Unter Piraten in der Karibik, mitten in der Russischen Revolution - Zeitreisen sind voller Überraschungen. Fest entschlossen betritt Cya die fremden Welten. Inspiriert von der friedlichen und selbstbestimmten Gesellschaft der Zukunft, in der sie lebt, reist sie von Zeit zu Ort und versucht, die Vergangenheit von ihren Fesseln zu befreien - mit unterschiedlichem Erfolg.
In Tausend und ein Morgen entwirft Ilija Trojanow ein leidenschaftliches Porträt seiner mutigen Heldin. Wie kein anderer Autor verbindet er erzählerische Virtuosität und kritisches Denken zu einem modernen Epos, das alle Grenzen überwindet, Raum und Zeit ausleuchtet und einen frischen Blick in die Zukunft wagt.
Mit sinnlichen Bildern und überbordenden Geschichten erfindet Ilija Trojanow den utopischen Roman neu - ein Roman, der von der unerschöpflichen Kraft unseres Denkens erzählt.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Rezensentin Berit Dießelkämper ist kein allzu großer Fan von Ilija Trojanows Science-Fiction-Roman, der immerhin eine originelle Antwort auf die Frage bereithält, ob wir lieber uns selbst oder die Menschheit als Ganzes retten sollen. Letzteres werden die Menschen einer Zukunft übernehmen, so die Prämisse des Romans, erklärt Dießelkämper, weil die Technik dann so weit fortgeschritten ist, dass mithilfe von Zeitreisen auch die Probleme der Vergangenheit gelöst werden können. Das kommt der Rezensentin eher langweilig vor: Trojanow entwerfe seine Zukunftswelt als Utopie, in der alles im vernünftigen Gespräch ausdiskutiert wird und höchstens noch das Bier schal ist. Misslungene Sexszenen geben der Kritikerin den Rest.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.08.2023Ohne Code durch Zeit und Raum
Wer im Paradies weilt, soll jenen helfen, die unverschuldet nicht im Paradies sind. Ilija Trojanow erzählt in "Tausend und ein Morgen" von einem politischen Projekt mittels Zeitreisen: Besucher aus der Zukunft versuchen, die Vergangenheit zu verbessern. Wie kaum anders zu erwarten, gelingt es nicht.
Die Zeitreise - in welchem Medium auch inszeniert - ist ein verlockendes Sujet, bringt aber störanfällige Erzählungen hervor. Ganz liegt ihr Reiz in der Wechselwirkung zwischen den Ebenen: sei es in den Nöten einer Welt, die gezwungen ist, sich umzuschreiben, indem sie ihre Vergangenheit verändert, sei es in der - im Zweifel vergeblichen - Suche nach den Fäden, die von einer fremd anmutenden Zukunft in die bekannte Gegenwart führen. Letzteres Unterfangen etabliert in H. G. Wells' "Time Machine" 1895 die Zeitreise als Genre überhaupt. Das Erstere hingegen prägt mehrheitlich die Zeitreisen der vergangenen Jahrzehnte, sehr schön exponiert etwa bereits in Gregory Benfords "Zeitschaft" (1980), als dystopisches Erzählmuster aber auch popularisiert in James Camerons "Terminator"-Filmen oder in der Videospielreihe "Assassin's Creed". (Einen wunderbaren Überblick über die literarische Tradition bietet im Übrigen die von Ann und Jeff VanderMeer 2013 herausgegebene Anthologie "The Time Traveler's Almanac".)
