Die ganze Verletzlichkeit des Lebens in nur einem Moment. Was macht eine gute Beziehung aus? Was ist Liebe - und was nicht? John Burnsides Geschichten tauchen in das Leben von Männern und Frauen ein, die - in einer Ehe gefangen, gebeutelt von falschen Erwartungen, dem Alkohol verfallen - alles andere als ideale Paare verkörpern. Untreu, einsam, krank, begegnet man seinen Heldinnen und Helden bevorzugt nachts auf leeren Straßen. Von so etwas wie Glück können sie nur träumen, ihre Gefühle bleiben meist sprachlos. Und doch könnten sie unsere Nachbarn sein. Burnside ist einer der besten Gegenwartslyriker und zugleich bemerkenswerter Essayist und Romancier. Mit dem vorliegenden Band lässt er sich nun erstmals in deutscher Sprache auch als Autor von Kurzgeschichten kennenlernen. Jede der zwölf Erzählungen der von ihm eigens zusammengestellten Auswahl zeigt die ganze Verletzlichkeit eines Lebens in nur einem Moment - und besitzt dennoch das Gewicht und die Dichte eines großen Romans.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Juliane Liebert empfiehlt John Burnsides Geschichten allen Lesern mit Ängsten. An Burnsides poetischer Melodik und ruhiger, musikalischer Rollenprosa dürfen sie sich laben, verspricht die Rezensentin. Dass uns immer Schönheit begegnen kann, noch im Schneesturm oder beim Anblick schmelzender Polkappen, ist eine Lehre, die Liebert aus der Lektüre mitnimmt. Darüber hinaus bieten die Erzählungen vom (knapp verpassten) Beziehungsglück laut Liebert stilistische Eleganz und eine bemerkenswerte "literarische Widerständigkeit".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.11.2022Das Unglück kleiner Leute
Die neuen Erzählungen von John Burnside berichten
von Träumen und der Tristesse der schottischen Arbeiterklasse
VON JULIANE LIEBERT
Eis und Schnee. Bohrkerne von den Polkappen und Pfirsich Melba. Gefroren frische Gegenwart und wie sie einem durch die Finger rinnt, ohne je greifbar zu werden. Die Wendepunkte eines Lebens sind in John Burnsides Geschichten so kristallklar wie eine Schneeflocke unterm Mikroskop, so geisterhaft wie die weiße Weltendecke nach einem frühen Wintereinbruch.
Der Moment vor einem Unfall hinterlässt einen gap im Lebensfilm, so als wären seine Bilder in sich nicht mehr synchron, die Seele für immer aus dem Takt der Ereignisse geraten: „Ich hole nie auf, bin nie völlig da, hinke stets eine Millisekunde dem Augenblick hinterher“, sagt der Mann, der sich als Junge im Eiscafé erinnert, dem „House of Ice Cream“, aus dem die unvorstellbar schönste Frau gerade auf die Straße geeilt ist. Pfirsich Melba, in Erwartung des ersten Schnees.
Burnside, in Schottland geboren, in England erwachsen geworden, ist einer jener seltenen Schriftsteller, die über ein gleichermaßen genaues Gespür fürs Dichten wie fürs Erzählen verfügen. Wenn Kritiker schreiben, man merke der Prosa von XY seine Herkunft von der Lyrik an, liest sich das ja schnell wie ein vergiftetes Kompliment: Blumige Sprache, anstrengend zu lesen und wenig Action. Nun, Genre-Reißer wird man auch in der vom Autor eigens für seinen deutschen Verlag zusammengestellten Erzählungssammlung „So etwas wie Glück: Geschichten über die Liebe“ nicht finden, wohl aber eine hohe Spannung, die sich einer nahezu makellosen narrativen Technik verdankt.
Es klingt prosaisch, aber zu erzählen bedeutet vor allem, Informationen ökonomisch zu verwalten. Wer mit unerhörten Begebenheiten um sich wirft, schreibt keine Novelle, sondern ein Boulevardblatt. Wer ungeordnet den Alltag ausplaudert, deprimiert bestenfalls seine Mitmenschen und redet sich schlimmstenfalls um Kopf und Kragen. In einer auf die Fahrbahn geschleuderten Schürze findet sich nur dann ein Loch in der Ordnung des Universums, wenn zuvor das Richtige ausgesprochen und verschwiegen wurde.
