George Saunders, der "König der Kurzgeschichte" (NZZ), erzählt einfühlsam und virtuos von den Gefängnissen, in denen wir stecken - den realen wie den eingebildeten. George Saunders erzählt mir großer Klarsicht von einer zutiefst verunsicherten Gesellschaft: Da ist der Großvater, der in einer nicht allzu fernen dystopischen Zukunft einen Brief mit einer zärtlichen Warnung an seinen Enkel schreibt. Oder die Mutter, die ein Unrecht an ihrem Sohn sühnen möchte, dabei jedoch nur noch größeres Unrecht verursacht. Oder der Obdachlose, der sich zu einer Gehirnwäsche bereiterklärt und doch eingeholt wird von seinem früheren Leben. Oder der unterirdische Vergnügungspark, in dem Hölle gespielt wird und der alles auf die Probe stellt, was wir für die Wirklichkeit halten... "Tag der Befreiung" versammelt so virtuose wie einfühlsame Erzählungen über die Gefängnisse, in denen wir stecken, die ganz realen und die eingebildeten. Sie handeln von Macht und Moral, Liebe und Verlust, von der Sehnsucht nach menschlicher Verbindung und dem Versuch, sich von allem zu befreien. Und davon, dass die Befreiung manchmal die noch größere Katastrophe ist.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
"Kein Erbarmen" kennt George Saunders in seinen hier versammelten Short Stories, so Rezensent Rainer Moritz, der Saunder als einen der Großen auf diesem Gebiet ansieht. Im neuen Band versammelt er verschiedene Geschichten, die das "Verderben" als gemeinsames Thema haben. Es geht um eine dystopische Version der USA als Faschistenstaat, um Unterwerfung und Elend, immer wieder geht es um Außenseiter, so der Rezensent. Die werden allerdings nicht unbedingt zu sympathischen Identifikationsfiguren, wie die Erzählung "Muttertag" beweist, in der sich Frauen gegenseitig das Leben schwer machen. "Mit einer Art Ekelfaszination" liest Moritz manche der Geschichten, die ihn nicht mehr loslassen, weil Saunders das Grauen so kunstvoll spinnt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.04.2024Neues vom Magier
Die virtuosen, vielschichtigen Storys von George Saunders
sind einzigartig in der heutigen Literatur.
Aber es gibt einen schlimmen Verdacht: Sind sie womöglich zu perfekt?
VON GUSTAV SEIBT
Von Nicholson Baker, dem Doctor subtilitatis der amerikanischen Literatur, stammt die Idee, es einmal mit einer Literaturkritik zu versuchen, die völlig ohne Notizen und wörtliche Zitate auskommt und sich ausschließlich auf das bezieht, was das zu besprechende Werk unwillkürlich im Gedächtnis des Kritikers hinterlassen hat: Eindrücke, Formulierungsfetzen, eine Stimmung. Zitieren also nur aus dem Kopf, in vager Annäherung. Dieses hier aus dem Gedächtnis referierte Experiment setzte Baker in dem tief lustigen Buch „U&I“ um, einer kritischen Erinnerung an jahrelange Lektüren von Bakers ambivalent geliebtem Vorbild John Updike.
Bei George Saunders, dem ausgefuchstesten Handwerker und Feinschrauber der amerikanischen Literatur, erscheint so ein Vorgehen völlig deplatziert. Denn bei Saunders gibt es kein Detail ohne Funktion, er verweigert jede Form von Stimmungsmalerei und Seelenfett, seine Geschichten – die Short Story ist trotz des gefeierten Romans „Lincoln im Bardo“ sein eigentliches Feld – sind abgespeckt bis aufs Skelett. Wollte man sie kritisch zitierend zusammenfassen, würde man mit der Notwendigkeit konfrontiert, Landkarten im Maßstab 1:1 zu liefern, Metatexte, die nicht weniger lang sind als ihr Gegenstand, Kommentare also, nicht Rezensionen.
Oder Darstellungen, die noch länger sind als die Urtexte. So hat Saunders, der auch Professor für Creative Writing ist, es selbst vorgeführt, in einem wundervollen Band, den er sieben, überwiegend kurzen russischen Erzählungen gewidmet hat, und der auf Deutsch 540 Seiten lang ist, wovon die behandelten Texte nur 160 Seiten einnehmen. „Bei Regen in einem Teich schwimmen“ war der Titel des 2022 von Frank Heibert, Saunders’ meisterlicher deutscher Stimme, übersetzten Bandes.
Hiervon sei die Reihe „Lesen, Schreiben, Leben“ registriert, deren drittes Glied ein wenig überraschend kommt bei einem Ausleger, dem es um Erzählperspektiven, Informationsverteilung, bedeutungsvolle Lücken, ums Abwägen von Eindrücken und falschen Fährten geht. Aber, ja: Zugleich geht es darum, wie solche Geschichten ihre Leser steuern, beeinflussen, verändern, beglücken, jedenfalls dann, wenn sie die hochauflösende Aufmerksamkeit entwickeln, die Saunders ihnen zumutet und antrainiert. Es geht ihm um ein Ethos der klischeefreien Offenheit für Texte, die nie obenhin gelesen werden sollen. Dann entfalten sie sich im Geist der Leserin wie Papierblumen in einem Wasserglas – eine Aufmerksamkeit, die womöglich aufs Leben und Mitmenschlichkeit ausstrahlt.