Tendiert die Zeitreise-Literatur im Angesicht von Klimakatastrophe und Zerstörung der Biodiversität dazu, die Welt ihrer Erzähler retten zu wollen, so wählt Ilija Trojanows neuer Roman "Tausend und ein Morgen" den umgekehrten Weg. Seinen Ausgang nimmt er in einer Zukunft, die nicht genau datiert ist, sich aber durch die Abwesenheit von Missständen auszeichnet. Man spricht dort nur noch von "Mitmenschen", flüssige Denkmäler würdigen das stetige Hervor- und Zurücktreten des Einzelnen aus der und in die Gesellschaft, und nicht nur Mord, sondern Verbrechen überhaupt sind unerklärlich geworden. In dieser Welt nun hat sich ein Kreis von Zeitreisenden, sogenannten "Chronautin" (den Plural bildet man stets mit dem Suffix "-in"), gefunden, zu dem auch die junge Cya stößt. Unterstützt durch die künstliche Intelligenz GOG, begibt sich Cya, nachdem sie ihre Übungssimulationen durchlaufen hat, auf Expeditionen ins "Damalsdort", um die Verwerfungen der Geschichte aufzuhalten. Ihr Vorsatz: "Wer im Paradies weile, solle jenen helfen, die unverschuldet nicht im Paradies seien, sonst erweise sich der Mensch des Paradieses als unwürdig."
Erzählt wird also aus dem Paradies heraus, und hierin liegt bereits eine Schwierigkeit dieses Textes beschlossen. Paradiese neigen nämlich nun einmal zur Entkonkretisierung, da sich Charaktere und Gesellschaften eben in Konflikten formen und über sie erzählbar werden. Wo die Konflikte fehlen (oder konsequent Beratungsgremien überantwortet werden), verblassen die Figuren, verschwimmt ihre Motivation. So dienen nicht nur die Geschichten aus der Zukunftswelt, etwa der rätselhafte Tod von Cyas Onkel Host oder die Liebesbeziehung zu ihrem Gefährten Domru, dann auch vornehmlich als Behälter für Metareflexionen über Zeit, Geschichte und Gerechtigkeit. Auch und gerade die Begründung der Zeitreise vermag den Gestalten kaum Konturen zu stiften, denn Altruismus ist zwar löblich, aber kein guter Erzählstoff.
So taucht man nun also hinab in die Vergangenheit, in Gefilde, die Lesern von Trojanows "Weltensammler" (2006) mitunter bekannt vorkommen dürften. Cyas Reisen - bisweilen arbeitet sie auch im Team - skizzieren dabei einerseits die Geschichte des "Kapitalozäns" von seinen kolonialistischen Anfängen in der Karibik bis zu seiner Apokalypse in einem durchseuchten und überhitzten Indien der nahen Zukunft. Alles beginnt somit also - natürlich - auf Inseln, der Brutstätte der Robinsonaden und damit der kapitalistischen Utopie, deren Aufblühen durch ein Bündnis von Sklaven und Piraten verhindert werden soll. Die strategisch-militärische Übermacht der imperialen Kräfte wird jedoch von den Chronautin unterschätzt, der piratische Aufstand scheitert, die Dinge nehmen ihren Lauf. Und Jahrhunderte später stürzt die Erzählung eines globalen Wirtschaftssystems dann in einen Abgrund der Heilsgeschichte. In einer indischen Siebenküstenstadt (es wird Bombay sein) gerät der Ermittler Sebastian da Costa bei der Aufklärung eines Mordes zwischen die Fronten von Hindutva und Muslimen. Assistiert von Cya, verfolgt er die Spur eines gestohlenen Idols, das Mohammed als letzte Inkarnation Vishnus zeigt: Die Religionen verbinden sich, "das düstere Zeitalter Kaliyuga" geht zu Ende - aber schnell wird deutlich, dass diese Verschmelzung nicht zur Versöhnung aller im "Glauben Gottes", sondern nur zu neuen Machtfragen führt. Abgewendet werden kann eine Eskalation der Gewalt zwischen den Volksgruppen schließlich nur noch dadurch, dass Cya das Bildnis im Meer versenkt - und mit ihm auch jede Aussicht auf eine symbolische Erlösung der Menschheit.
