Zwei Tage nach dem Fall der Mauer verlässt das Ehepaar Bischoff sein altes Leben – die Wohnung, den Garten, die Arbeit und das Land. Ihr Sohn Carl wiederum flieht nach Berlin. Er lebt auf der Straße, bis er in den Kreis des "klugen Rudels" aufgenommen wird, eine Gruppe junger Leute, die einen Guerillakampf um leer stehende Häuser führt und die Kellerkneipe "Assel" betreibt. Lutz Seilers neues Buch ist sowohl Roadtrip als auch Berlin-Roman der wilden Nachwendezeit, das ganz nebenbei die Geschichte einer Familie erzählt, die der Herbst '89 sprengt und die nun versuchen muss, neu zueinanderzufinden.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.02.2020Berliner
Freiheit
Zwischen Mauerfall und
Wiedervereinigung, als ein Einzelner
noch die Welt verändern
konnte, spielt Lutz Seilers neuer
Roman „Stern 111“
VON THOMAS STEINFELD
Als Carl Bischoff die große Stadt Berlin erreicht, ist es tiefe Nacht. Er stellt sein Auto, einen soliden russischen Nachbau des Fiat 124, in eine stille Straße in der Nähe des Alexanderplatzes und legt sich darin schlafen. In den folgenden Tagen erkundet er die Umgebung. Er erinnert sich an einen Film über Goldsucher in Alaska, er empfängt rätselhafte Radiosignale, er findet eine Höhle, in der vermeintliche Eingeborene hausen. Die Höhlenbewohner geben ihm einen Kriegsnamen: „Shigulimann“, nach dem Fabrikatsnamen des Fahrzeugs, das sie längst am Straßenrand erspäht und als das Lager des einsamen Wanderers erkannt haben. Das Buch „Stern 111“, der neue, zweite Roman Lutz Seilers ist noch nicht weit gekommen, als sich eine Abenteuergeschichte zu entspinnen scheint. Eine Geschichte, in der ein Held, allein, wie alle Helden dieser Art, in die Welt zieht: um etwas zu erleben, das zuvor noch keiner erlebte, um einen Feind zu besiegen, um Ruhm zu erwerben sowie vor allem: damit später von seinen Taten erzählt werden kann.
Der Abenteuerroman ist ein vergangenes Genre. Die Welt mag gegenwärtig gefährlich sein, gefährlicher als seit vielen Jahren. Doch ist diese Gefahr von anderer Art, als das Genre es verlangt. Der Abenteuerroman gehört, streng betrachtet, nicht in eine Welt, in der man Meldescheine ausfüllt, in der kein Landstrich mehr unbekannt ist und in der das Frühstück aus Rührei mit „Mischbrot“ besteht. Doch scheint es in der jüngeren deutschen Geschichte eine Frist zu geben, die Monate zwischen November 1989, der Öffnung der Grenzübergänge nach Westen, und Oktober 1990, in der dem Abenteuer, auf lebenstaugliches Maß geschrumpft, eine Art Reservat gewährt wird. Viele Romane gibt es mittlerweile, die von einer Zeit handeln, in der sich das Leben eines ganzen Staatsvolks so veränderte, wie es ansonsten nur in der Folge von Kriegen geschieht. In dieser Frist, in der eine alte Macht wankte und fiel, während die neue Macht ihre Herrschaft noch nicht antrat, taten sich offenbar Verhältnisse auf, in denen ein Einzelner einer ungeregelten, chaotischen Welt entgegenzutreten und sie nach seinem Willen zu verändern vermochte. Carl Bischoff indessen ist kaum von dieser Art. Das Abenteuer mag seine bunten Fahnen aufziehen, es mag sich auf den Häuserkampf vorbereiten und vorsorglich in festem Schuhwerk auftreten: Der Held dieses Romans wendet ihm den Rücken zu.
Dieser Held, ein junger Mann, gewesener Maurer, Soldat und Student, einer, der sich „verkrochen hatte vor der Welt“, wird zu Beginn der Geschichte nach Hause gerufen, zu seinen Eltern, in einen Wohnblock in der Siedlung Langenberg. Dort verkehren sich zum ersten Mal die Verhältnisse: Denn auf den Weg, nach Westen, machen sich die Alten, während der Sohn zunächst das Erbe der Eltern antritt und in den Schalen einer abgelegten Lebensform zurückbleibt. Und als dann auch er aufbricht, nach Berlin und einer erst einmal nur diffusen Berufung folgend, trägt der unmögliche Abenteuer zwar lange Haare und Lederjacke. Auch ist er allein. Doch dann nimmt die Geschichte eine andere Wendung: Carl Bischoff kommt zu sich, halbwegs, als er Schaufel, Kelle und Loteisen in die Hand gedrückt bekommt: Ein Handwerker hatte sich im Herumtreiber verborgen gehalten, eine verlässliche, umsichtige und mehr oder minder ortsfeste Gestalt, deren Wirken deutliche Spuren hinterlässt. Ein Abenteurer hingegen zieht immer wieder aufs Neue los, in die unbekannten Tiefen des Raums, während hinter ihm die Zweige zusammenschlagen und die Welt bald aussieht, als hätte sie nie Besuch bekommen. Und doch scheint, bis weit über die Mitte des Romans hinaus, das Abenteuer im Rücken des Maurers zu warten.
Als Lutz Seiler, zunächst seiner Gedichte wegen berühmt geworden, im Jahr 2014 „Kruso“ veröffentlichte, sein erstes großes Prosawerk, für das er dann den Deutschen Buchpreis erhielt, war bekannt, dass ihm ein erster, aufgegebener Versuch vorausgegangen war. Der neue Roman ist, nach allen Indizien zur urteilen, eben dieses zunächst gescheiterte, aber dann doch vollendete Werk. Tatsächlich sind die beiden Bücher eng miteinander verbunden, wobei die Geschichte des Romans „Kruso“ der Handlung in „Stern 111“ um ein gutes Jahr vorausgeht. Zwar schließen die Bücher nicht einander an. Doch scheinen die Helden beinahe Geschwister zu sein, wozu sich dann der Autor als dritter Bruder gesellt, auch er „geboren 1963 in Gera/Thüringen“ (wie es über Carl Bischoff heißt). Auch er ist ein gelegentlich wandernder Handwerker, auch er ein Dichter, strebend nach dem gültigen Wort. Man sollte den Autor und den Helden nicht verwechseln. Aber es ist offenbar, dass der Autor seinem Helden oft und gründlich zur Seite stand, zum Beispiel als es darum ging, an einem alten Mercedes die Zylinderkopfdichtung zu wechseln.