John Burnside vermag es mit leiser Eleganz, ganz beiläufig. Wenn man an seiner Prosa überhaupt einen Fehler aufspüren möchte, dann dass sie manchmal haarscharf daran vorbeischrammt, zu gut gemacht zu sein. Aber so schrammen seine Figuren auch vorbei am Glück. Der Untertitel „… über die Liebe“ ist sicherlich nicht falsch, mag die Buchverkäufe fördern, verengt aber die Perspektive. Burnside interessiert sich für die (Un-)Möglichkeit von Liebe, insofern sie ein Schlüssel zur Flüchtigkeit des Lebens selbst ist.
Er erzählt aber ebenso von der Tristesse und den Träumen der britischen Arbeiterklasse, einem friedlichen Empfinden der Endlichkeit und sogar von der Erwärmung unseres Planeten, ohne dass die politische Plattitüde jemals auch nur in Sichtweite geriete. Sonnenbrand, Sommerbad, Eis und Schnee. Das Klima bleibt Hintergrund, eine Doku über Polarforscher („Sonnenbrand“), ein Wasserfleck auf dem Sitz eines Polizeiwagens wie in „Die Zukunft des Schnees“. Wo eben noch Frank saß, der seit dem Tod seiner Frau etwas verrückt ist und auf Pantoffeln durch die Kälte irrte, ehe er vom Dorfpolizisten eingesammelt wurde. „‚Die Wetterfrösche’, sagt er, ,Sie haben’s bewiesen. Die Erde wird ständig wärmer.’ Er blickt auf seine Kleider, als nehme er sie zum ersten Mal wahr. ,Kein Schnee mehr’. sagt er, die Stimme verhalten vor Staunen.“ Wo für manche Aktivisten angesichts der drohenden Katastrophe alles Kleinmenschliche bedeutungslos erscheint, ist das Unglück der einfachen Frau, die den falschen Mann geheiratet hat, für Burnside nicht weniger groß und unfassbar als die Veränderungen in der Erdatmosphäre und ihre Folgen für sämtliche Lebewesen. So gesehen trifft es doch: Hier geht’s um die Liebe. Oder um „So etwas wie Glück“.
Arthur McKechnie ist der Sonderling in einer verrufenen Familie. Die Erzählerin einfache Bankangestellte und damit schon mehr als die meisten im Ort. Beide verbindet „so etwas wie …“ – nur was genau, bleibt in einer quälenden, aber ebenso magischen Schwebe, auch beim Schwimmen im Tümpel „Twenty-Two“ mit seiner seltsamen Tiefenströmung. „Es war mehr als bloße Oberflächenbewegung, ging einem bis ins Mark, eine Macht mit eigener Gestalt.“ Anstatt sich zu fürchten, findet sich die junge Frau darin wieder: „jedenfalls fühlte es sich wie was an, was mir exakt entsprach“. Doch als sie an ihrem Lieblingsplatz Arthur begegnet, verbirgt er sich vor ihr, indem er abtaucht und eine unnatürlich lange Zeit unter Wasser bleibt. Es wird Herbst, und für kaum einen Tag bricht unverfälschte Romantik ein in den Schmutz der Industriegegend, „ein überraschender Schneesturm, eine schöne Anomalie. Und es schneite, wie man es aus Filmen kennt, weiß, perfekt und in großen Flocken“; allzu bald weicht er wieder „Rauch und Roheisen“. Was folgt, ist ein sinnloser, aber auch ganz und gar logischer Gewaltausbruch.
Wobei trotz der stets präsenten physischen Gewalt keine der Geschichten von einer drastischen Pointe lebt, im Gegenteil, ihre literarische Widerständigkeit liegt darin, dass sie genau beobachten, was vor oder nach der Explosion geschieht, in Distanz zu ihr, anstatt Katastrophen zu begaffen. Nur selten wählt Burnside etwas robustere Mittel, wenn er beispielsweise in „Schlampenflusen“ einen effektsicher gekerbten Holzschnitt eines Grobians von Ehemann vor uns hinstellt. Der allerdings von einer blauen (Staub-)maus kontrastiert wird, einem verängstigten Nichts in einer Küchenecke, das Hoffnung weckt, indem es entwischt.