Dementsprechend bleibt "Tausend und ein Morgen" vor allem ein Roman des Versagens. Versagt bleibt den Toten ihr Recht auf ein gutes Leben, zu dem ihnen auch die Chromatin nicht mehr verhelfen können. Konfrontiert werden die Zeitreisenden nämlich - das ist vielleicht die interessanteste Einsicht dieses Textes - mit dem Umstand, dass jedes Universum "über eine Art Immunsystem" verfügt, "das Fremdkörper abweist und radikale Fliehkräfte nicht zulässt", das also "stabil bleibt, selbst wenn sich wichtige Elemente verschieben". Das ist natürlich bemühte Selbstreflexion: Wer sich einmal in die Logik der Historie verstrickt, der erkennt, dass es nicht um den einen Augenblick geht, an dem sich die Weichen anders stellen ließen - um den vorzeitigen Tyrannenmord etwa -, sondern um Strukturen, die sich nicht einfach reprogrammieren lassen.
Die Chromatin lernen diese Lektion schon sehr früh im Roman, was sie gleichwohl nicht davon abhält, den historischen Moment doch immer wieder aufsuchen und umschreiben zu wollen, insbesondere im letzten und dritten Teil, der die Oktoberrevolution behandelt. Die angestrengt und mehrfach herbeierzählte Ermordung des "neuen Zaren" Lenin, durch die der Sozialismus als antikapitalistische Alternative vor den Tschekisten gerettet werden und damit eine "Vermenschlichung des 20. Jahrhunderts" herbeigeführt werden soll, mündet am Ende in vier Paralleluniversen, vier Zukünfte, von denen nur eine jener humanisierten Wirklichkeit ähnlich sieht - die letzte, die als Zug mit den Zeitreisenden Cya und Samsil in ihre Welt zurückfährt.
Es ist eine Fahrt über ungesichertes Terrain, denn die Route, die aus der Geschichte in die Nachgeschichte führt, bleibt erwartungsgemäß verschwommen. Immer deutlicher wird im Verlauf des Textes, dass die Chronautin das Zustandekommen ihrer eigenen Gesellschaftsform aus dem historischen Material, das sie umschreiben wollen, überhaupt nicht begründen können. So, wie sich Zeit und Zeitlosigkeit niemals berühren, so bleibt auch der Kosmos, den die Zeitreisenden der Logik des Mehrwerts entgegenstellen, ein fremder, verdankt er sich doch dem Umstand, "dass die am Umbruch beteiligten Menschen sich den existierenden Mechanismen verweigerten, sich zu Gemeinschaften zusammenschlossen, deren Wirken sie selbst bestimmten, mit eigenen Regeln, die sie untereinander aushandelten, bis sie behutsam zu Einigungen gelangten, während sie sich gegenseitig unter die Arme griffen und immer mehr von ihnen Gier und Geiz aufgaben."
Das ist eine schöne Erzählung, die man da von sich verbreitet - und es schwant Cya und ihren Gefährten, dass es eben nur eine Erzählung ist, dass sie selbst Ausgeburten eines Postulats sind, das kaum mit Leben zu füllen ist. Einer von ihnen, Cyas Geliebter Domru, wird dann auch bei seinen Raumzeitreisen historisch kontaminiert, verfällt in einen insulären Machtrausch und verlässt damit den utopischen Raum.