Saunders’ eigene Kunst macht von den ersten Sätzen jeder seiner Geschichten an klar, dass es ohne diese hochgespannte Konzentriertheit nicht geht. Allmähliche Immersion nicht möglich. Man muss, so fühlt man sofort, höllisch aufpassen, nur worauf? Wo befinden wir uns? Alles ist wichtig, ahnt man, nur in welcher Hinsicht, in welcher Verknüpfung?
Bei Saunders kann man auf engem Raum die bestürzende Erfahrung machen, über viele Seiten und ganze halbe Stunden im Dunkeln zu tappen – hier an eine Wand zu stoßen, dort einen fernen Lichtschimmer zu bemerken, unversehens zu stolpern, noch mal umzukehren – zurückzublättern –, um dem Experiment eine zweite Chance zu geben. Immanuel Kants Abhandlung „Sich im Denken orientieren“ wäre eine Art Leitfaden dafür. Außer dass nicht einmal der Richtungssinn, die Rechts-links-Unterscheidung, von der Kant ausgeht, hier gilt.
Diese methodische, schmerzhaft verlockende Verstörung, die Saunders seinem Publikum zumutet, hat etwas mit seinen Sujets zu tun, die sich nun doch summarisch benennen lassen. Oft sind es Dystopien, Zukunftsbilder, Parallelwelten, Unterwelten. Und es hat mit Erzählperspektiven im klassischen Sinn („Wer erzählt?“) zu tun. In drei seiner neuen Storys erzählen Menschen mit Gedächtnisverlust, durch Gehirnwäsche ausgelöschten Identitäten, die als lebend-pulsierende Akteure eingesetzt werden.
Einmal dienen sie in Reenactments, Nachstellungen aus der amerikanischen Geschichte, ein anderes Mal in einem unterirdischen Freizeitpark, dessen vollständige Sinnlosigkeit sich Schritt für Schritt herausstellt: Denn nie werden Besucher in diese Nachtwelt kommen, für die diese Weggesperrten Tag für Tag trainieren müssen. Im dritten Fall werden arme Obdachlose als lebende Sockenpuppen für politische Zwecke missbraucht.
Diese Dystopien zeigen eine Verbindung des Höllischen mit dem Albernen, in vager Annäherung: von Orwell (Totalitarismus) und David Foster Wallace („Unendlicher Spaß“), die bei Saunders mutmaßlich zeitdiagnostisch gemeint ist, als Bild eines Amerika, das unmittelbar vor der Tür steht. Eine solche Nahzukunft ruft schon die allererste, vergleichsweise einfache Geschichte hervor, welche die in eine Überwachungs- und Polizeidiktatur abgeglittenen Vereinigten Staaten nach einem verheerenden Wahlsieg darstellt (der Name Trump fällt nicht, ist aber offenkundig gemeint). Sie besteht aus einem Brief auf Papier voller rätselhafter Kürzel, in dem ein Vater seinem von möglichen Polizeisanktionen bedrohten Sohn verzweifelte Ratschläge gibt: „Falls es zum Äußersten kommt.“
Auf Papier entsteht das Schreiben, weil E-Mails und Telefon längst zu unsichere Kanäle geworden sind, umfassend überwacht nämlich. Nahe, verstörende Zukunft mischt sich mit archaischer Kommunikationstechnik, wie das Bakelit-Telefon im Film „Matrix“. Und dahinter wabert ein schrecklicher Schmerz: Wie leichtfertig und dumm-blind der überkommene Zustand von Freiheit und Rechtsstaat aufgegeben wurde.
Diese Geschichte ist kein Bericht, keine Narration, die führt Terror als Realität vor. Beim zweiten Lesen – alles von Saunders lohnt mehrfache Lektüren – zeigt sich die unfassbare Ökonomie selbst so einer vergleichsweise schlichten Story. Sie kriecht bei aller Funktionalität ins Angstgedächtnis, denn Saunders ist auch ein Nervenkünstler, der die Triggerpunkte der Leser punktgenau ansteuert.
Saunders ist berühmt für seine Perspektivwechsel, und natürlich erprobt er sie auch hier, beispielsweise in einer Bürointrige, die nur Verlierer hinterlässt, eine Studie in allseitiger Niedertracht. Oder er dreht eine Sicht mit schöner Gründlichkeit um: Eine von allen (einschließlich des Lesers, der Leserin) ob ihrer Banalität gering geschätzte Frau wird durch ein schlichtes Eheglück zu einem wundervoll einfachen, völlig unbanalen Exempel für gelingendes Leben. Eine Kippfigur als Probe auf unser aller Bereitschaft zum Verachten. Saunders, ein moralischer Autor.