Vom Handwerk in ungewissen Zeiten handelt, streng genommen, dieses Buch. „Die Welt erforderte Konzentration – und Geduld. Sie war wacklig, anfällig, von fragwürdiger Beschaffenheit, aber reparabel“, lautet die Überzeugung des Vaters, eines universalen Mechanikers und Fachmanns für Computersprachen, den, in einer anderen ironischen Wendung der Geschichte, ausgerechnet seine handwerklichen Tugenden in die weite Welt tragen, während er selbst fast unveränderlich zu bleiben scheint. Eine „Auftragsarbeit“ tue gut, erfährt Carl, „eine Aufgabe, konkret, mit Anfang und Ende“. Das Handwerk, lernt der Leser mit dem Protagonisten, ist die Voraussetzung von allem. Ohne Handwerk und Heizung ist alles Pfusch. Wenn man etwas versteht, kann man es auch herstellen. Oder reparieren, vorausgesetzt, die Werkzeuge liegen gut in der Hand. Diese Regel gilt, wie sich nach einiger Zeit erweist, auch für die eigentliche Berufung Carls: für das Dichten. Denn das Buch „Stern 111“ ist, wie auch schon „Kruso“, ein Künstlerroman: Er erzählt davon, wie eine durch das Leben irrende Gestalt allmählich ihre Bestimmung erkennt und zu einem Poeten wird, der an einer Werkbank dichtet.
Das „gute Rudel“, in dem Carl Bischoff nach seiner Ankunft in Berlin Aufnahme findet, besteht aus einer Gruppe junger Menschen, die sich selbst als Revolutionäre wahrnehmen und einige Häuser in Prenzlauer Berg besetzt halten: halbe Ruinen, Schuppen, Remisen, „eine Art Dschungel, in den der marode Seitenflügel ragt“. Doch so abenteuerlich Umstände und Gesinnung wirken mögen: Der Übergang vom Outlaw zum Siedler ist fließend, und bald schon ist zu erkennen, dass es sich beim „Rudel“ keineswegs um Gesetzlose handelt, sondern um eine Bande, in der feste Regel gelten.
Und je weiter die Überführung des wilden Ostens in die Verwaltung einer ostdeutschen Stadtguerilla voranschreitet, gebunden an den allmählichen Aufstieg eines alternativen Lokals namens „Assel“ oder an den professionellen Verkauf von Fragmenten der Mauer, desto deutlicher wird auch, dass die ungeordneten Verhältnisse, in denen das Abenteuer zumindest als Möglichkeit noch einmal aufschien, in denen sich Handwerker selbst erfinden, Genossenschaften bilden und als Kolonisatoren in unerschlossenen oder an die Natur zurückgefallenen Gebieten wirken könnten, nur eine Art Insel gewesen sein können: eine Insel in der Zeit wie eine Insel im Raum, ähnlich wie es Hiddensee, eine Insel des zweiten Gesichts, in „Kruso“ darstellte.
Aus der Differenz zwischen den historischen Ereignissen, die nicht nur eine Stadt, sondern die Welt verändern, und der Innenansicht eines im Grunde genommen kleinen Milieus, zieht dieser Roman seine Kraft. Er tut es umso mehr, als die Grenzen, an denen die Insel an den Rest der Welt stößt, kaum zu erkennen sind. Eine Art Meer, ein zwar durchlässiges, aber doch fast nicht zu überwindendes Element scheint das Milieu und die Welt zu trennen, mit der Folge, dass alles, was geschieht, aus Zeit und Raum gefallen zu sein oder ein Jenseits im Diesseits zu bilden scheint. Daher das Archaische oder „Indianische“, das viele Gestalten annehmen, vom „Hirten“ über die Ziege Dodo bis hin zum sowjetischen General, der zum Abschied sagt: „Wir ziehen ab, aber unsere Lieder werden bleiben.“ Daher auch das geheimnisvolle Kommen und Gehen, mit dem sich das Personal durch diesen Roman bewegt, als handle es nur bedingt mit eigenem Verstand und Willen, sondern als werde es gleichsam durch die Geschichte geschoben. Und daher vor allem die Nahsicht auf das Gegenständliche und eine Sprache, die jedem Ding etwas scheinbar Unmittelbares verleiht und alle Eindeutigkeit verweigert: Wer je wissen will, was geborstene Schamottsteine sind oder wie sich ein Matratzenfloß auflöst, wird es in diesem Buch erfahren.
Sterne ziehen über die Insel. Sie tun es nicht nur nachts, und manche von ihnen scheinen so nahe zu sein, dass sie sich beinahe festhalten lassen. Ein solcher Stern ist „Effi“, die große, einzige und letztlich vergebliche Liebe Carl Bischoffs. Ein solcher Stern ist ein „großes, gültiges Gedicht“, auch wenn es schließlich womöglich geschrieben wird. Ein solcher Stern ist das Kofferradio, die erste Anschaffung der Familie Bischoff (das gilt buchstäblich, denn das Gerät heißt „Stern 111“), mit dem sich im fernen Thüringen sogar AFN und Radio Luxemburg empfangen lässt. Und Sterne sind schließlich die Musiker und ihre Lieder, die immer häufiger aufleuchten, je mehr sich der Roman seinem Ende zuneigt: Element of Crime oder The Cure für Carl Bischoff, Bill Haley für den Vater.
Doch zu dieser Zeit gibt es die Insel schon nicht mehr, und der Roman hat sein Ende erreicht und, mehr noch: Er ist sich selbst historisch geworden. „Die wilden Zeiten sind vorbei, nicht wahr“, sagt nun der dichtende Maurer (der nun längst ein nur noch gelegentlich mauernder Dichter ist) zur Ziege. Und das kluge Tier blickt ihn an: „Unschuldig, vertrauensvoll, so als wisse sie noch weniger als ich, wer das gerade gesagt haben könnte.“ Das Tier, versteht der Leser, kennt weder Sehnsucht noch Nostalgie. Dass der Roman, in dieser Hinsicht, die Ansichten der Ziege teilt, ist sein letzter und größter Vorzug.