Es gibt im Grunde keine Position, die in diesem Roman nicht mehrfach gewendet, keinen Begriff, der nicht diskursiviert wird, keinen literarischen Reflektor, den dieser Text nicht nutzt - von der Bibliothek über die von den Genossen abgeschmirgelten Wörter bis hin zur KI, die ihre Sicht auf die erreisten Zeiten in einem eigenen Konvolut abbildet. (Letzteres würde man gerne lesen, erfährt man doch immerhin, dass die KI das "Damalsdortige" für "veraltete Software" hält.) Indessen ist Selbstbefragung kein literarisches Bindemittel. Mögen sich die Expeditoren zu Beginn ihrer Fahrten auch noch so sehr verschwören, dass ihre Berichte "in allen Farben der Plausibilität" nachzukolorieren seien: Ihre Geschichte zerfällt. Es gibt da durchaus schöne Splitter wie den Auftritt Majakowskis, der als futuristischer Dichter die Zukunftswesen als solche zu durchschauen vermag. Anderes bleibt seltsam hölzern, wie der durch eine Manipulation Domrus herbeigeführte Ausflug zu den Olympischen Winterspielen in Sarajevo, an dessen Ende man durch einen "Raum-Zeit-Lag" den Balkankrieg aufschimmern sieht. Viel Sendungsbewusstsein erahnt man dahinter, aber es trägt diesen Roman nicht durch die Geschichte.
Was der Mensch, was Gesellschaft, was Zivilisation sei: Zeitreisen können bei diesen Fragen weiterhelfen, man lese Stapledons "Last and First Men" oder Michel Jeurys "Le temps incertain". "Tausend und ein Morgen" aber verweigert sich sowohl einer konkreten Fragestellung als auch einer Logistik der Aufzeichnung (die es an seine KI delegiert). Freilich ist das Scheitern an der "Geschichtsschreibung" programmatischer Bestandteil jedes Zeitreiseromans. Wer aber von vornherein schon ohne Code, Eigeninteresse und ideologischen Standpunkt in die Vergangenheiten schweift, kehrt immer mit leeren Händen zurück. PHILIPP THEISOHN
Ilija Trojanow: "Tausend und ein Morgen". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2023. 528 S., geb., 30,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wer im Paradies weilt, soll jenen helfen, die unverschuldet nicht im Paradies sind. Ilija Trojanow erzählt in "Tausend und ein Morgen" von einem politischen Projekt mittels Zeitreisen: Besucher aus der Zukunft versuchen, die Vergangenheit zu verbessern. Wie kaum anders zu erwarten, gelingt es nicht.
Die Zeitreise - in welchem Medium auch inszeniert - ist ein verlockendes Sujet, bringt aber störanfällige Erzählungen hervor. Ganz liegt ihr Reiz in der Wechselwirkung zwischen den Ebenen: sei es in den Nöten einer Welt, die gezwungen ist, sich umzuschreiben, indem sie ihre Vergangenheit verändert, sei es in der - im Zweifel vergeblichen - Suche nach den Fäden, die von einer fremd anmutenden Zukunft in die bekannte Gegenwart führen. Letzteres Unterfangen etabliert in H. G. Wells' "Time Machine" 1895 die Zeitreise als Genre überhaupt. Das Erstere hingegen prägt mehrheitlich die Zeitreisen der vergangenen Jahrzehnte, sehr schön exponiert etwa bereits in Gregory Benfords "Zeitschaft" (1980), als dystopisches Erzählmuster aber auch popularisiert in James Camerons "Terminator"-Filmen oder in der Videospielreihe "Assassin's Creed". (Einen wunderbaren Überblick über die literarische Tradition bietet im Übrigen die von Ann und Jeff VanderMeer 2013 herausgegebene Anthologie "The Time Traveler's Almanac".)
Tendiert die Zeitreise-Literatur im Angesicht von Klimakatastrophe und Zerstörung der Biodiversität dazu, die Welt ihrer Erzähler retten zu wollen, so wählt Ilija Trojanows neuer Roman "Tausend und ein Morgen" den umgekehrten Weg. Seinen Ausgang nimmt er in einer Zukunft, die nicht genau datiert ist, sich aber durch die Abwesenheit von Missständen auszeichnet. Man spricht dort nur noch von "Mitmenschen", flüssige Denkmäler würdigen das stetige Hervor- und Zurücktreten des Einzelnen aus der und in die Gesellschaft, und nicht nur Mord, sondern Verbrechen überhaupt sind unerklärlich geworden. In dieser Welt nun hat sich ein Kreis von Zeitreisenden, sogenannten "Chronautin" (den Plural bildet man stets mit dem Suffix "-in"), gefunden, zu dem auch die junge Cya stößt. Unterstützt durch die künstliche Intelligenz GOG, begibt sich Cya, nachdem sie ihre Übungssimulationen durchlaufen hat, auf Expeditionen ins "Damalsdort", um die Verwerfungen der Geschichte aufzuhalten. Ihr Vorsatz: "Wer im Paradies weile, solle jenen helfen, die unverschuldet nicht im Paradies seien, sonst erweise sich der Mensch des Paradieses als unwürdig."
