Es ist Anfang Mai und im finnischen Turku fällt der letzte Schnee des Jahres. Langsam bedeckt er das Autowrack, in dem eine Elfjährige ums Leben kam, und die Parkbank, auf der zwei Unbekannte liegen, als würden sie schlafen. Kimmo Joentaa nimmt die Ermittlungen in beiden Fällen auf und stößt auf Menschen, die zunächst nichts miteinander zu verbinden scheint: einen Architekten, der den festen Glauben an die Symmetrie des Lebens verliert, einen Investmentbanker, der sich im Dickicht seines Doppellebens verliert, und einen Schüler, der unaufhaltsam auf einen Amoklauf zusteuert. Fast zu spät erkennt Kimmo, dass seine Aufgabe nicht die Suche nach einem Mörder ist, sondern die nach den verbindenden Linien in einem fatalen Beziehungsgeflecht.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Das Genre des Krimis trifft laut Christoph Schröder zwar zu auf die Kimmo-Joentaa-Romane von Jan Costin Wagner, spielt aber keine so große Rolle. Es geht nicht um die Aufklärung eines Verbrechens und auch nicht um gesellschaftliche Missstände, erklärt Schröder. Viel bedeutsamer erscheint dem Rezensenten, wie der Autor seine Figuren in Extremsituationen begleitet, in einer subtilen Mischung aus Empathie und Distanz, sprachlich ohne Pathos und Larmoyanz, sparsam und konzentriert. Im vorliegenden Buch nun gelingt das Wagner laut Schröder technisch überzeugender denn je und bezogen auf die Vereinigung der vielen verschiedenen Handlungsebenen sogar so gut, dass Schröder echt erstaunt ist. Positiv erstaunt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.01.2014Die Gleichzeitigkeit von Glück und Trauer
Wie man Gefühle erzählt: Ein Gespräch mit Jan Costin Wagner, der seinen neuen Roman in Frankfurt vorstellt
Dieses Mal hat alles mit dem Unfall angefangen, der sich auf den ersten Seiten des Romans ereignet. Für das Entwerfen des restlichen Buches hat Jan Costin Wagner sich Zeit gelassen. Vor drei Jahren ist "Das Licht in einem dunklen Haus" erschienen, sein bislang letzter Roman um den finnischen Polizeikommissar Kimmo Joentaa. "Tage des letzten Schnees", den vor wenigen Tagen bei Galiani herausgekommenen Nachfolger, stellt Wagner am Dienstag in der Frankfurter Romanfabrik vor. Das Buch folgt den Konventionen des Krimis, wie alle Werke Wagners, unterläuft sie aber auch, wie jeder seiner Romane. Fragt man ihn, womit die Arbeit am neuen Buch begonnen habe, verweist er neben dem Einstiegsunglück darauf, dass er vor der Niederschrift stets das Gefühl haben müsse, alles sei an seinem Platz: "Die Geschichte, die erzählt werden soll, die Figuren, die ich zur Sprache bringen will, und die Dramaturgie, in der die Figuren miteinander verwoben sind."
Dass Wagner das, was er erzählen will, und die Form, in der es erzählt wird, von Anfang an zusammen im Kopf hat, erklärt einen Teil der intensiven Wirkung, die seine Bücher bei ihrer Lektüre entfalten - nicht, weil die Aufklärung des Verbrechens, sondern vielmehr, weil die Erklärung der Gefühle so spannend ist, mit denen die von Mord und Totschlag aus dem Alltag gerissenen Personen zurechtkommen müssen. "Extremsituationen", sagt Wagner dazu, mit denen er selbst durch das Schreiben umgehe, denen er eine sprachliche Form gebe, so wie seine Charaktere es tun müssen, die über Verlust und Schmerz nachdenken und manchmal sogar sprechen, angefangen bei Joentaa, der auch im neuen Roman an seine Frau Sanna denkt, die ihm in "Eismond", dem 2003 erschienenen ersten Buch der Reihe, gestorben ist.