Überhaupt: das Verschwinden. Ob im Nebel der Sandbank wie in der Erzählung „Pfuhlschnepfen“, die mit einer dunstverhangenen Umkehrung der Schlussszene von Truffauts „Sie küssten und sie schlugen ihn“ endet. Statt wie Antoine Doinel zum Auftakt der Nouvelle Vague freiheitssehnsüchtig zum Meer rennt Jamie im letzten Moment zurück ans sichere Land. Oder Verschwinden im Schnee. So imaginiert es Fiona, die Bankangestellte: „Ich würde unsichtbar sein. In diesem unerbittlich rasch fallenden Schnee geschah es bereits; ich verschwand schon, und ich verschwand nicht nur in diesem Weiß, sondern in allem um mich herum.“
Was sie keineswegs als fürchterlich erlebt: „Das war gar nicht so übel, vielleicht hatte ich mir sogar genau das immer gewünscht. Bleiben, wo ich war, und hinter der Tapete verschwinden.“ Wenn es eine Zielgruppe gibt, der man „So etwas wie Glück“ besonders ans Herz legen möchte, dann vielleicht Menschen, die schlimme Ängste kennen. Denn die melodischen Sätze – meistens melancholisch, nie elegisch, oft gewitzt, immer wieder wunderbare Rollenprosa, von Bernhard Robben ohne Verlust an Musikalität ins Deutsche übertragen –, diese Sätze strahlen eine eigenartige Ruhe aus.
Keine, die Unbeugsamkeit oder Fatalismus entspringt, sondern der aus schlichter Aufmerksamkeit gewonnenen Einsicht, dass uns jederzeit Schönheit begegnen kann, auch wenn alles zu Ende geht. In der Auftakterzählung erhält Bill eine endgültige Krebsdiagnose und geht doch ganz normal zur Arbeit, Melasse ausfahren. Auch er fürchtet nicht das Verschwinden, als er auf dem Heimweg in einen „Graupelschauer“ gerät, „der später vielleicht in Schnee übergehen würde, vielleicht auch nicht“. Er schaltet die Scheinwerfer ein. „Als ich den Wald erreichte, unter die Buchen abtauchte, war es, als führe ich in ein kleines Theater; Lichter flackerten durchs Dunkel, der Wald schwarz und still wie eine Kulissenwand. Das hat mir am Wald schon immer gefallen, die Art, wie er mich plötzlich umschließt, fast als sollte eine Geschichte erzählt werden.“
Diese melodischen Sätze
strahlen eine
eigenartige Ruhe aus
Ein friedliches Empfinden der Endlichkeit durchweht Burnsides Prosa: Blick auf die Stadt Inverness.
Foto: C. Jul/Imago
John Burnside: So etwas wie Glück. Geschichten über die Liebe. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Penguin Verlag, München 2022.
256 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die neuen Erzählungen von John Burnside berichten
von Träumen und der Tristesse der schottischen Arbeiterklasse
VON JULIANE LIEBERT
Eis und Schnee. Bohrkerne von den Polkappen und Pfirsich Melba. Gefroren frische Gegenwart und wie sie einem durch die Finger rinnt, ohne je greifbar zu werden. Die Wendepunkte eines Lebens sind in John Burnsides Geschichten so kristallklar wie eine Schneeflocke unterm Mikroskop, so geisterhaft wie die weiße Weltendecke nach einem frühen Wintereinbruch.
Der Moment vor einem Unfall hinterlässt einen gap im Lebensfilm, so als wären seine Bilder in sich nicht mehr synchron, die Seele für immer aus dem Takt der Ereignisse geraten: „Ich hole nie auf, bin nie völlig da, hinke stets eine Millisekunde dem Augenblick hinterher“, sagt der Mann, der sich als Junge im Eiscafé erinnert, dem „House of Ice Cream“, aus dem die unvorstellbar schönste Frau gerade auf die Straße geeilt ist. Pfirsich Melba, in Erwartung des ersten Schnees.