Lutz Seiler: Stern 111. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 528 Seiten, 24 Euro.
Der junge Held lebte eher
verkrochen vor der Welt –
dann kam er nach Berlin
Vom Handwerk in ungewissen
Zeiten handelt, streng
genommen, dieses Buch
Die Ziege, das kluge Tier,
kennt weder
Sehnsucht noch Nostalgie
Für den Vorgänger-
roman „Kruso“ wurde Lutz Seiler 2014 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.
Foto: Heike Steiweg
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Freiheit
Zwischen Mauerfall und
Wiedervereinigung, als ein Einzelner
noch die Welt verändern
konnte, spielt Lutz Seilers neuer
Roman „Stern 111“
VON THOMAS STEINFELD
Als Carl Bischoff die große Stadt Berlin erreicht, ist es tiefe Nacht. Er stellt sein Auto, einen soliden russischen Nachbau des Fiat 124, in eine stille Straße in der Nähe des Alexanderplatzes und legt sich darin schlafen. In den folgenden Tagen erkundet er die Umgebung. Er erinnert sich an einen Film über Goldsucher in Alaska, er empfängt rätselhafte Radiosignale, er findet eine Höhle, in der vermeintliche Eingeborene hausen. Die Höhlenbewohner geben ihm einen Kriegsnamen: „Shigulimann“, nach dem Fabrikatsnamen des Fahrzeugs, das sie längst am Straßenrand erspäht und als das Lager des einsamen Wanderers erkannt haben. Das Buch „Stern 111“, der neue, zweite Roman Lutz Seilers ist noch nicht weit gekommen, als sich eine Abenteuergeschichte zu entspinnen scheint. Eine Geschichte, in der ein Held, allein, wie alle Helden dieser Art, in die Welt zieht: um etwas zu erleben, das zuvor noch keiner erlebte, um einen Feind zu besiegen, um Ruhm zu erwerben sowie vor allem: damit später von seinen Taten erzählt werden kann.
Der Abenteuerroman ist ein vergangenes Genre. Die Welt mag gegenwärtig gefährlich sein, gefährlicher als seit vielen Jahren. Doch ist diese Gefahr von anderer Art, als das Genre es verlangt. Der Abenteuerroman gehört, streng betrachtet, nicht in eine Welt, in der man Meldescheine ausfüllt, in der kein Landstrich mehr unbekannt ist und in der das Frühstück aus Rührei mit „Mischbrot“ besteht. Doch scheint es in der jüngeren deutschen Geschichte eine Frist zu geben, die Monate zwischen November 1989, der Öffnung der Grenzübergänge nach Westen, und Oktober 1990, in der dem Abenteuer, auf lebenstaugliches Maß geschrumpft, eine Art Reservat gewährt wird. Viele Romane gibt es mittlerweile, die von einer Zeit handeln, in der sich das Leben eines ganzen Staatsvolks so veränderte, wie es ansonsten nur in der Folge von Kriegen geschieht. In dieser Frist, in der eine alte Macht wankte und fiel, während die neue Macht ihre Herrschaft noch nicht antrat, taten sich offenbar Verhältnisse auf, in denen ein Einzelner einer ungeregelten, chaotischen Welt entgegenzutreten und sie nach seinem Willen zu verändern vermochte. Carl Bischoff indessen ist kaum von dieser Art. Das Abenteuer mag seine bunten Fahnen aufziehen, es mag sich auf den Häuserkampf vorbereiten und vorsorglich in festem Schuhwerk auftreten: Der Held dieses Romans wendet ihm den Rücken zu.
Dieser Held, ein junger Mann, gewesener Maurer, Soldat und Student, einer, der sich „verkrochen hatte vor der Welt“, wird zu Beginn der Geschichte nach Hause gerufen, zu seinen Eltern, in einen Wohnblock in der Siedlung Langenberg. Dort verkehren sich zum ersten Mal die Verhältnisse: Denn auf den Weg, nach Westen, machen sich die Alten, während der Sohn zunächst das Erbe der Eltern antritt und in den Schalen einer abgelegten Lebensform zurückbleibt. Und als dann auch er aufbricht, nach Berlin und einer erst einmal nur diffusen Berufung folgend, trägt der unmögliche Abenteuer zwar lange Haare und Lederjacke. Auch ist er allein. Doch dann nimmt die Geschichte eine andere Wendung: Carl Bischoff kommt zu sich, halbwegs, als er Schaufel, Kelle und Loteisen in die Hand gedrückt bekommt: Ein Handwerker hatte sich im Herumtreiber verborgen gehalten, eine verlässliche, umsichtige und mehr oder minder ortsfeste Gestalt, deren Wirken deutliche Spuren hinterlässt. Ein Abenteurer hingegen zieht immer wieder aufs Neue los, in die unbekannten Tiefen des Raums, während hinter ihm die Zweige zusammenschlagen und die Welt bald aussieht, als hätte sie nie Besuch bekommen. Und doch scheint, bis weit über die Mitte des Romans hinaus, das Abenteuer im Rücken des Maurers zu warten.
Als Lutz Seiler, zunächst seiner Gedichte wegen berühmt geworden, im Jahr 2014 „Kruso“ veröffentlichte, sein erstes großes Prosawerk, für das er dann den Deutschen Buchpreis erhielt, war bekannt, dass ihm ein erster, aufgegebener Versuch vorausgegangen war. Der neue Roman ist, nach allen Indizien zur urteilen, eben dieses zunächst gescheiterte, aber dann doch vollendete Werk. Tatsächlich sind die beiden Bücher eng miteinander verbunden, wobei die Geschichte des Romans „Kruso“ der Handlung in „Stern 111“ um ein gutes Jahr vorausgeht. Zwar schließen die Bücher nicht einander an. Doch scheinen die Helden beinahe Geschwister zu sein, wozu sich dann der Autor als dritter Bruder gesellt, auch er „geboren 1963 in Gera/Thüringen“ (wie es über Carl Bischoff heißt). Auch er ist ein gelegentlich wandernder Handwerker, auch er ein Dichter, strebend nach dem gültigen Wort. Man sollte den Autor und den Helden nicht verwechseln. Aber es ist offenbar, dass der Autor seinem Helden oft und gründlich zur Seite stand, zum Beispiel als es darum ging, an einem alten Mercedes die Zylinderkopfdichtung zu wechseln.