Nun also der Auto-Unfall, der einen Bekannten des Kommissars und dessen Tochter ereilt. Der Vater überlebt, das Mädchen stirbt. Die Folgen und Ursachen dieses Ereignisses werden dem Leser Stück für Stück vor Augen geführt, wie immer auch aus der Perspektive derer, die im Auto oder anderswo als Täter unterwegs sind, darauf legt Wagner Wert. Schließlich will er nicht nur wissen, was ein Verbrechen auslöst, sondern auch, was dahintersteckt. Um den Unfallverursacher geht es daher ebenfalls, um dessen eigenes Unglück und das weiterer mit ihm verbundener Menschen. Um die Schwindeleien einer Prostituierten aus dem ungarisch-rumänischen Grenzgebiet und den Schwindel, der hinter so manchem Geschäft erfolgreicher Banken steckt, um den Zusammenstoß von Armut und Reichtum, kurz um all das, was Wagner im Gespräch die psychologischen und moralischen "Kollisionen" nennt, die der aus einem Unfall-Einfall entstandene Roman durchspielt. Zu ihnen zählt für ihn die "Gleichzeitigkeit von Trauer und Glück" ebenso wie die grundsätzliche Frage danach, wie ein Ereignis das andere bedingt - "oder auch nicht". Dass es für Kriminalbeamte und Schriftsteller unentscheidbar bleibt, ob Zufall oder Ordnung herrschen, zeigt Wagner in einer besonders dramatischen Wendung gegen Ende des Romans so nachdrücklich wie nie.
Plötzliche Enthüllungen dieser Art, von denen "Tage des letzten Schnees" einige aufzubieten hat, wären dramaturgisch weniger wirkungsvoll ohne das, was entsteht, wenn Wagner sich an seinen "ziemlich leeren" Schreibtisch setzt und Wörter findet für das Bündel von Ereignissen, Personen und Beziehungen, das er zuvor so sorgfältig durchdacht hat: "Erst die Sprachfindung entscheidet darüber, ob das Ganze gelingt." Das Finden der in jedem Moment richtigen Formulierung dient nicht bloß dem Erzielen der größtmöglichen Wirkung auf den Leser, sondern auch der Sorgfaltspflicht, von der sich der Autor gegenüber den von ihm erfundenen Figuren leiten lassen sollte. "Ich möchte immer das Gefühl haben, der Romanwelt zu entsprechen." Während Wagners Charaktere zwischen Turku, der Nachbarstadt Salo und Helsinki versuchen, ihren Empfindungen Ausdruck zu geben, geht er daher der Frage nach, "ob das Leben den Tod überwinden kann". Die Kimmo-Joentaa-Frage könnte man diese Formulierung nennen, auf die "Tage des letzten Schnees" dem Kommissar kurz vor Schluss gleich mehrere überraschende Antworten gibt.
Weniger Ermittler als "Trauerbegleiter"sei Kimmo im neuen Roman, sagt Wagner und klingt damit nicht unzufrieden. Ermittler und Ordner ist in seinem Fall viel eher der Autor selbst, der Fiktion und Fakten mit Effekt präsentiert. Dass er das Mitgefühl, das seine Leser beim Nachdenken über Opfer und Täter unweigerlich packt, durch erzählerische Kniffe herstellt, macht sein Vorgehen ein wenig auch zu dem des Gauners, der jeden Trick kennt. Aber die Kunst steht außerhalb des Gesetzes, auch der Gesetze der Gattung, die Wagner zugunsten dessen unterläuft, worauf es ihm ankommt: "Den Figuren gerecht zu werden."
Der Schreibtisch, an dem dies geschieht, steht seit einiger Zeit in Hainburg im Landkreis Offenbach. In Langen, im selben Kreis gelegen, ist Wagner 1972 zur Welt gekommen, lange hat er mit seiner aus Finnland stammenden Frau halb in ihrer, halb in seiner Heimat gelebt. Nun, da die gemeinsame Tochter in Deutschland zur Schule geht, gelingt es der Familie nur noch in den Ferien, für längere Zeit zusammen nach Finnland zu fahren, das Land der "leicht herzustellenden Einsamkeit und Ruhe", das, wie Wagner hinzufügt, ihm ganz sicher entspreche. Es gefällt ihm, seit er mit 19 Jahren zum ersten Mal auf der Fähre von Stockholm nach Turku fuhr, um seine künftige Frau zu besuchen. In Helsinki ist er vor kurzem den Organisatoren des finnischen Gastlandauftritts auf der Frankfurter Buchmesse begegnet, die sich auf den Oktober freuen. "Es wird eine schöne Präsentation werden", sagt Wagner. "Finnen mögen Finnland." So geht es auch ihm. Und seinen Lesern. (Siehe Seite 33.)
