt. Auch denkbar: D) Es stört Sie und Sie besprechen die Sache später mit Ihrer Begleitung. Oder E) Sie erinnern sich an Situationen, in denen Sie selbst mit M- oder N-Wort überzogen wurden, und wissen nicht, wie Sie sich jetzt verhalten sollen. Oder auch F) Sie wollten nur mal eben auf Toilette gehen und nun denken alle, es wäre eine Protestaktion gewesen, als Sie den Saal verlassen haben.
Gesellschaft und Selbst werden immer sensibler, so die Grundannahme Flaßpöhlers. Es geht um die Grenzen des Zumutbaren, die, den Eindruck kann man bei den vielen Triggerwarnungen im Internet ja schon bekommen, irgendwie enger werden. Dass gerade Generationen wehleidiger Schneeflöckchen heranwachsen, die sich überall und ständig von Verletzungen bedroht fühlen und fordern, dass sich zu ihrem Schutz alle anderen anzupassen haben, ist seit mindestens zehn Jahren eine beliebte Erzählung über junge Leute. Ein bisschen Kulturpessimismus geht immer.
Ganz so leicht macht es sich die Chefredakteurin des Philosophie Magazins zwar nicht, geht es ihr doch darum, die angeblich verhärteten Fronten zwischen Empfindlichen und Unempfindlichen aufzulösen. Als Gegenstück zur Sensibilität wählt sie die Resilienz, also die seelische Widerstandskraft. Berührungspunkte zwischen den beiden Konzepten möchte sie herausarbeiten, „denn wenn es gelänge, die Resilienz mit der Kraft der Empfindsamkeit in ein Bündnis zu bringen, wäre der Konflikt, der gegenwärtig die Gesellschaft spaltet, in etwas Drittem aufgehoben“.
Fraglich nur, ob man das erst erreichen muss oder dieses Bündnis nicht schon existiert. Denn die Prämisse des Buchs, dass sich Sensible und Resiliente heutzutage oder sogar prinzipiell unversöhnlich gegenüberstünden, will selbst nach vielen interessanten Betrachtungen des Sensibilitäts-Verständnisses von Rousseau, Foucault und Freud, auch von der Sprachsensibilität nach Ferdinand de Saussure bis Judith Butler nicht einleuchten.
Flaßpöhler löst also Widersprüche auf, wo keine sein müssten. Um nur auf der individuellen Ebene zu bleiben: Warum sollte jemand Sensibles – ob eher empfänglich veranlagt oder weinerlich – nicht auch Widerstandskraft beweisen? Dass Verletzlichkeit eine Stärke sein kann, erklärt inzwischen sogar Heidi Klum ihren Mädchen bei „Germany’s Next Topmodel“. Dennoch meint Flaßpöhler das Trend-Thema der Resilienz verteidigen zu müssen. Gleichzeitig stellt sie klar, dass hier genauso wie im Fall der Sensibilität zu viel des Guten zu viel ist. Zur Veranschaulichung entwirft sie fiktive Figuren, Johan, einen nonnenschändenden Ritter des 11. Jahrhunderts und dessen mimosenhaften Widerpart Jan aus dem 21. Jahrhundert, der für die Tiere vegetarisch isst und für die Frauen gendert.
Immer wieder erkennt Flaßpöhler dann, dass bestimmte Dinge „zwei Seiten einer Medaille“ sind und ein Mittelweg zwischen Extremen gut wäre, dass Sensibilität wie Resilienz in bestimmten Kontexten hilfreich sein können und in anderen hinderlich. Dass seelische Verpanzerung etwa Kriegszeugen beim Überleben hilft, ist genauso nachvollziehbar wie die Tatsache, dass man es mit Forderungen nach „Safe Spaces“ auch übertreiben kann. Flaßpöhler erläutert das aber nicht etwa anhand von Studien, die reihenweise zur Verfügung stünden, sondern intuitiv – und leider auch mit Strohmännern wie dem herzlosen Mittelaltermonster und der modernen Großstadtheulsuse.
Die richtige Intuition, die Flaßpöhler auf die Sensibilität als Thema unserer Zeit gebracht hat, zeigt sich erst in späteren Teilen des Buchs. Zum Beispiel die Entgrenzung des Trauma-Begriffs, die Frage, ob man sich bei Forderungen nach Sprachtabus auf die Genderforscherin Judith Butler berufen kann, die Überlegung, wo Grenzüberschreitung beim Sex anfängt – sie alle sind relevant. Dafür in verschiedene Denkschulen zu sehen und anhand von Theorien zu ordnen, ist gleichfalls hilfreich.
Nur – auch wenn sie sich explizit bemüht, es nicht zu tun – holt Flaßpöhler immer wieder zu überzogener Gegenwartskritik aus: Etwa schauten „weite Teile der Bevölkerung, anstatt ihre Umwelt auch nur aus den Augenwinkeln wahrzunehmen, starr und stur auf ihr Smartphone“. Sätze, die zum Staubwischen animieren.
Zu Beginn behauptet Flaßpöhler noch, kein polemisches Buch geschrieben zu haben. Gerade ihre Dosis an Polemik ist es jedoch, die vielleicht auch Überzeugungsarbeit leistet, also den einen oder anderen ignoranten Polemiker abholt und ihn zur goldenen Mitte führt.
Denn dass heute allerorts nicht mehr Argumente, sondern Empfindungen über Recht und Unrecht entschieden (und das auch noch von Menschen, die auf ihr Smartphone starren!), beweinen ja nicht nur alte weiße Männer.
Der Ansatz, zwischen Sensiblen und Resilienten zu vermitteln, bleibt aber unsinnig, weil unnötig. In einer Welt, in der mehr Menschen denn je ihre Wirkmacht erkennen, das Wort ergreifen, ihr Verhalten in Therapien bereitwillig ändern wollen und Unrecht anklagen, muss man nicht pauschal allen erklären, dass sie die Dinge auch selbst in die Hand nehmen können.
Vielleicht ist dies ein grundsätzliches Missverständnis, das schon Flaßpöhlers Kritik an „MeToo“ erahnen ließ: Frauen hätten sich in der Debatte in die Opferrolle ergeben, argumentierte sie in ihrer Streitschrift „Die potente Frau“ von 2018. Ausgerechnet Frauen, die aktiv gegen widerfahrenes Unrecht vorgingen, sollen die eigene Autonomie vergessen haben? Und solche, die sich aus guten Gründen dagegen entschieden, an die Öffentlichkeit zu treten, sind dann keine Opfer? Oder die besseren Opfer? Die einen sensibel, die anderen resilient? Manche Gegensätze konstruiert man besser nicht. Auch nicht, um sie selbst wieder aufzulösen.
Dass Verletzlichkeit
eine Stärke sein kann,
erklärt inzwischen sogar
Heidi Klum ihren
Topmodel-Kandidatinnen
Svenja Flaßpöhler:
Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren. Klett-Cotta, Stuttgart 2021.
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»Eine brillante Ideengeschichte der Sensibilität.« Peer Teuwsen, NZZ am Sonntag, 17.10.2021 Peer Teuwsen NZZ am Sonntag 20211017