Vom Handwerk in ungewissen Zeiten handelt, streng genommen, dieses Buch. „Die Welt erforderte Konzentration – und Geduld. Sie war wacklig, anfällig, von fragwürdiger Beschaffenheit, aber reparabel“, lautet die Überzeugung des Vaters, eines universalen Mechanikers und Fachmanns für Computersprachen, den, in einer anderen ironischen Wendung der Geschichte, ausgerechnet seine handwerklichen Tugenden in die weite Welt tragen, während er selbst fast unveränderlich zu bleiben scheint. Eine „Auftragsarbeit“ tue gut, erfährt Carl, „eine Aufgabe, konkret, mit Anfang und Ende“. Das Handwerk, lernt der Leser mit dem Protagonisten, ist die Voraussetzung von allem. Ohne Handwerk und Heizung ist alles Pfusch. Wenn man etwas versteht, kann man es auch herstellen. Oder reparieren, vorausgesetzt, die Werkzeuge liegen gut in der Hand. Diese Regel gilt, wie sich nach einiger Zeit erweist, auch für die eigentliche Berufung Carls: für das Dichten. Denn das Buch „Stern 111“ ist, wie auch schon „Kruso“, ein Künstlerroman: Er erzählt davon, wie eine durch das Leben irrende Gestalt allmählich ihre Bestimmung erkennt und zu einem Poeten wird, der an einer Werkbank dichtet.
Das „gute Rudel“, in dem Carl Bischoff nach seiner Ankunft in Berlin Aufnahme findet, besteht aus einer Gruppe junger Menschen, die sich selbst als Revolutionäre wahrnehmen und einige Häuser in Prenzlauer Berg besetzt halten: halbe Ruinen, Schuppen, Remisen, „eine Art Dschungel, in den der marode Seitenflügel ragt“. Doch so abenteuerlich Umstände und Gesinnung wirken mögen: Der Übergang vom Outlaw zum Siedler ist fließend, und bald schon ist zu erkennen, dass es sich beim „Rudel“ keineswegs um Gesetzlose handelt, sondern um eine Bande, in der feste Regel gelten.
Und je weiter die Überführung des wilden Ostens in die Verwaltung einer ostdeutschen Stadtguerilla voranschreitet, gebunden an den allmählichen Aufstieg eines alternativen Lokals namens „Assel“ oder an den professionellen Verkauf von Fragmenten der Mauer, desto deutlicher wird auch, dass die ungeordneten Verhältnisse, in denen das Abenteuer zumindest als Möglichkeit noch einmal aufschien, in denen sich Handwerker selbst erfinden, Genossenschaften bilden und als Kolonisatoren in unerschlossenen oder an die Natur zurückgefallenen Gebieten wirken könnten, nur eine Art Insel gewesen sein können: eine Insel in der Zeit wie eine Insel im Raum, ähnlich wie es Hiddensee, eine Insel des zweiten Gesichts, in „Kruso“ darstellte.
Aus der Differenz zwischen den historischen Ereignissen, die nicht nur eine Stadt, sondern die Welt verändern, und der Innenansicht eines im Grunde genommen kleinen Milieus, zieht dieser Roman seine Kraft. Er tut es umso mehr, als die Grenzen, an denen die Insel an den Rest der Welt stößt, kaum zu erkennen sind. Eine Art Meer, ein zwar durchlässiges, aber doch fast nicht zu überwindendes Element scheint das Milieu und die Welt zu trennen, mit der Folge, dass alles, was geschieht, aus Zeit und Raum gefallen zu sein oder ein Jenseits im Diesseits zu bilden scheint. Daher das Archaische oder „Indianische“, das viele Gestalten annehmen, vom „Hirten“ über die Ziege Dodo bis hin zum sowjetischen General, der zum Abschied sagt: „Wir ziehen ab, aber unsere Lieder werden bleiben.“ Daher auch das geheimnisvolle Kommen und Gehen, mit dem sich das Personal durch diesen Roman bewegt, als handle es nur bedingt mit eigenem Verstand und Willen, sondern als werde es gleichsam durch die Geschichte geschoben. Und daher vor allem die Nahsicht auf das Gegenständliche und eine Sprache, die jedem Ding etwas scheinbar Unmittelbares verleiht und alle Eindeutigkeit verweigert: Wer je wissen will, was geborstene Schamottsteine sind oder wie sich ein Matratzenfloß auflöst, wird es in diesem Buch erfahren.
Sterne ziehen über die Insel. Sie tun es nicht nur nachts, und manche von ihnen scheinen so nahe zu sein, dass sie sich beinahe festhalten lassen. Ein solcher Stern ist „Effi“, die große, einzige und letztlich vergebliche Liebe Carl Bischoffs. Ein solcher Stern ist ein „großes, gültiges Gedicht“, auch wenn es schließlich womöglich geschrieben wird. Ein solcher Stern ist das Kofferradio, die erste Anschaffung der Familie Bischoff (das gilt buchstäblich, denn das Gerät heißt „Stern 111“), mit dem sich im fernen Thüringen sogar AFN und Radio Luxemburg empfangen lässt. Und Sterne sind schließlich die Musiker und ihre Lieder, die immer häufiger aufleuchten, je mehr sich der Roman seinem Ende zuneigt: Element of Crime oder The Cure für Carl Bischoff, Bill Haley für den Vater.
Doch zu dieser Zeit gibt es die Insel schon nicht mehr, und der Roman hat sein Ende erreicht und, mehr noch: Er ist sich selbst historisch geworden. „Die wilden Zeiten sind vorbei, nicht wahr“, sagt nun der dichtende Maurer (der nun längst ein nur noch gelegentlich mauernder Dichter ist) zur Ziege. Und das kluge Tier blickt ihn an: „Unschuldig, vertrauensvoll, so als wisse sie noch weniger als ich, wer das gerade gesagt haben könnte.“ Das Tier, versteht der Leser, kennt weder Sehnsucht noch Nostalgie. Dass der Roman, in dieser Hinsicht, die Ansichten der Ziege teilt, ist sein letzter und größter Vorzug.