Am 14. Januar stellt Jan Costin Wagner "Tage des letzten Schnees" in der Frankfurter Romanfabrik, Hanauer Landstraße 186, vor. Die Lesung beginnt um 20 Uhr.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie man Gefühle erzählt: Ein Gespräch mit Jan Costin Wagner, der seinen neuen Roman in Frankfurt vorstellt
Dieses Mal hat alles mit dem Unfall angefangen, der sich auf den ersten Seiten des Romans ereignet. Für das Entwerfen des restlichen Buches hat Jan Costin Wagner sich Zeit gelassen. Vor drei Jahren ist "Das Licht in einem dunklen Haus" erschienen, sein bislang letzter Roman um den finnischen Polizeikommissar Kimmo Joentaa. "Tage des letzten Schnees", den vor wenigen Tagen bei Galiani herausgekommenen Nachfolger, stellt Wagner am Dienstag in der Frankfurter Romanfabrik vor. Das Buch folgt den Konventionen des Krimis, wie alle Werke Wagners, unterläuft sie aber auch, wie jeder seiner Romane. Fragt man ihn, womit die Arbeit am neuen Buch begonnen habe, verweist er neben dem Einstiegsunglück darauf, dass er vor der Niederschrift stets das Gefühl haben müsse, alles sei an seinem Platz: "Die Geschichte, die erzählt werden soll, die Figuren, die ich zur Sprache bringen will, und die Dramaturgie, in der die Figuren miteinander verwoben sind."
Dass Wagner das, was er erzählen will, und die Form, in der es erzählt wird, von Anfang an zusammen im Kopf hat, erklärt einen Teil der intensiven Wirkung, die seine Bücher bei ihrer Lektüre entfalten - nicht, weil die Aufklärung des Verbrechens, sondern vielmehr, weil die Erklärung der Gefühle so spannend ist, mit denen die von Mord und Totschlag aus dem Alltag gerissenen Personen zurechtkommen müssen. "Extremsituationen", sagt Wagner dazu, mit denen er selbst durch das Schreiben umgehe, denen er eine sprachliche Form gebe, so wie seine Charaktere es tun müssen, die über Verlust und Schmerz nachdenken und manchmal sogar sprechen, angefangen bei Joentaa, der auch im neuen Roman an seine Frau Sanna denkt, die ihm in "Eismond", dem 2003 erschienenen ersten Buch der Reihe, gestorben ist.
Nun also der Auto-Unfall, der einen Bekannten des Kommissars und dessen Tochter ereilt. Der Vater überlebt, das Mädchen stirbt. Die Folgen und Ursachen dieses Ereignisses werden dem Leser Stück für Stück vor Augen geführt, wie immer auch aus der Perspektive derer, die im Auto oder anderswo als Täter unterwegs sind, darauf legt Wagner Wert. Schließlich will er nicht nur wissen, was ein Verbrechen auslöst, sondern auch, was dahintersteckt. Um den Unfallverursacher geht es daher ebenfalls, um dessen eigenes Unglück und das weiterer mit ihm verbundener Menschen. Um die Schwindeleien einer Prostituierten aus dem ungarisch-rumänischen Grenzgebiet und den Schwindel, der hinter so manchem Geschäft erfolgreicher Banken steckt, um den Zusammenstoß von Armut und Reichtum, kurz um all das, was Wagner im Gespräch die psychologischen und moralischen "Kollisionen" nennt, die der aus einem Unfall-Einfall entstandene Roman durchspielt. Zu ihnen zählt für ihn die "Gleichzeitigkeit von Trauer und Glück" ebenso wie die grundsätzliche Frage danach, wie ein Ereignis das andere bedingt - "oder auch nicht". Dass es für Kriminalbeamte und Schriftsteller unentscheidbar bleibt, ob Zufall oder Ordnung herrschen, zeigt Wagner in einer besonders dramatischen Wendung gegen Ende des Romans so nachdrücklich wie nie.
Plötzliche Enthüllungen dieser Art, von denen "Tage des letzten Schnees" einige aufzubieten hat, wären dramaturgisch weniger wirkungsvoll ohne das, was entsteht, wenn Wagner sich an seinen "ziemlich leeren" Schreibtisch setzt und Wörter findet für das Bündel von Ereignissen, Personen und Beziehungen, das er zuvor so sorgfältig durchdacht hat: "Erst die Sprachfindung entscheidet darüber, ob das Ganze gelingt." Das Finden der in jedem Moment richtigen Formulierung dient nicht bloß dem Erzielen der größtmöglichen Wirkung auf den Leser, sondern auch der Sorgfaltspflicht, von der sich der Autor gegenüber den von ihm erfundenen Figuren leiten lassen sollte. "Ich möchte immer das Gefühl haben, der Romanwelt zu entsprechen." Während Wagners Charaktere zwischen Turku, der Nachbarstadt Salo und Helsinki versuchen, ihren Empfindungen Ausdruck zu geben, geht er daher der Frage nach, "ob das Leben den Tod überwinden kann". Die Kimmo-Joentaa-Frage könnte man diese Formulierung nennen, auf die "Tage des letzten Schnees" dem Kommissar kurz vor Schluss gleich mehrere überraschende Antworten gibt.
