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© BÜCHERmagazin, Ann-Kathrin Maar (akm)
Mareike Krügel erzählt in ihrem Roman "Sieh mich an" von einer Mutter, die nur scheinbar alles unter Kontrolle hat
Eine Decke im Kofferraum, zwei Müsliriegel und eine kleine Tüte mit frischer Unterwäsche und Socken im Handschuhfach, bunte und neutrale Pflaster, eine kleine Flasche Desinfektionsspray, Taschentücher, Rescue-Tropfen, Hustenbonbons und ein Schweizer Taschenmesser in der Handtasche: Von außen betrachtet wirkt Katharina wie eine dieser Frauen, die immer alles unter Kontrolle haben. Wie eine Super-Mom.
Doch als Leser des Romans "Sieh mich an", dem vierten Roman der an der Ostsee lebenden 40-jährigen Autorin Mareike Krügel, betrachten wir Katharina nicht von außen. Der 255-seitige Alltags- und Gefühlsbericht der zweifachen Mutter zeigt, dass Katharinas Kontrolle nur eine Oberflächenerscheinung ist. Ihre elfjährige Tochter Helli hat ADHS, stets pendelt sie "zwischen Wut und Eifer, höchster Freude und tiefster Verzweiflung, guten Absichten und finsteren Racheplänen" hin und her. Ihren Mann sieht Katharina seit einem Jahr nur noch am Wochenende, weil er eine Stelle in Berlin angenommen hat - rund dreihundert Kilometer entfernt von ihrem Wohnort Lübeck. Und als wäre das nicht schon genug, hat sie vor kurzem auch noch ein "Etwas" in ihrer Brust entdeckt. "Die Lücke, die der Trockner hinterlassen hat, sieht wüst aus. Wie ein leeres Grundstück zwischen Waschmaschine und Badewanne, voller Staub und Schmutz, Fussel und zerknüllten Lappen, die das Löschwasser aufgesogen haben. Jede Ordnung ist stets nur eine Oberfläche, schaut man darunter, entdeckt man den Dreck und die Krümel", stellt Katharina fest, als sie ihr Badezimmer betrachtet. Das Gleiche, was für ihre Haushaltsgeräte gilt, scheint auch auf sie selbst zuzutreffen.
Was an Katharinas innerem Monolog angenehm ist, ist die Ehrlichkeit, mit der sie von ihrem Leben als Mutter und Hausfrau erzählt. Indem sie den "Overkill der Berührungen" beschreibt, der entsteht, wenn alle Familienmitglieder meinen, ein Recht auf ihren Körper zu haben, indem sie gesteht, dass sie den Impuls, ihre Kinder zu schlagen, kennt, oder indem sie von dem einen Mal berichtet, an dem sie ernsthaft daran gedacht hat, ihrem Dasein ein Ende zu setzen, gewährt sie uns einen Einblick in die dunklen, aber realen Momente des Mutterseins. Angenehm ist außerdem der Erzählton der Ich-Erzählerin - obwohl Katharina sich mit ihrem bevorstehenden Tod, dem künftigen Verlust ihrer Familie auseinandersetzt, wird sie nicht pathetisch, sondern betrachtet die Situation mit Nüchternheit.
Was allerdings nicht so angenehm ist, sind die Passagen, in denen sich zeigt, wie verbittert und pessimistisch Katharina hinter ihrer nüchternen Fassade wirklich ist. Ursprünglich war es der Plan der studierten Musikwissenschaftlerin, zu promovieren und danach an einer Musikhochschule zu lehren - sie wollte "etwas erschaffen oder bewirken". Doch ihre häuslichen Verpflichtungen haben sie immer wieder davon abgehalten, ihre Dissertation zu Ende zu schreiben. Zwar unterrichtet sie nebenher tatsächlich Musik, jedoch nicht an der Universität, sondern im Kindergarten. Immer wieder mault sie darüber, dass sie sich nicht selbst verwirklichen konnte, bezeichnet sich selbst zynisch als "Kindergarten"- oder "Musiktante mit integriertem Kinder-Fahrdienst" und überlegt sich Grabinschriften wie "Katharina Theodoroulakis - Sie wollte sowieso nicht an die Uni", "Das hab ich mir alles ganz anders vorgestellt" oder "Hätte, hätte, Fahrradkette".