Da Saunders so oft Innensichten bietet, von Menschen, die über wenig Vokabular oder sonstiges kulturelles Kapital verfügen, verweigert er konsequent „schönes“ Schreiben. Sein Stil arbeitet nicht einmal mit der unwillkürlichen Naturschönheit menschlicher Sprachen, wie sie etwa Salinger in seinem „Fänger im Roggen“ durchaus prunkend vorgeführt hat. Saunders übt sich in Arte povera, einer Art Lumpenkunst, deren Poesie in herzzerreißender Ausdrucksnot besteht.
Das ganz Künstliche der Erzählform vereint sich mit dem Naturalistischen, O-Tonhaften eines Sprechens, das von Kunst noch nie etwas gehört hat. Dieser fettfreie Naturalismus ist neben sonderbar dystopischen Neologismen die Hauptherausforderung für den deutschen Übersetzer, die Frank Heibert auch hier wundervoll bewältigt hat.
Es ist anstrengend, diesen Band zu lesen, manchmal verflucht man die Langwierigkeit, die es braucht, um sich in den immer neuen Dunkelkammern zurechtzufinden. Auch darf man sich fragen, ob die Storys nicht zuweilen allzu ausgeklügelt sind, schon geschrieben für jene Seminare, in denen sie in Laubsägemodellen nachgebaut werden. Was ja nur heißt: Diese Geschichten sind jetzt schon klassisch. Sie werden schon morgen, übermorgen dazu beitragen, sich in dem Amerika zurechtzufinden, das derzeit ebenso im Dunkeln tappt wie die Leser dieser Storys.
Man muss, so fühlt man
sofort, höllisch aufpassen,
nur worauf?
Saunders schreibt
auch eine Studie über
allseitige Niedertracht
Seine Spezialität sind Dystopien: In einer der neuen Erzählungen von George Saunders sind die USA in eine Polizeidiktatur abgeglitten.
Foto: A. Brandon / dpa
George Saunders:
Tag der Befreiung.
Erzählungen. Luchterhand, München 2024.
320 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die virtuosen, vielschichtigen Storys von George Saunders
sind einzigartig in der heutigen Literatur.
Aber es gibt einen schlimmen Verdacht: Sind sie womöglich zu perfekt?
VON GUSTAV SEIBT
Von Nicholson Baker, dem Doctor subtilitatis der amerikanischen Literatur, stammt die Idee, es einmal mit einer Literaturkritik zu versuchen, die völlig ohne Notizen und wörtliche Zitate auskommt und sich ausschließlich auf das bezieht, was das zu besprechende Werk unwillkürlich im Gedächtnis des Kritikers hinterlassen hat: Eindrücke, Formulierungsfetzen, eine Stimmung. Zitieren also nur aus dem Kopf, in vager Annäherung. Dieses hier aus dem Gedächtnis referierte Experiment setzte Baker in dem tief lustigen Buch „U&I“ um, einer kritischen Erinnerung an jahrelange Lektüren von Bakers ambivalent geliebtem Vorbild John Updike.
Bei George Saunders, dem ausgefuchstesten Handwerker und Feinschrauber der amerikanischen Literatur, erscheint so ein Vorgehen völlig deplatziert. Denn bei Saunders gibt es kein Detail ohne Funktion, er verweigert jede Form von Stimmungsmalerei und Seelenfett, seine Geschichten – die Short Story ist trotz des gefeierten Romans „Lincoln im Bardo“ sein eigentliches Feld – sind abgespeckt bis aufs Skelett. Wollte man sie kritisch zitierend zusammenfassen, würde man mit der Notwendigkeit konfrontiert, Landkarten im Maßstab 1:1 zu liefern, Metatexte, die nicht weniger lang sind als ihr Gegenstand, Kommentare also, nicht Rezensionen.
Oder Darstellungen, die noch länger sind als die Urtexte. So hat Saunders, der auch Professor für Creative Writing ist, es selbst vorgeführt, in einem wundervollen Band, den er sieben, überwiegend kurzen russischen Erzählungen gewidmet hat, und der auf Deutsch 540 Seiten lang ist, wovon die behandelten Texte nur 160 Seiten einnehmen. „Bei Regen in einem Teich schwimmen“ war der Titel des 2022 von Frank Heibert, Saunders’ meisterlicher deutscher Stimme, übersetzten Bandes.
Hiervon sei die Reihe „Lesen, Schreiben, Leben“ registriert, deren drittes Glied ein wenig überraschend kommt bei einem Ausleger, dem es um Erzählperspektiven, Informationsverteilung, bedeutungsvolle Lücken, ums Abwägen von Eindrücken und falschen Fährten geht. Aber, ja: Zugleich geht es darum, wie solche Geschichten ihre Leser steuern, beeinflussen, verändern, beglücken, jedenfalls dann, wenn sie die hochauflösende Aufmerksamkeit entwickeln, die Saunders ihnen zumutet und antrainiert. Es geht ihm um ein Ethos der klischeefreien Offenheit für Texte, die nie obenhin gelesen werden sollen. Dann entfalten sie sich im Geist der Leserin wie Papierblumen in einem Wasserglas – eine Aufmerksamkeit, die womöglich aufs Leben und Mitmenschlichkeit ausstrahlt.