Lutz Seiler: Stern 111. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 528 Seiten, 24 Euro.
Der junge Held lebte eher
verkrochen vor der Welt –
dann kam er nach Berlin
Vom Handwerk in ungewissen
Zeiten handelt, streng
genommen, dieses Buch
Die Ziege, das kluge Tier,
kennt weder
Sehnsucht noch Nostalgie
Für den Vorgänger-
roman „Kruso“ wurde Lutz Seiler 2014 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.
Foto: Heike Steiweg
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Rezensent Christoph Schröder ist voll überschwänglichem Lob für Lutz Seilers gerade mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichneten Roman "Stern 111". Seiler erzählt ihm von den 16 Monaten nach dem Mauerfall in Berlin als einer Zeit der Möglichkeiten: als alternative Lebensformen immerhin denkbar waren. Persönliche Verwandlungen, das Errichten herrschaftsfreier Räume oder vielleicht eine Stadt, die von einer Stadtguerilla regiert wird? Diese Momente des Übergangs, eines "Prozesses von Machterwerb und Machtverfall" kann Seiler dem Rezensenten wunderbar beschreiben. Dass er dabei nicht nostalgisch wird, rechnet ihm der Rezensent, der den Roman vor allem als antikapitalistischen liest, hoch an.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.03.2020Suche Höhle für poetisches Dasein
Ein Haus besetzen und vor Glück vom Dach springen: Lutz Seilers Roman "Stern 111" erzählt von deutscher Wende-Euphorie um 1989/90 und danach - so intensiv, dass man am liebsten dabei gewesen wäre.
Von Jan Wiele
Der magische Trick an Lutz Seilers Literatur? Sie kann das vermeintlich Banale in etwas ganz Besonderes, sogar Heiliges verwandeln. Eine scheinbar uninteressante Böschung am Bahndamm: "gelobtes Land", wenn ein Gedicht Seilers sie dazu erklärt. Eine Suppe aus Essensresten: eine "ewige Suppe", wenn der charismatische Anführer Kruso sie im gleichnamigen Roman kocht. Und ein Mittelklassewagen aus östlicher Ferne und Vergangenheit, der in unserem maßlosen SUV-Zeitalter wie ein Witz wirken muss: eine Wunderkiste, in die man nach Lektüre von Seilers neuem Roman sofort einsteigen möchte. "Es war ein schönes fließendes Fahren. Der Shiguli rollte praktisch von allein, und Carl konnte träumen. Er mochte das Geräusch der Radialreifen auf Pflasterstraßen, und also suchte er sich Pflasterstraßen - die nachtgraue Schönhauser Allee zum Beispiel, bergauf und bergab, das Summen und Brummen unter den Schädeldecken der Pflastersteine, so lange bis ihm warm war. Dazu das stumpfe Meeresrauschen des Gebläses, der Wind und die Wärme auf den Wangen. Der Shiguli lief wie auf Schienen, die er sich weise vorausschauend selbst auslegte."
Wir sind in Berlin, Dezember 1989. Wer nicht in der DDR aufgewachsen ist, wird das beschriebene Automodell kaum kennen. Seinen poetischen Auftritt hat Seiler indes lange vorbereitet. Bereits in einem 2004 erschienen Essay mit dem Titel "Schwarze Abfahrt Gera-Ost" beschreibt der gebürtige Thüringer die Faszination fernwehgetriebener Ausflüge mit dem Vater "über die Felder an die Autobahn". Dort beim Beobachten dann "der lange utopische Wunsch nach einem eigenen Wagen, der Anfang der siebziger Jahre mit einem WAS 2101, der damals noch Shiguli hieß und später LADA, in Erfüllung ging. Ein solides Auto von der Wolga, kantig und schneeweiß."
Aus der Utopie ist Biographie geworden - und jetzt ein Roman. Darin ist die Sehnsuchts-Erinnerung ausgebaut zum Sonntagspicknick. Nun mit beiden Eltern, aber demselben Wunsch nach einem Shiguli, "die Radkappen verchromt und die Karosse schneeweiß wie die Birken an der Autobahn". Und noch etwas kommt dazu: "Hauptereignis waren die Wagen aus dem Westen", die der Vater am Motorengeräusch unterscheiden kann. Sein Sohn, der damals noch in einer Karre sitzt, hat auf den Knien ein Kofferradio namens "Stern 111", das dem Roman seinen Titel gibt. Noch eine Wunderkiste, die somit auch das Buch zu einer macht.
Der Sohn, gereift zum jungen Mann, heißt Carl und hat manches mit seinem Erfinder gemein. Mit dem Shiguli des Vaters fährt er im Wende-Spätherbst von Gera nach Berlin, um ein neues Leben anzufangen. Er wird in dem Wagen schlafen, ihn als Schwarztaxi benutzen und schließlich damit seine erste Westreise nach Paris antreten. Das Auto wird zum Symbol für Individualität, Selbstbestimmung und Freiheitsstreben. In der Wahrnehmung der Menschen, die Carl trifft, verbindet es sich mit seinem Fahrer, den sie bald "Shigulimann" nennen.
Das ist eines jener Worte mit Wallungswert (Gottfried Benn), wie sie Seilers Texte oft strukturieren. Der Shigulimann ist ein Eigenbrötler, aber in Berlin steht ihm die Erfahrung des Kollektivs bevor - und die Wallungsworte dazu lauten "kluges Rudel". Dieses lose Kollektiv freidenkerischer und künstlerisch veranlagter junger Menschen träumt davon, Hunderte Häuser zu besetzen - pardon, "bewohnbar zu machen", denn um diesen ideologischen Konflikt der Wendezeit dreht sich Seilers Roman maßgeblich. Das östliche Berlin um Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain wird hier zu einer Art Abenteuerspielplatz, und Carl, der als gelernter Maurer gut zu gebrauchen ist, mischt ordentlich mit. Ähnlich wie in "Kruso" die Aussteigergemeinschaft auf Hiddensee hat das kluge Rudel einen Anführer. Dieser heißt "Hoffi, der Hirte". Ein schrathafter Mann, der eine Ziege besitzt sowie die Weisheit, etwa: "Sabotage an den Brutstätten des Kapitals bei gleichzeitiger Umverteilung". Das heißt auf Deutsch: Man raubt Baumaterial und Werkzeug, um es zu verkaufen oder für eigene Projekte zu verwenden. Eines davon ist die "Assel": eine Underground-Kneipe für alle, in der sich bald Hausbesetzer aus Ost und West, Prostituierte und russische Soldaten tummeln. Carl wird dort Kellner - so wie auch Lutz Seiler im richtigen Leben es war.