Oft geht es Katharina auch gar nicht mehr nur um ihr persönliches Schicksal: Den Unmut über ihre eigene Situation weitet sie auf die Geschlechterverhältnisse im Allgemeinen aus. Doch Kritik, die aus Ressentiment entsteht, kann nie besonders gehaltvoll sein. So wird ihre Kritik am Sexismus oft selbst zweifelhaft, zum Beispiel wenn sie sich fragt, ob die ewige Männerherrschaft schuld an der Ausbeutung und Zerstörung der Erde sei, weil Männer, im Unterschied zu Frauen, keine Ahnung von Zyklen und Rhythmen hätten.
Man kann einfach nicht anders. Obwohl man von ihrer unglücklichen Lage weiß, ärgert man sich über die Protagonistin. Man denkt: Jetzt reiß dich doch mal zusammen. Ändere was, anstatt immer nur rumzuheulen. Die Möglichkeiten, dass das "Etwas" auch kein Brustkrebs sein könnte, dass der Tumor gutartig oder dass sie geheilt werden könnte, zieht die Protagonistin gar nicht erst in Betracht. Sie geht von vorneherein davon aus, dass sie sterben wird. Angesichts ihrer Situation mögen ihr Pessimismus und ihre Verbitterung zwar authentisch und nachvollziehbar sein, nerven tun sie trotzdem.
Ähnlich verhält es sich mit der Sprache des Romans. Wiederholt schleichen sich schiefe Bilder in Katharinas Erzählung ein: "Manchmal denke ich, ich bin eine Art Spinne im Netz, dessen Fäden zu all den Leuten reichen, die ihr wichtig sind. Sobald sich einer von ihnen bewegt, zittert oder ruckt der Faden, und ich zittere oder rucke mit. Das Bild ist allerdings schief; Spinnen haben Netze, um Beute zu machen. Wenn es irgendwo ruckt, bedeutet das, es gibt etwas zu essen." Die sprachlichen Schwächen, auf die uns die Ich-Erzählerin an dieser Stelle selbst hinweist, erzeugen ebenso wie ihre verbitterte Haltung Authentizität. Die Kehrseite der Authentizität ist allerdings, dass der Roman in sprachlicher Hinsicht uninteressant ist.
Sprachlich reizvolle Stellen, wie diese, sind in "Sieh mich an" Ausnahmeerscheinungen: "Ich schicke ihr Bilder von den Kindern und mir, auf denen ich stets unscharf wirke, weil ich damit beschäftigt bin, Helli abzulenken, bis das Foto geschossen ist." Die Unschärfe Katharinas ist als Metapher zu verstehen, die verbildlicht, dass sie sich durch ihre mütterliche Aufopferung von ihren eigenen Bedürfnissen sowie von ihren ursprünglichen Wesenszügen und Zielen so weit entfernt hat, dass ihr Ich fast gänzlich seine Form verloren hat. Bei dieser Metapher handelt es sich um eine geglückte, weil die Autorin sie ausnahmsweise nicht der Ich-Erzählerin in den Mund gelegt hat - sie funktioniert auf einer Metaebene.
Die Höhen und Tiefen in Mareike Krügels Roman "Sieh mich an" stellen Alltäglichkeiten wie blutende Nasen, kleine Reitunfälle und Haustierfluchten dar; der Wendepunkt der Erzählung lässt rund 192 Seiten auf sich warten und kommt so leise daher, dass man fast über ihn hinwegliest; Kapitel gibt es in dem Roman nicht, wodurch die fehlende Differenz zwischen den einzelnen Abschnitten noch mehr hervorsticht; und Katharinas häufige Rückblenden verlangsamen das Tempo des Romans, der insgesamt von nur einem einzigen Tag in dem Leben der Mutter erzählt, so sehr, dass man manchmal befürchtet, die Handlung käme vorzeitig zum Stehen. Es zeigt sich, dass man als Leser nicht nur durch das verbitterte Gemaule der Ich-Erzählerin, sondern auch durch den Handlungsaufbau des Romans das Gefühl bekommt, auf der Stelle zu treten. Im Fall "Sieh mich an" ist der Weg zur Einsicht nicht gerade ein leichtfüßiger Spaziergang. Wie so oft.
JACQUELINE THÖR
Mareike Krügel: "Sieh mich an". Roman. Piper, 256 Seiten, 20 Euro
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