Weniger Ermittler als "Trauerbegleiter"sei Kimmo im neuen Roman, sagt Wagner und klingt damit nicht unzufrieden. Ermittler und Ordner ist in seinem Fall viel eher der Autor selbst, der Fiktion und Fakten mit Effekt präsentiert. Dass er das Mitgefühl, das seine Leser beim Nachdenken über Opfer und Täter unweigerlich packt, durch erzählerische Kniffe herstellt, macht sein Vorgehen ein wenig auch zu dem des Gauners, der jeden Trick kennt. Aber die Kunst steht außerhalb des Gesetzes, auch der Gesetze der Gattung, die Wagner zugunsten dessen unterläuft, worauf es ihm ankommt: "Den Figuren gerecht zu werden."
Der Schreibtisch, an dem dies geschieht, steht seit einiger Zeit in Hainburg im Landkreis Offenbach. In Langen, im selben Kreis gelegen, ist Wagner 1972 zur Welt gekommen, lange hat er mit seiner aus Finnland stammenden Frau halb in ihrer, halb in seiner Heimat gelebt. Nun, da die gemeinsame Tochter in Deutschland zur Schule geht, gelingt es der Familie nur noch in den Ferien, für längere Zeit zusammen nach Finnland zu fahren, das Land der "leicht herzustellenden Einsamkeit und Ruhe", das, wie Wagner hinzufügt, ihm ganz sicher entspreche. Es gefällt ihm, seit er mit 19 Jahren zum ersten Mal auf der Fähre von Stockholm nach Turku fuhr, um seine künftige Frau zu besuchen. In Helsinki ist er vor kurzem den Organisatoren des finnischen Gastlandauftritts auf der Frankfurter Buchmesse begegnet, die sich auf den Oktober freuen. "Es wird eine schöne Präsentation werden", sagt Wagner. "Finnen mögen Finnland." So geht es auch ihm. Und seinen Lesern. (Siehe Seite 33.)
Am 14. Januar stellt Jan Costin Wagner "Tage des letzten Schnees" in der Frankfurter Romanfabrik, Hanauer Landstraße 186, vor. Die Lesung beginnt um 20 Uhr.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.01.2014Sprache des Schweigens
Mit dem Roman „Tage des letzten Schnees“ schreibt Jan Costin Wagner die Geschichte seines finnischen Ermittlers
Kimmo Joentaa weiter. Doch das Krimigenre ist nur ein Vehikel für diesen feinen und überaus genauen Erzähler
VON CHRISTOPH SCHRÖDER
Die Welt in Jan Costin Wagners Romanen erstrahlt zunächst in einem reinen Weiß. Es ist, als würde man auf eine weite, blendende Schneefläche schauen, und erst nach einiger Zeit, wenn die Augen sich an die Helligkeit gewöhnt haben, beginnt man, Details wahrzunehmen, Konturen, Bewegungen, Differenzen. Kalt ist die Temperatur des Erzählens, elegisch und melancholisch die Stimmung, doch nichts ist hier Selbstzweck oder bloßes Dekor, alles wird ausgelotet, austariert in eine Atmosphäre von Traurigkeit und Verlusterfahrungen.
Sicher, wenn man ein Genre benötigt, so schreibt Jan Costin Wagner möglicherweise Kriminalromane. „Tage des letzten Schnees“ ist das fünfte Buch, in dem der um seine an einem Krebsleiden verstorbene Frau Sanna trauernde Kimmo Joentaa, Kommissar im finnischen Turku, einen Auftritt hat. Und doch geht es Wagner nicht in erster Linie um die Aufklärung von Verbrechen und auch nicht – der Vergleich zu anderen skandinavischen Ermittlern liegt nahe – darum, gesellschaftliche Missstände anzuprangern. „Tage des letzten Schnees“, der neue Roman, folgt jeder einzelnen Figur auf subtile Weise in die feinen Verästelungen individueller und biografischer Verletzungen. Der Blick Kimmo Joentaas auf die Welt, eine Form von stoischer Offenheit, ist auch der Blick des Autors auf seine Figuren; eine Mischung aus Anteilnahme und kühler Distanz.