Burnside, in Schottland geboren, in England erwachsen geworden, ist einer jener seltenen Schriftsteller, die über ein gleichermaßen genaues Gespür fürs Dichten wie fürs Erzählen verfügen. Wenn Kritiker schreiben, man merke der Prosa von XY seine Herkunft von der Lyrik an, liest sich das ja schnell wie ein vergiftetes Kompliment: Blumige Sprache, anstrengend zu lesen und wenig Action. Nun, Genre-Reißer wird man auch in der vom Autor eigens für seinen deutschen Verlag zusammengestellten Erzählungssammlung „So etwas wie Glück: Geschichten über die Liebe“ nicht finden, wohl aber eine hohe Spannung, die sich einer nahezu makellosen narrativen Technik verdankt.
Es klingt prosaisch, aber zu erzählen bedeutet vor allem, Informationen ökonomisch zu verwalten. Wer mit unerhörten Begebenheiten um sich wirft, schreibt keine Novelle, sondern ein Boulevardblatt. Wer ungeordnet den Alltag ausplaudert, deprimiert bestenfalls seine Mitmenschen und redet sich schlimmstenfalls um Kopf und Kragen. In einer auf die Fahrbahn geschleuderten Schürze findet sich nur dann ein Loch in der Ordnung des Universums, wenn zuvor das Richtige ausgesprochen und verschwiegen wurde.
John Burnside vermag es mit leiser Eleganz, ganz beiläufig. Wenn man an seiner Prosa überhaupt einen Fehler aufspüren möchte, dann dass sie manchmal haarscharf daran vorbeischrammt, zu gut gemacht zu sein. Aber so schrammen seine Figuren auch vorbei am Glück. Der Untertitel „… über die Liebe“ ist sicherlich nicht falsch, mag die Buchverkäufe fördern, verengt aber die Perspektive. Burnside interessiert sich für die (Un-)Möglichkeit von Liebe, insofern sie ein Schlüssel zur Flüchtigkeit des Lebens selbst ist.
Er erzählt aber ebenso von der Tristesse und den Träumen der britischen Arbeiterklasse, einem friedlichen Empfinden der Endlichkeit und sogar von der Erwärmung unseres Planeten, ohne dass die politische Plattitüde jemals auch nur in Sichtweite geriete. Sonnenbrand, Sommerbad, Eis und Schnee. Das Klima bleibt Hintergrund, eine Doku über Polarforscher („Sonnenbrand“), ein Wasserfleck auf dem Sitz eines Polizeiwagens wie in „Die Zukunft des Schnees“. Wo eben noch Frank saß, der seit dem Tod seiner Frau etwas verrückt ist und auf Pantoffeln durch die Kälte irrte, ehe er vom Dorfpolizisten eingesammelt wurde. „‚Die Wetterfrösche’, sagt er, ,Sie haben’s bewiesen. Die Erde wird ständig wärmer.’ Er blickt auf seine Kleider, als nehme er sie zum ersten Mal wahr. ,Kein Schnee mehr’. sagt er, die Stimme verhalten vor Staunen.“ Wo für manche Aktivisten angesichts der drohenden Katastrophe alles Kleinmenschliche bedeutungslos erscheint, ist das Unglück der einfachen Frau, die den falschen Mann geheiratet hat, für Burnside nicht weniger groß und unfassbar als die Veränderungen in der Erdatmosphäre und ihre Folgen für sämtliche Lebewesen. So gesehen trifft es doch: Hier geht’s um die Liebe. Oder um „So etwas wie Glück“.
Arthur McKechnie ist der Sonderling in einer verrufenen Familie. Die Erzählerin einfache Bankangestellte und damit schon mehr als die meisten im Ort. Beide verbindet „so etwas wie …“ – nur was genau, bleibt in einer quälenden, aber ebenso magischen Schwebe, auch beim Schwimmen im Tümpel „Twenty-Two“ mit seiner seltsamen Tiefenströmung. „Es war mehr als bloße Oberflächenbewegung, ging einem bis ins Mark, eine Macht mit eigener Gestalt.“ Anstatt sich zu fürchten, findet sich die junge Frau darin wieder: „jedenfalls fühlte es sich wie was an, was mir exakt entsprach“. Doch als sie an ihrem Lieblingsplatz Arthur begegnet, verbirgt er sich vor ihr, indem er abtaucht und eine unnatürlich lange Zeit unter Wasser bleibt. Es wird Herbst, und für kaum einen Tag bricht unverfälschte Romantik ein in den Schmutz der Industriegegend, „ein überraschender Schneesturm, eine schöne Anomalie. Und es schneite, wie man es aus Filmen kennt, weiß, perfekt und in großen Flocken“; allzu bald weicht er wieder „Rauch und Roheisen“. Was folgt, ist ein sinnloser, aber auch ganz und gar logischer Gewaltausbruch.