In dieser Umgebung, einem neuen Sozialismus nach dem Scheitern des DDR-Sozialismus, blüht Carl auf, er lernt Frauen und Männer kennen, alle auf die je eigene Weise verrückt, und er wird, was sein größter Wunsch war, zum Dichter, einem veröffentlichten. Es ist eine Zeit der ausgelebten Kreativität: Einer malt Kunst auf das Papier der Zementsäcke, einer formt sie aus Müll und ein anderer, Carl, aus Worten. Dann trifft dieser seine Jugendliebe wieder, Effi - und für einen Moment verwirklicht sich das Ideal einer Zweierbeziehung, in der beide Künstler sind, beide frei und doch zusammen.
Lutz Seiler gelingt es, die Ost-Berliner Umbruchszeit so faszinierend zu beschreiben, dass man gern dabei gewesen wäre - im vollen Bewusstsein, damit einer gewissen Ostalgie aufzusitzen, die der Roman einerseits zelebriert und andererseits anhand der von Westen kommenden Wende-Touristen auch karikiert. Er setzt der Berliner Szene von damals ein literarisches Denkmal, wie es noch keines gegeben hat - mit vielen Anspielungen auf historische Orte und Personen und unvergesslichen Episoden. An einem Nachmittag besetzt Carl drei Wohnungen in einem Rutsch, um Effi später drei Schlüssel zur Auswahl zu geben; die Ziege beginnt zu fliegen, und zwei Menschen, die es leider nicht können, springen verzweifelt vom Dach. Auch kritische Ironie kennt die Erzählung. So hat Kruso einen Gastauftritt als irrer Militarist, und als es darum geht, auch Stücke der Berliner Mauer zu Geld zu machen - "diskret, schön, geschliffen, der gute Beton gibt das her" -, bestätigt Maurer Carl: "B 500, beste Qualität."
Über diesen Witz wird nicht jeder lachen können. Wahrscheinlich auch nicht Carls Eltern, denen die andere Hälfte dieses Romans gehört. Sie haben den Bau der Mauer miterlebt und das, was folgte. Bereits zwei Tage nach ihrer Öffnung wollen sie auf und davon, und Carl muss sie über die ehemalige Grenze bringen, während er in Gera "die Stellung halten" soll, was ihm absurd erscheint: ",Unsere Eltern sollen es einmal besser haben.' Etwas stimmte nicht mit diesem Satz."
Die Ehepartner, Inge und Walter, werden zunächst ihr Glück allein suchen, um größere Aussicht darauf zu haben. Aber besser als früher geht es ihnen so schnell nicht. Sie sind Flüchtlinge und werden auch so behandelt - ob im zentralen Notaufnahmelager in Gießen oder auf Arbeitssuche zwischen Hamburg und Gelnhausen. Inge schöpft mehrfach Vertrauen, das enttäuscht wird - von Menschen mit Ressentiments oder auch durch die Härten der Marktwirtschaft. Und was Walter erlebt, als ihm nach kurzer Zeit als fahrender Programmier-Experte wieder gekündigt wird, ist ebenfalls unvergesslich. Im Wagen seines Chefs hatte er, aus altem Habitus, auf Dienstreisen Dinge gelagert, die man "vielleicht noch mal irgendwann gebrauchen konnte", darunter ein "gutes Brett", Schrauben, Draht. Als sein Chef die Sachen findet, schießen wilde Verdächtigungen ins Kraut: Der Computerfachmann aus Gera könnte nicht nur ein Spion, sondern gar ein Terrorist sein, der eine "schmutzige Bombe" zu bauen vorhatte.
Dieses Kapitel der deutschen Zeitgeschichte ist bislang noch viel zu wenig literarisiert worden, auch darin liegt ein großes Verdienst Seilers. Der "lange Weg nach Westen" vieler Ostdeutscher nach 1989 führt hier Walter, einen früheren Mitspieler des "Akkordeon- und Mandolinen-Orchesters der SDAG Wismut", zum Stern von Bill Haley nach Hollywood, wo er mit seinem Instrument Rock 'n' Roll spielen und in thüringischem Englisch dazu singen wird. Und dieser Weg zaubert seiner Frau Inge, die als Kind aus Böhmen flüchten musste und in Gera unglücklich war, schließlich ein kalifornisches Lächeln ins Gesicht, während ihr Sohn Nick Caves "Weeping Song" hört. Ein fast surreales Ende, das aber noch nicht den surrealen Gipfel dieses Romans darstellt. Es ist auch einer der Trauerarbeit.
Nicht zuletzt literaturgeschichtlich funkelt "Stern 111": Während die Panoramadarstellung der Berliner Szene mit all ihren schlaglichtartig vorgestellten Figuren und auch die Lebensschau von Carls Eltern an Alfred Döblin erinnert, wandelt die Hauptfigur in der Spur eines anderen Großstadtromans: nämlich Rilkes "Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge", dem das Motto entnommen ist: "Ich bin achtundzwanzig, und es ist so gut wie nichts geschehen." Auch Carl ist zur Erzählzeit etwa in diesem Alter, und die grundstürzende Erschütterung des Malte durch Stadt, Menschen, Tod und Dichtung wird er, in verwandelter Form, nachempfinden. Am Anfang sucht Carl eine "Höhle für ein poetisches Dasein", am Ende weiß er, dass "der Kampf um ein poetisches Dasein nicht poetisch war". Nach berauschender Gewissheit von Gemeinschaft, die dann wieder verschwand, hat er "Vertrauen in die Verlassenheit" geschöpft, die Bedingung des Schreibens und für manche Menschen auch des Lebens ist.