Alles beginnt mit einem Unfall: Der Architekt Lasse Ekholm holt seine elfjährige Tochter Anna vom Eishockeytraining ab. Auf dem Rückweg schießt ein Wagen blitzartig vorbei, Lasse verliert die Kontrolle über das Auto; er selbst überlebt, Anna, die nicht angeschnallt war, stirbt. Mehrere Handlungsstränge lässt Wagner nebeneinander herlaufen; sie umfassen einen Zeitraum sowohl vor als auch nach besagtem Unfall: Da ist der Investmentbanker Markus Sedin, verheiratet und Vater von einem Sohn, der auf einer Dienstreise nach Ostende eine ungarische Prostituierte kennenlernt und beginnt, ein Doppelleben zu führen. Da ist Kimmo Joentaa, der einen Doppelmord aufzuklären hat; eine junge Frau und ein wesentlich älterer Mann, erschossen aufgefunden auf einer Bank in einem verschneiten Park in Helsinki. Da ist Unto Beck, der in Allmachts- und Gewaltphantasien schwelgt und seinem Vorbild Anders Breivik nacheifert, indem er ein Blutbad auf einer finnischen Ferieninsel plant. Und da sind Lasse Ekholm und seine Frau Kirsti, die auf ganz unterschiedliche Weise um ihre Tochter trauern und versuchen, ein Leben weiterzuführen, das um eine Leerstelle kreist.
In Jan Costin Wagners Sprache ist kein Platz für Larmoyanz und auch nicht für Pathos. Sie bleibt zurückhaltend, sparsam, konzentriert auf Details, in denen sich das Große und Ganze spiegelt. Das bewahrt selbst die durchaus heiklen Passagen, in denen der Breivik-Epigone Unto seine Gewaltvisionen in einem Internet-Chatroom verbreitet, vor jeglicher Peinlichkeit. „Tage des letzten Schnees“ ist technisch ausgefeilter und auch risikoreicher als Wagners vorangegangene Romane. Dass am Ende der Doppelmord aufgeklärt wird, versteht sich von selbst; die Volte allerdings, mit der Wagner ganz zum Schluss sämtliche Plotebenen sinnfällig miteinander verknüpft, dürfte selbst geübte Leser von Kriminalromanen noch in Erstaunen versetzen.
Doch darum geht es letztendlich nicht. Jan Costin Wagner, der deutsche Schriftsteller, der etwa die Hälfte des Jahres in Finnland lebt, führt Menschen in die für sie jeweils schlimmstmöglichen Ausgangssituationen und lässt sie von dort aus loslaufen, zurück zu hellen, lichteren Augenblicken. Er sucht, wie es einmal heißt, nach einer „Sprache des Schweigens“, allerdings fern jeder Esoterik. Das Krimigenre ist ein Vehikel. Dahinter verbergen sich Empathie und Beobachtungsgabe. In „Tage des letzten Schnees“ hat Wagner beides noch einmal verfeinert.
Jan Costin Wagner: Tage des letzten Schnees. Roman. Galiani Berlin Verlag, Berlin 2014. 316 Seiten, 19,99 Euro; E-Book 17,99 Euro.
Jan Costin Wagner, geboren 1972, lebt als Schriftsteller und Musiker bei Frankfurt am Main und in seiner zweiten Heimat Finnland.
Foto: Gunter Glücklich
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Mit dem Roman „Tage des letzten Schnees“ schreibt Jan Costin Wagner die Geschichte seines finnischen Ermittlers
Kimmo Joentaa weiter. Doch das Krimigenre ist nur ein Vehikel für diesen feinen und überaus genauen Erzähler
VON CHRISTOPH SCHRÖDER
Die Welt in Jan Costin Wagners Romanen erstrahlt zunächst in einem reinen Weiß. Es ist, als würde man auf eine weite, blendende Schneefläche schauen, und erst nach einiger Zeit, wenn die Augen sich an die Helligkeit gewöhnt haben, beginnt man, Details wahrzunehmen, Konturen, Bewegungen, Differenzen. Kalt ist die Temperatur des Erzählens, elegisch und melancholisch die Stimmung, doch nichts ist hier Selbstzweck oder bloßes Dekor, alles wird ausgelotet, austariert in eine Atmosphäre von Traurigkeit und Verlusterfahrungen.