Wobei trotz der stets präsenten physischen Gewalt keine der Geschichten von einer drastischen Pointe lebt, im Gegenteil, ihre literarische Widerständigkeit liegt darin, dass sie genau beobachten, was vor oder nach der Explosion geschieht, in Distanz zu ihr, anstatt Katastrophen zu begaffen. Nur selten wählt Burnside etwas robustere Mittel, wenn er beispielsweise in „Schlampenflusen“ einen effektsicher gekerbten Holzschnitt eines Grobians von Ehemann vor uns hinstellt. Der allerdings von einer blauen (Staub-)maus kontrastiert wird, einem verängstigten Nichts in einer Küchenecke, das Hoffnung weckt, indem es entwischt.
Überhaupt: das Verschwinden. Ob im Nebel der Sandbank wie in der Erzählung „Pfuhlschnepfen“, die mit einer dunstverhangenen Umkehrung der Schlussszene von Truffauts „Sie küssten und sie schlugen ihn“ endet. Statt wie Antoine Doinel zum Auftakt der Nouvelle Vague freiheitssehnsüchtig zum Meer rennt Jamie im letzten Moment zurück ans sichere Land. Oder Verschwinden im Schnee. So imaginiert es Fiona, die Bankangestellte: „Ich würde unsichtbar sein. In diesem unerbittlich rasch fallenden Schnee geschah es bereits; ich verschwand schon, und ich verschwand nicht nur in diesem Weiß, sondern in allem um mich herum.“
Was sie keineswegs als fürchterlich erlebt: „Das war gar nicht so übel, vielleicht hatte ich mir sogar genau das immer gewünscht. Bleiben, wo ich war, und hinter der Tapete verschwinden.“ Wenn es eine Zielgruppe gibt, der man „So etwas wie Glück“ besonders ans Herz legen möchte, dann vielleicht Menschen, die schlimme Ängste kennen. Denn die melodischen Sätze – meistens melancholisch, nie elegisch, oft gewitzt, immer wieder wunderbare Rollenprosa, von Bernhard Robben ohne Verlust an Musikalität ins Deutsche übertragen –, diese Sätze strahlen eine eigenartige Ruhe aus.
Keine, die Unbeugsamkeit oder Fatalismus entspringt, sondern der aus schlichter Aufmerksamkeit gewonnenen Einsicht, dass uns jederzeit Schönheit begegnen kann, auch wenn alles zu Ende geht. In der Auftakterzählung erhält Bill eine endgültige Krebsdiagnose und geht doch ganz normal zur Arbeit, Melasse ausfahren. Auch er fürchtet nicht das Verschwinden, als er auf dem Heimweg in einen „Graupelschauer“ gerät, „der später vielleicht in Schnee übergehen würde, vielleicht auch nicht“. Er schaltet die Scheinwerfer ein. „Als ich den Wald erreichte, unter die Buchen abtauchte, war es, als führe ich in ein kleines Theater; Lichter flackerten durchs Dunkel, der Wald schwarz und still wie eine Kulissenwand. Das hat mir am Wald schon immer gefallen, die Art, wie er mich plötzlich umschließt, fast als sollte eine Geschichte erzählt werden.“
Diese melodischen Sätze
strahlen eine
eigenartige Ruhe aus
Ein friedliches Empfinden der Endlichkeit durchweht Burnsides Prosa: Blick auf die Stadt Inverness.
Foto: C. Jul/Imago
John Burnside: So etwas wie Glück. Geschichten über die Liebe. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Penguin Verlag, München 2022.
256 Seiten, 24 Euro.
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»Auch wenn sie (die Menschen) ihren Gefühlen sprachlos und ohnmächtig ausgeliefert sind, Burnside gibt ihrer Verletzlichkeit Ausdruck und poetische Kraft.« ZDF Das literarische Quartett