Saunders’ eigene Kunst macht von den ersten Sätzen jeder seiner Geschichten an klar, dass es ohne diese hochgespannte Konzentriertheit nicht geht. Allmähliche Immersion nicht möglich. Man muss, so fühlt man sofort, höllisch aufpassen, nur worauf? Wo befinden wir uns? Alles ist wichtig, ahnt man, nur in welcher Hinsicht, in welcher Verknüpfung?
Bei Saunders kann man auf engem Raum die bestürzende Erfahrung machen, über viele Seiten und ganze halbe Stunden im Dunkeln zu tappen – hier an eine Wand zu stoßen, dort einen fernen Lichtschimmer zu bemerken, unversehens zu stolpern, noch mal umzukehren – zurückzublättern –, um dem Experiment eine zweite Chance zu geben. Immanuel Kants Abhandlung „Sich im Denken orientieren“ wäre eine Art Leitfaden dafür. Außer dass nicht einmal der Richtungssinn, die Rechts-links-Unterscheidung, von der Kant ausgeht, hier gilt.
Diese methodische, schmerzhaft verlockende Verstörung, die Saunders seinem Publikum zumutet, hat etwas mit seinen Sujets zu tun, die sich nun doch summarisch benennen lassen. Oft sind es Dystopien, Zukunftsbilder, Parallelwelten, Unterwelten. Und es hat mit Erzählperspektiven im klassischen Sinn („Wer erzählt?“) zu tun. In drei seiner neuen Storys erzählen Menschen mit Gedächtnisverlust, durch Gehirnwäsche ausgelöschten Identitäten, die als lebend-pulsierende Akteure eingesetzt werden.
Einmal dienen sie in Reenactments, Nachstellungen aus der amerikanischen Geschichte, ein anderes Mal in einem unterirdischen Freizeitpark, dessen vollständige Sinnlosigkeit sich Schritt für Schritt herausstellt: Denn nie werden Besucher in diese Nachtwelt kommen, für die diese Weggesperrten Tag für Tag trainieren müssen. Im dritten Fall werden arme Obdachlose als lebende Sockenpuppen für politische Zwecke missbraucht.
Diese Dystopien zeigen eine Verbindung des Höllischen mit dem Albernen, in vager Annäherung: von Orwell (Totalitarismus) und David Foster Wallace („Unendlicher Spaß“), die bei Saunders mutmaßlich zeitdiagnostisch gemeint ist, als Bild eines Amerika, das unmittelbar vor der Tür steht. Eine solche Nahzukunft ruft schon die allererste, vergleichsweise einfache Geschichte hervor, welche die in eine Überwachungs- und Polizeidiktatur abgeglittenen Vereinigten Staaten nach einem verheerenden Wahlsieg darstellt (der Name Trump fällt nicht, ist aber offenkundig gemeint). Sie besteht aus einem Brief auf Papier voller rätselhafter Kürzel, in dem ein Vater seinem von möglichen Polizeisanktionen bedrohten Sohn verzweifelte Ratschläge gibt: „Falls es zum Äußersten kommt.“
Auf Papier entsteht das Schreiben, weil E-Mails und Telefon längst zu unsichere Kanäle geworden sind, umfassend überwacht nämlich. Nahe, verstörende Zukunft mischt sich mit archaischer Kommunikationstechnik, wie das Bakelit-Telefon im Film „Matrix“. Und dahinter wabert ein schrecklicher Schmerz: Wie leichtfertig und dumm-blind der überkommene Zustand von Freiheit und Rechtsstaat aufgegeben wurde.
Diese Geschichte ist kein Bericht, keine Narration, die führt Terror als Realität vor. Beim zweiten Lesen – alles von Saunders lohnt mehrfache Lektüren – zeigt sich die unfassbare Ökonomie selbst so einer vergleichsweise schlichten Story. Sie kriecht bei aller Funktionalität ins Angstgedächtnis, denn Saunders ist auch ein Nervenkünstler, der die Triggerpunkte der Leser punktgenau ansteuert.
Saunders ist berühmt für seine Perspektivwechsel, und natürlich erprobt er sie auch hier, beispielsweise in einer Bürointrige, die nur Verlierer hinterlässt, eine Studie in allseitiger Niedertracht. Oder er dreht eine Sicht mit schöner Gründlichkeit um: Eine von allen (einschließlich des Lesers, der Leserin) ob ihrer Banalität gering geschätzte Frau wird durch ein schlichtes Eheglück zu einem wundervoll einfachen, völlig unbanalen Exempel für gelingendes Leben. Eine Kippfigur als Probe auf unser aller Bereitschaft zum Verachten. Saunders, ein moralischer Autor.