Sicher, wenn man ein Genre benötigt, so schreibt Jan Costin Wagner möglicherweise Kriminalromane. „Tage des letzten Schnees“ ist das fünfte Buch, in dem der um seine an einem Krebsleiden verstorbene Frau Sanna trauernde Kimmo Joentaa, Kommissar im finnischen Turku, einen Auftritt hat. Und doch geht es Wagner nicht in erster Linie um die Aufklärung von Verbrechen und auch nicht – der Vergleich zu anderen skandinavischen Ermittlern liegt nahe – darum, gesellschaftliche Missstände anzuprangern. „Tage des letzten Schnees“, der neue Roman, folgt jeder einzelnen Figur auf subtile Weise in die feinen Verästelungen individueller und biografischer Verletzungen. Der Blick Kimmo Joentaas auf die Welt, eine Form von stoischer Offenheit, ist auch der Blick des Autors auf seine Figuren; eine Mischung aus Anteilnahme und kühler Distanz.
Alles beginnt mit einem Unfall: Der Architekt Lasse Ekholm holt seine elfjährige Tochter Anna vom Eishockeytraining ab. Auf dem Rückweg schießt ein Wagen blitzartig vorbei, Lasse verliert die Kontrolle über das Auto; er selbst überlebt, Anna, die nicht angeschnallt war, stirbt. Mehrere Handlungsstränge lässt Wagner nebeneinander herlaufen; sie umfassen einen Zeitraum sowohl vor als auch nach besagtem Unfall: Da ist der Investmentbanker Markus Sedin, verheiratet und Vater von einem Sohn, der auf einer Dienstreise nach Ostende eine ungarische Prostituierte kennenlernt und beginnt, ein Doppelleben zu führen. Da ist Kimmo Joentaa, der einen Doppelmord aufzuklären hat; eine junge Frau und ein wesentlich älterer Mann, erschossen aufgefunden auf einer Bank in einem verschneiten Park in Helsinki. Da ist Unto Beck, der in Allmachts- und Gewaltphantasien schwelgt und seinem Vorbild Anders Breivik nacheifert, indem er ein Blutbad auf einer finnischen Ferieninsel plant. Und da sind Lasse Ekholm und seine Frau Kirsti, die auf ganz unterschiedliche Weise um ihre Tochter trauern und versuchen, ein Leben weiterzuführen, das um eine Leerstelle kreist.
In Jan Costin Wagners Sprache ist kein Platz für Larmoyanz und auch nicht für Pathos. Sie bleibt zurückhaltend, sparsam, konzentriert auf Details, in denen sich das Große und Ganze spiegelt. Das bewahrt selbst die durchaus heiklen Passagen, in denen der Breivik-Epigone Unto seine Gewaltvisionen in einem Internet-Chatroom verbreitet, vor jeglicher Peinlichkeit. „Tage des letzten Schnees“ ist technisch ausgefeilter und auch risikoreicher als Wagners vorangegangene Romane. Dass am Ende der Doppelmord aufgeklärt wird, versteht sich von selbst; die Volte allerdings, mit der Wagner ganz zum Schluss sämtliche Plotebenen sinnfällig miteinander verknüpft, dürfte selbst geübte Leser von Kriminalromanen noch in Erstaunen versetzen.
Doch darum geht es letztendlich nicht. Jan Costin Wagner, der deutsche Schriftsteller, der etwa die Hälfte des Jahres in Finnland lebt, führt Menschen in die für sie jeweils schlimmstmöglichen Ausgangssituationen und lässt sie von dort aus loslaufen, zurück zu hellen, lichteren Augenblicken. Er sucht, wie es einmal heißt, nach einer „Sprache des Schweigens“, allerdings fern jeder Esoterik. Das Krimigenre ist ein Vehikel. Dahinter verbergen sich Empathie und Beobachtungsgabe. In „Tage des letzten Schnees“ hat Wagner beides noch einmal verfeinert.
Jan Costin Wagner: Tage des letzten Schnees. Roman. Galiani Berlin Verlag, Berlin 2014. 316 Seiten, 19,99 Euro; E-Book 17,99 Euro.
Jan Costin Wagner, geboren 1972, lebt als Schriftsteller und Musiker bei Frankfurt am Main und in seiner zweiten Heimat Finnland.
Foto: Gunter Glücklich
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Mehr als ein Krimi. (...) Die Stärke der Romanreihe liegt in den tiefen Einblicken in die Gefühlswelt seiner Figuren. Kathrin Hollmer Süddeutsche Zeitung 20200202