Lutz Seiler ist nun schon zum zweiten Mal etwas sehr Außergewöhnliches gelungen: nämlich in einem im besten Sinne "massentauglichen" Roman davon zu erzählen, wie man das poetische Dasein wirklich führt, eine so euphorische wie grausame Angelegenheit. Und nebenbei hat er, auch wenn er wie die meisten Schriftsteller aus guten Gründen das Etikett nicht mag, einen maßgeblichen, wenn nicht den definitiven Wenderoman geschrieben.
Lutz Seiler: "Stern 111". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 528 S., geb, 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Haus besetzen und vor Glück vom Dach springen: Lutz Seilers Roman "Stern 111" erzählt von deutscher Wende-Euphorie um 1989/90 und danach - so intensiv, dass man am liebsten dabei gewesen wäre.
Von Jan Wiele
Der magische Trick an Lutz Seilers Literatur? Sie kann das vermeintlich Banale in etwas ganz Besonderes, sogar Heiliges verwandeln. Eine scheinbar uninteressante Böschung am Bahndamm: "gelobtes Land", wenn ein Gedicht Seilers sie dazu erklärt. Eine Suppe aus Essensresten: eine "ewige Suppe", wenn der charismatische Anführer Kruso sie im gleichnamigen Roman kocht. Und ein Mittelklassewagen aus östlicher Ferne und Vergangenheit, der in unserem maßlosen SUV-Zeitalter wie ein Witz wirken muss: eine Wunderkiste, in die man nach Lektüre von Seilers neuem Roman sofort einsteigen möchte. "Es war ein schönes fließendes Fahren. Der Shiguli rollte praktisch von allein, und Carl konnte träumen. Er mochte das Geräusch der Radialreifen auf Pflasterstraßen, und also suchte er sich Pflasterstraßen - die nachtgraue Schönhauser Allee zum Beispiel, bergauf und bergab, das Summen und Brummen unter den Schädeldecken der Pflastersteine, so lange bis ihm warm war. Dazu das stumpfe Meeresrauschen des Gebläses, der Wind und die Wärme auf den Wangen. Der Shiguli lief wie auf Schienen, die er sich weise vorausschauend selbst auslegte."
Wir sind in Berlin, Dezember 1989. Wer nicht in der DDR aufgewachsen ist, wird das beschriebene Automodell kaum kennen. Seinen poetischen Auftritt hat Seiler indes lange vorbereitet. Bereits in einem 2004 erschienen Essay mit dem Titel "Schwarze Abfahrt Gera-Ost" beschreibt der gebürtige Thüringer die Faszination fernwehgetriebener Ausflüge mit dem Vater "über die Felder an die Autobahn". Dort beim Beobachten dann "der lange utopische Wunsch nach einem eigenen Wagen, der Anfang der siebziger Jahre mit einem WAS 2101, der damals noch Shiguli hieß und später LADA, in Erfüllung ging. Ein solides Auto von der Wolga, kantig und schneeweiß."
Aus der Utopie ist Biographie geworden - und jetzt ein Roman. Darin ist die Sehnsuchts-Erinnerung ausgebaut zum Sonntagspicknick. Nun mit beiden Eltern, aber demselben Wunsch nach einem Shiguli, "die Radkappen verchromt und die Karosse schneeweiß wie die Birken an der Autobahn". Und noch etwas kommt dazu: "Hauptereignis waren die Wagen aus dem Westen", die der Vater am Motorengeräusch unterscheiden kann. Sein Sohn, der damals noch in einer Karre sitzt, hat auf den Knien ein Kofferradio namens "Stern 111", das dem Roman seinen Titel gibt. Noch eine Wunderkiste, die somit auch das Buch zu einer macht.
Der Sohn, gereift zum jungen Mann, heißt Carl und hat manches mit seinem Erfinder gemein. Mit dem Shiguli des Vaters fährt er im Wende-Spätherbst von Gera nach Berlin, um ein neues Leben anzufangen. Er wird in dem Wagen schlafen, ihn als Schwarztaxi benutzen und schließlich damit seine erste Westreise nach Paris antreten. Das Auto wird zum Symbol für Individualität, Selbstbestimmung und Freiheitsstreben. In der Wahrnehmung der Menschen, die Carl trifft, verbindet es sich mit seinem Fahrer, den sie bald "Shigulimann" nennen.
Das ist eines jener Worte mit Wallungswert (Gottfried Benn), wie sie Seilers Texte oft strukturieren. Der Shigulimann ist ein Eigenbrötler, aber in Berlin steht ihm die Erfahrung des Kollektivs bevor - und die Wallungsworte dazu lauten "kluges Rudel". Dieses lose Kollektiv freidenkerischer und künstlerisch veranlagter junger Menschen träumt davon, Hunderte Häuser zu besetzen - pardon, "bewohnbar zu machen", denn um diesen ideologischen Konflikt der Wendezeit dreht sich Seilers Roman maßgeblich. Das östliche Berlin um Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain wird hier zu einer Art Abenteuerspielplatz, und Carl, der als gelernter Maurer gut zu gebrauchen ist, mischt ordentlich mit. Ähnlich wie in "Kruso" die Aussteigergemeinschaft auf Hiddensee hat das kluge Rudel einen Anführer. Dieser heißt "Hoffi, der Hirte". Ein schrathafter Mann, der eine Ziege besitzt sowie die Weisheit, etwa: "Sabotage an den Brutstätten des Kapitals bei gleichzeitiger Umverteilung". Das heißt auf Deutsch: Man raubt Baumaterial und Werkzeug, um es zu verkaufen oder für eigene Projekte zu verwenden. Eines davon ist die "Assel": eine Underground-Kneipe für alle, in der sich bald Hausbesetzer aus Ost und West, Prostituierte und russische Soldaten tummeln. Carl wird dort Kellner - so wie auch Lutz Seiler im richtigen Leben es war.