Da Saunders so oft Innensichten bietet, von Menschen, die über wenig Vokabular oder sonstiges kulturelles Kapital verfügen, verweigert er konsequent „schönes“ Schreiben. Sein Stil arbeitet nicht einmal mit der unwillkürlichen Naturschönheit menschlicher Sprachen, wie sie etwa Salinger in seinem „Fänger im Roggen“ durchaus prunkend vorgeführt hat. Saunders übt sich in Arte povera, einer Art Lumpenkunst, deren Poesie in herzzerreißender Ausdrucksnot besteht.
Das ganz Künstliche der Erzählform vereint sich mit dem Naturalistischen, O-Tonhaften eines Sprechens, das von Kunst noch nie etwas gehört hat. Dieser fettfreie Naturalismus ist neben sonderbar dystopischen Neologismen die Hauptherausforderung für den deutschen Übersetzer, die Frank Heibert auch hier wundervoll bewältigt hat.
Es ist anstrengend, diesen Band zu lesen, manchmal verflucht man die Langwierigkeit, die es braucht, um sich in den immer neuen Dunkelkammern zurechtzufinden. Auch darf man sich fragen, ob die Storys nicht zuweilen allzu ausgeklügelt sind, schon geschrieben für jene Seminare, in denen sie in Laubsägemodellen nachgebaut werden. Was ja nur heißt: Diese Geschichten sind jetzt schon klassisch. Sie werden schon morgen, übermorgen dazu beitragen, sich in dem Amerika zurechtzufinden, das derzeit ebenso im Dunkeln tappt wie die Leser dieser Storys.
Man muss, so fühlt man
sofort, höllisch aufpassen,
nur worauf?
Saunders schreibt
auch eine Studie über
allseitige Niedertracht
Seine Spezialität sind Dystopien: In einer der neuen Erzählungen von George Saunders sind die USA in eine Polizeidiktatur abgeglitten.
Foto: A. Brandon / dpa
George Saunders:
Tag der Befreiung.
Erzählungen. Luchterhand, München 2024.
320 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.05.2024Ciao, verkrampfter Optimismus!
In seinem Erzählungsband "Tag der Befreiung" durchdringt George Saunders die komplexen Konflikte der amerikanischen Gegenwart und Seele.
Am 5. November 2024 wird in den Vereinigten Staaten ein neuer Präsident gewählt. Mit der erneuten Kandidatur Donald Trumps sind auch die Ängste vor einem Rechtsruck oder gar vor einem Ende der amerikanischen Demokratie zurück. George Saunders hat für diese Situation schon vor zwei Jahren das passende Buch geschrieben, jetzt erscheint es auf Deutsch: "Tag der Befreiung".
In der "Late Show" von Stephen Colbert hatte er 2022 über die Stimmung gesprochen, aus der heraus die neun Erzählungen dieses Buchs entstanden waren: "Vor der Wahl 2020 fühlte ich mich einfach aufgewühlt und sauer. Und vor allem war mein Gefühl: Werden wir es wirklich ruinieren, dieses schöne Land, das wir auf einem gemeinsamen Konsens aufgebaut haben? Werden wir wirklich zulassen, dass etwas so Dummes und Lächerliches - jemand so Dummes und Lächerliches! - es zerstört?"
In "Tag der Befreiung" ist von realen politischen Ereignissen oder Positionen nur wenig zu lesen. Die meisten Geschichten handeln von Durchschnittsbürgern und ihren Werten, Überzeugungen und Lebenswelten. Was sich jedoch hinter betont beiläufigen Titeln wie "Eine Sache auf der Arbeit", "Muttertag" oder "Liebesbrief" verbirgt, ist ein Mix dessen, was Menschen sich ganz alltäglich an mehr oder weniger subtilen Grausamkeiten antun: bösartige Intrigen im Büro, die gehässigen Gedanken einer alt gewordenen Mutter beim Spaziergang mit ihrer Tochter, die Rache eines Vaters an einem Unschuldigen. All die menschlichen Abgründe, die genug Stoff für einige Shakespeare'sche Dramen böten, findet Saunders in der Normalität des amerikanischen Alltags wieder.
In "Die Mom der kühnen Tat" etwa steigert sich die sonst liebenswerte Mutter eines Jungen, die in ihrer Freizeit putzige Geschichten über belebte Gegenstände schreibt und nett zu jedem ist, in eine Art moralische Raserei, als ihr Sohn von einem Obdachlosen in ein Gebüsch gestoßen wird und sich dabei verletzt. Da es zwei Verdächtige gibt und der Junge den Täter nicht zweifelsfrei identifizieren kann, kommt der Schuldige straffrei davon.
In einem inneren Monolog erleben wir, wie die Mutter sich in immer konkreteren Gewalt- und Rachephantasien ergeht, die schließlich in einem Essay mit dem Titel "Gerechtigkeit" gipfeln, der wiederum den Vater des Jungen dazu animiert, einen - wie sich später herausstellt, unschuldigen - Mann zusammenzuschlagen: "Ciao, Dosenöffner mit großen Träumen; ciao, sprechende Bäume; ciao, Henry der Pflichtbewusste Eiswagen-Reifen, dieser Schrotttext, an dem sie die längste Zeit des letzten Jahres gearbeitet hatte; ciao, verkrampfter Optimismus; ciao, politische Korrektheit. Das hier war der heiße Scheiß. Wow. Sie wusste genau, was sie sagen wollte. Es war, als wollte sie einen Bach überque-ren, und unter ihren Füßen tauchte ein Stein nach dem anderen auf. Es war, als würde sie endlich laut sprechen. Aber auf dem Papier. Es war das Ehrlichste und Authentischste, was sie je geschrieben hatte. Es klang nicht nach ihr, aber es war sie, in echt."
Was Saunders' neun Erzählungen verbindet, ist ein scharfer Blick für die moralischen Abgründe in unseren gut gemeinten Überzeugungen, Werten und Handlungen. Wenn die Figuren sich, ihre Familie oder ihre Gemeinschaft bedroht sehen, schlägt ihr moralischer Universalismus in Tribalismus und Hass um. Das behandelt Saunders in verschiedenen Settings, Stilen und Perspektiven: Einige Geschichten scheinen in der amerikanischen Gegenwart zu spielen, andere bewegen sich durch eine autoritäre Zukunft. Teils werden sie von Figuren erzählt, die durch ein nicht näher beschriebenes Verfahren ihr Gedächtnis verloren haben, weil sie als "unwürdige Personen" aus der Gemeinschaft ausgestoßen wurden. "Ghul" malt ein dystopisches Szenario aus, in dem Menschen in einer Art gigantischem Gruselkabinett ohne Zuschauer leben. Bei kleinsten Vergehen (worunter auch schon die Frage fällt, ob wohl jemals Publikum kommen wird, um die Performances zu sehen) droht ihnen die größtmögliche Strafe: Die Anwesenden bilden einen Kreis, und der oder die Beschuldigte wird an Ort und Stelle von den Umstehenden totgetreten. Wer andere nicht denunziert, macht sich damit selbst schuldig. Als eine der Figuren durch einen Brief erfährt, dass nie jemand auftauchen wird, gerät für ihn alles ins Rutschen: "Süßer, da kommt keiner. Um zu schauen, wie gut wir das alles gemacht haben/machen. Hier gibt's nur uns. Bis in alle Ewigkeit."
Saunders zeichnet mit seinen Geschichten eine erbärmliche Conditio humana, zeigt den Menschen als opportunistisches, verletzliches Wesen - und tut all das nicht mit abgeklärter Misanthropie, sondern erstaunlichem Einfühlungsvermögen für seine Figuren. Obwohl man sie innerlich allesamt verurteilen möchte, empfindet man widerwillig auch Verständnis für sie. Und so bricht auch in den Erzählungen selbst die Logik von Vergeltung und Revanchismus bisweilen kurz auf: Als die Mutter in "Die Mom der kühnen Tat" einige Wochen später jene Person auf der Straße sieht, die zu Unrecht für den Angriff auf ihren Sohn zusammengeschlagen wurde, und diese nun sichtbar hinkt, entsteht - in jenem subtil überzeichneten Ton erzählt, den Saunders perfekt beherrscht - aus dem Nichts ein heller, grüner Lichtstrahl zwischen beiden. Wo das Gegenüber selbst als verletzliche Kreatur erkannt wird, entspringt bei aller Armseligkeit ein Moment von gegenseitigem Verständnis. Wenigstens in der bewusst verkitscht dargestellten Phantasie der Protagonistin.
In seinem neuen Buch wird Saunders vor allem seinem Ruf als großer Stilist der amerikanischen Literatur gerecht. Er schafft es, auf wenigen Seiten Welten und Figuren von erstaunlicher Dichte und Tiefe entstehen zu lassen, die einen ohne langen Aufbau sofort in ihre Handlung hineinziehen. Zugleich wird an "Tag der Befreiung" deutlich, wie gerade kurze Erzählungen dazu geeignet sind, etwas in unserer Gegenwart sichtbar zu machen. Dabei wirken sie allerdings nie belehrend oder durchsichtig. Saunders' Geschichten sind so subtil, dass manche von ihnen sich auf den ersten Blick fast wie Banalitäten lesen. Gerade im Nachwirken entfalten sie aber ihre Komplexität. In seinem viel gelobten Essayband "Bei Regen in einem Teich schwimmen" über die Kunst des Schreibens (2022) zeigte sich, dass Literatur für Saunders eine eigene Ethik vertritt, die sich in einer Veränderung unserer Art zu sehen manifestiert. Seine Erzählungen haben darin, ohne das je explizit zu machen, vielleicht selbst etwas von jenem grünen Lichtstrahl, der einen kurzen Moment gegenseitigen Verständnisses herstellt.