In dieser Umgebung, einem neuen Sozialismus nach dem Scheitern des DDR-Sozialismus, blüht Carl auf, er lernt Frauen und Männer kennen, alle auf die je eigene Weise verrückt, und er wird, was sein größter Wunsch war, zum Dichter, einem veröffentlichten. Es ist eine Zeit der ausgelebten Kreativität: Einer malt Kunst auf das Papier der Zementsäcke, einer formt sie aus Müll und ein anderer, Carl, aus Worten. Dann trifft dieser seine Jugendliebe wieder, Effi - und für einen Moment verwirklicht sich das Ideal einer Zweierbeziehung, in der beide Künstler sind, beide frei und doch zusammen.
Lutz Seiler gelingt es, die Ost-Berliner Umbruchszeit so faszinierend zu beschreiben, dass man gern dabei gewesen wäre - im vollen Bewusstsein, damit einer gewissen Ostalgie aufzusitzen, die der Roman einerseits zelebriert und andererseits anhand der von Westen kommenden Wende-Touristen auch karikiert. Er setzt der Berliner Szene von damals ein literarisches Denkmal, wie es noch keines gegeben hat - mit vielen Anspielungen auf historische Orte und Personen und unvergesslichen Episoden. An einem Nachmittag besetzt Carl drei Wohnungen in einem Rutsch, um Effi später drei Schlüssel zur Auswahl zu geben; die Ziege beginnt zu fliegen, und zwei Menschen, die es leider nicht können, springen verzweifelt vom Dach. Auch kritische Ironie kennt die Erzählung. So hat Kruso einen Gastauftritt als irrer Militarist, und als es darum geht, auch Stücke der Berliner Mauer zu Geld zu machen - "diskret, schön, geschliffen, der gute Beton gibt das her" -, bestätigt Maurer Carl: "B 500, beste Qualität."
Über diesen Witz wird nicht jeder lachen können. Wahrscheinlich auch nicht Carls Eltern, denen die andere Hälfte dieses Romans gehört. Sie haben den Bau der Mauer miterlebt und das, was folgte. Bereits zwei Tage nach ihrer Öffnung wollen sie auf und davon, und Carl muss sie über die ehemalige Grenze bringen, während er in Gera "die Stellung halten" soll, was ihm absurd erscheint: ",Unsere Eltern sollen es einmal besser haben.' Etwas stimmte nicht mit diesem Satz."
Die Ehepartner, Inge und Walter, werden zunächst ihr Glück allein suchen, um größere Aussicht darauf zu haben. Aber besser als früher geht es ihnen so schnell nicht. Sie sind Flüchtlinge und werden auch so behandelt - ob im zentralen Notaufnahmelager in Gießen oder auf Arbeitssuche zwischen Hamburg und Gelnhausen. Inge schöpft mehrfach Vertrauen, das enttäuscht wird - von Menschen mit Ressentiments oder auch durch die Härten der Marktwirtschaft. Und was Walter erlebt, als ihm nach kurzer Zeit als fahrender Programmier-Experte wieder gekündigt wird, ist ebenfalls unvergesslich. Im Wagen seines Chefs hatte er, aus altem Habitus, auf Dienstreisen Dinge gelagert, die man "vielleicht noch mal irgendwann gebrauchen konnte", darunter ein "gutes Brett", Schrauben, Draht. Als sein Chef die Sachen findet, schießen wilde Verdächtigungen ins Kraut: Der Computerfachmann aus Gera könnte nicht nur ein Spion, sondern gar ein Terrorist sein, der eine "schmutzige Bombe" zu bauen vorhatte.
Dieses Kapitel der deutschen Zeitgeschichte ist bislang noch viel zu wenig literarisiert worden, auch darin liegt ein großes Verdienst Seilers. Der "lange Weg nach Westen" vieler Ostdeutscher nach 1989 führt hier Walter, einen früheren Mitspieler des "Akkordeon- und Mandolinen-Orchesters der SDAG Wismut", zum Stern von Bill Haley nach Hollywood, wo er mit seinem Instrument Rock 'n' Roll spielen und in thüringischem Englisch dazu singen wird. Und dieser Weg zaubert seiner Frau Inge, die als Kind aus Böhmen flüchten musste und in Gera unglücklich war, schließlich ein kalifornisches Lächeln ins Gesicht, während ihr Sohn Nick Caves "Weeping Song" hört. Ein fast surreales Ende, das aber noch nicht den surrealen Gipfel dieses Romans darstellt. Es ist auch einer der Trauerarbeit.
Nicht zuletzt literaturgeschichtlich funkelt "Stern 111": Während die Panoramadarstellung der Berliner Szene mit all ihren schlaglichtartig vorgestellten Figuren und auch die Lebensschau von Carls Eltern an Alfred Döblin erinnert, wandelt die Hauptfigur in der Spur eines anderen Großstadtromans: nämlich Rilkes "Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge", dem das Motto entnommen ist: "Ich bin achtundzwanzig, und es ist so gut wie nichts geschehen." Auch Carl ist zur Erzählzeit etwa in diesem Alter, und die grundstürzende Erschütterung des Malte durch Stadt, Menschen, Tod und Dichtung wird er, in verwandelter Form, nachempfinden. Am Anfang sucht Carl eine "Höhle für ein poetisches Dasein", am Ende weiß er, dass "der Kampf um ein poetisches Dasein nicht poetisch war". Nach berauschender Gewissheit von Gemeinschaft, die dann wieder verschwand, hat er "Vertrauen in die Verlassenheit" geschöpft, die Bedingung des Schreibens und für manche Menschen auch des Lebens ist.
Lutz Seiler ist nun schon zum zweiten Mal etwas sehr Außergewöhnliches gelungen: nämlich in einem im besten Sinne "massentauglichen" Roman davon zu erzählen, wie man das poetische Dasein wirklich führt, eine so euphorische wie grausame Angelegenheit. Und nebenbei hat er, auch wenn er wie die meisten Schriftsteller aus guten Gründen das Etikett nicht mag, einen maßgeblichen, wenn nicht den definitiven Wenderoman geschrieben.
Lutz Seiler: "Stern 111". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 528 S., geb, 24,- [Euro].
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»Lutz Seiler ist zu den großen deutschsprachigen Literaten der Gegenwart zu zählen.« WDR 5 »Mit seinem Debütroman 'Kruso' schrieb Seiler sich direkt an die Spitze der zeitgenössischen Literatur.« der Freitag