Die letzte Erzählung im neuen Buch, "Mein Haus", ist zugleich die rätselhafteste: Ein Mann versucht, ein Haus zu kaufen. Alles scheint seinen Weg zu gehen, man einigt sich auf einen Preis. Er zögert jedoch kurz, bevor er dem Verkäufer ein dauerhaftes Besuchsrecht verspricht. Dieses Zögern führt dazu, dass der Verkäufer auf keinen der folgenden Briefe mehr antwortet, obwohl er das Geld eigentlich dringend zu brauchen schien. Schließlich wird der Käufer selbst krank, das Haus ist nicht mehr relevant, er rätselt aber weiter, woran der Verkauf letztlich scheiterte. Beide Männer leiden unabhängig voneinander, der eine an Geldnot, der andere daran, dass ihm zu Lebzeiten sein Traumhaus vorenthalten blieb. Die leise Moral der Erzählung zu konstruieren wird dem Leser selbst überlassen: Das Haus hätte ohne Probleme genügend Platz für beide geboten. MANUEL PASS
George Saunders, "Tag der Befreiung". Stories. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Luchterhand Verlag, 320 Seiten, 25 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In seinem Erzählungsband "Tag der Befreiung" durchdringt George Saunders die komplexen Konflikte der amerikanischen Gegenwart und Seele.
Am 5. November 2024 wird in den Vereinigten Staaten ein neuer Präsident gewählt. Mit der erneuten Kandidatur Donald Trumps sind auch die Ängste vor einem Rechtsruck oder gar vor einem Ende der amerikanischen Demokratie zurück. George Saunders hat für diese Situation schon vor zwei Jahren das passende Buch geschrieben, jetzt erscheint es auf Deutsch: "Tag der Befreiung".
In der "Late Show" von Stephen Colbert hatte er 2022 über die Stimmung gesprochen, aus der heraus die neun Erzählungen dieses Buchs entstanden waren: "Vor der Wahl 2020 fühlte ich mich einfach aufgewühlt und sauer. Und vor allem war mein Gefühl: Werden wir es wirklich ruinieren, dieses schöne Land, das wir auf einem gemeinsamen Konsens aufgebaut haben? Werden wir wirklich zulassen, dass etwas so Dummes und Lächerliches - jemand so Dummes und Lächerliches! - es zerstört?"
In "Tag der Befreiung" ist von realen politischen Ereignissen oder Positionen nur wenig zu lesen. Die meisten Geschichten handeln von Durchschnittsbürgern und ihren Werten, Überzeugungen und Lebenswelten. Was sich jedoch hinter betont beiläufigen Titeln wie "Eine Sache auf der Arbeit", "Muttertag" oder "Liebesbrief" verbirgt, ist ein Mix dessen, was Menschen sich ganz alltäglich an mehr oder weniger subtilen Grausamkeiten antun: bösartige Intrigen im Büro, die gehässigen Gedanken einer alt gewordenen Mutter beim Spaziergang mit ihrer Tochter, die Rache eines Vaters an einem Unschuldigen. All die menschlichen Abgründe, die genug Stoff für einige Shakespeare'sche Dramen böten, findet Saunders in der Normalität des amerikanischen Alltags wieder.
In "Die Mom der kühnen Tat" etwa steigert sich die sonst liebenswerte Mutter eines Jungen, die in ihrer Freizeit putzige Geschichten über belebte Gegenstände schreibt und nett zu jedem ist, in eine Art moralische Raserei, als ihr Sohn von einem Obdachlosen in ein Gebüsch gestoßen wird und sich dabei verletzt. Da es zwei Verdächtige gibt und der Junge den Täter nicht zweifelsfrei identifizieren kann, kommt der Schuldige straffrei davon.
In einem inneren Monolog erleben wir, wie die Mutter sich in immer konkreteren Gewalt- und Rachephantasien ergeht, die schließlich in einem Essay mit dem Titel "Gerechtigkeit" gipfeln, der wiederum den Vater des Jungen dazu animiert, einen - wie sich später herausstellt, unschuldigen - Mann zusammenzuschlagen: "Ciao, Dosenöffner mit großen Träumen; ciao, sprechende Bäume; ciao, Henry der Pflichtbewusste Eiswagen-Reifen, dieser Schrotttext, an dem sie die längste Zeit des letzten Jahres gearbeitet hatte; ciao, verkrampfter Optimismus; ciao, politische Korrektheit. Das hier war der heiße Scheiß. Wow. Sie wusste genau, was sie sagen wollte. Es war, als wollte sie einen Bach überque-ren, und unter ihren Füßen tauchte ein Stein nach dem anderen auf. Es war, als würde sie endlich laut sprechen. Aber auf dem Papier. Es war das Ehrlichste und Authentischste, was sie je geschrieben hatte. Es klang nicht nach ihr, aber es war sie, in echt."
Was Saunders' neun Erzählungen verbindet, ist ein scharfer Blick für die moralischen Abgründe in unseren gut gemeinten Überzeugungen, Werten und Handlungen. Wenn die Figuren sich, ihre Familie oder ihre Gemeinschaft bedroht sehen, schlägt ihr moralischer Universalismus in Tribalismus und Hass um. Das behandelt Saunders in verschiedenen Settings, Stilen und Perspektiven: Einige Geschichten scheinen in der amerikanischen Gegenwart zu spielen, andere bewegen sich durch eine autoritäre Zukunft. Teils werden sie von Figuren erzählt, die durch ein nicht näher beschriebenes Verfahren ihr Gedächtnis verloren haben, weil sie als "unwürdige Personen" aus der Gemeinschaft ausgestoßen wurden. "Ghul" malt ein dystopisches Szenario aus, in dem Menschen in einer Art gigantischem Gruselkabinett ohne Zuschauer leben. Bei kleinsten Vergehen (worunter auch schon die Frage fällt, ob wohl jemals Publikum kommen wird, um die Performances zu sehen) droht ihnen die größtmögliche Strafe: Die Anwesenden bilden einen Kreis, und der oder die Beschuldigte wird an Ort und Stelle von den Umstehenden totgetreten. Wer andere nicht denunziert, macht sich damit selbst schuldig. Als eine der Figuren durch einen Brief erfährt, dass nie jemand auftauchen wird, gerät für ihn alles ins Rutschen: "Süßer, da kommt keiner. Um zu schauen, wie gut wir das alles gemacht haben/machen. Hier gibt's nur uns. Bis in alle Ewigkeit."
Saunders zeichnet mit seinen Geschichten eine erbärmliche Conditio humana, zeigt den Menschen als opportunistisches, verletzliches Wesen - und tut all das nicht mit abgeklärter Misanthropie, sondern erstaunlichem Einfühlungsvermögen für seine Figuren. Obwohl man sie innerlich allesamt verurteilen möchte, empfindet man widerwillig auch Verständnis für sie. Und so bricht auch in den Erzählungen selbst die Logik von Vergeltung und Revanchismus bisweilen kurz auf: Als die Mutter in "Die Mom der kühnen Tat" einige Wochen später jene Person auf der Straße sieht, die zu Unrecht für den Angriff auf ihren Sohn zusammengeschlagen wurde, und diese nun sichtbar hinkt, entsteht - in jenem subtil überzeichneten Ton erzählt, den Saunders perfekt beherrscht - aus dem Nichts ein heller, grüner Lichtstrahl zwischen beiden. Wo das Gegenüber selbst als verletzliche Kreatur erkannt wird, entspringt bei aller Armseligkeit ein Moment von gegenseitigem Verständnis. Wenigstens in der bewusst verkitscht dargestellten Phantasie der Protagonistin.
In seinem neuen Buch wird Saunders vor allem seinem Ruf als großer Stilist der amerikanischen Literatur gerecht. Er schafft es, auf wenigen Seiten Welten und Figuren von erstaunlicher Dichte und Tiefe entstehen zu lassen, die einen ohne langen Aufbau sofort in ihre Handlung hineinziehen. Zugleich wird an "Tag der Befreiung" deutlich, wie gerade kurze Erzählungen dazu geeignet sind, etwas in unserer Gegenwart sichtbar zu machen. Dabei wirken sie allerdings nie belehrend oder durchsichtig. Saunders' Geschichten sind so subtil, dass manche von ihnen sich auf den ersten Blick fast wie Banalitäten lesen. Gerade im Nachwirken entfalten sie aber ihre Komplexität. In seinem viel gelobten Essayband "Bei Regen in einem Teich schwimmen" über die Kunst des Schreibens (2022) zeigte sich, dass Literatur für Saunders eine eigene Ethik vertritt, die sich in einer Veränderung unserer Art zu sehen manifestiert. Seine Erzählungen haben darin, ohne das je explizit zu machen, vielleicht selbst etwas von jenem grünen Lichtstrahl, der einen kurzen Moment gegenseitigen Verständnisses herstellt.
Die letzte Erzählung im neuen Buch, "Mein Haus", ist zugleich die rätselhafteste: Ein Mann versucht, ein Haus zu kaufen. Alles scheint seinen Weg zu gehen, man einigt sich auf einen Preis. Er zögert jedoch kurz, bevor er dem Verkäufer ein dauerhaftes Besuchsrecht verspricht. Dieses Zögern führt dazu, dass der Verkäufer auf keinen der folgenden Briefe mehr antwortet, obwohl er das Geld eigentlich dringend zu brauchen schien. Schließlich wird der Käufer selbst krank, das Haus ist nicht mehr relevant, er rätselt aber weiter, woran der Verkauf letztlich scheiterte. Beide Männer leiden unabhängig voneinander, der eine an Geldnot, der andere daran, dass ihm zu Lebzeiten sein Traumhaus vorenthalten blieb. Die leise Moral der Erzählung zu konstruieren wird dem Leser selbst überlassen: Das Haus hätte ohne Probleme genügend Platz für beide geboten. MANUEL PASS
George Saunders, "Tag der Befreiung". Stories. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Luchterhand Verlag, 320 Seiten, 25 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»George Saunders ist der innovativste, der spielwütigste, der stärkste Erzähler nach David Foster Wallace in den USA unserer Gegenwart.« Denis Scheck / SWR Fernsehen - lesenswert Quartett