Erzählt wird also aus dem Paradies heraus, und hierin liegt bereits eine Schwierigkeit dieses Textes beschlossen. Paradiese neigen nämlich nun einmal zur Entkonkretisierung, da sich Charaktere und Gesellschaften eben in Konflikten formen und über sie erzählbar werden. Wo die Konflikte fehlen (oder konsequent Beratungsgremien überantwortet werden), verblassen die Figuren, verschwimmt ihre Motivation. So dienen nicht nur die Geschichten aus der Zukunftswelt, etwa der rätselhafte Tod von Cyas Onkel Host oder die Liebesbeziehung zu ihrem Gefährten Domru, dann auch vornehmlich als Behälter für Metareflexionen über Zeit, Geschichte und Gerechtigkeit. Auch und gerade die Begründung der Zeitreise vermag den Gestalten kaum Konturen zu stiften, denn Altruismus ist zwar löblich, aber kein guter Erzählstoff.
So taucht man nun also hinab in die Vergangenheit, in Gefilde, die Lesern von Trojanows "Weltensammler" (2006) mitunter bekannt vorkommen dürften. Cyas Reisen - bisweilen arbeitet sie auch im Team - skizzieren dabei einerseits die Geschichte des "Kapitalozäns" von seinen kolonialistischen Anfängen in der Karibik bis zu seiner Apokalypse in einem durchseuchten und überhitzten Indien der nahen Zukunft. Alles beginnt somit also - natürlich - auf Inseln, der Brutstätte der Robinsonaden und damit der kapitalistischen Utopie, deren Aufblühen durch ein Bündnis von Sklaven und Piraten verhindert werden soll. Die strategisch-militärische Übermacht der imperialen Kräfte wird jedoch von den Chronautin unterschätzt, der piratische Aufstand scheitert, die Dinge nehmen ihren Lauf. Und Jahrhunderte später stürzt die Erzählung eines globalen Wirtschaftssystems dann in einen Abgrund der Heilsgeschichte. In einer indischen Siebenküstenstadt (es wird Bombay sein) gerät der Ermittler Sebastian da Costa bei der Aufklärung eines Mordes zwischen die Fronten von Hindutva und Muslimen. Assistiert von Cya, verfolgt er die Spur eines gestohlenen Idols, das Mohammed als letzte Inkarnation Vishnus zeigt: Die Religionen verbinden sich, "das düstere Zeitalter Kaliyuga" geht zu Ende - aber schnell wird deutlich, dass diese Verschmelzung nicht zur Versöhnung aller im "Glauben Gottes", sondern nur zu neuen Machtfragen führt. Abgewendet werden kann eine Eskalation der Gewalt zwischen den Volksgruppen schließlich nur noch dadurch, dass Cya das Bildnis im Meer versenkt - und mit ihm auch jede Aussicht auf eine symbolische Erlösung der Menschheit.
Dementsprechend bleibt "Tausend und ein Morgen" vor allem ein Roman des Versagens. Versagt bleibt den Toten ihr Recht auf ein gutes Leben, zu dem ihnen auch die Chromatin nicht mehr verhelfen können. Konfrontiert werden die Zeitreisenden nämlich - das ist vielleicht die interessanteste Einsicht dieses Textes - mit dem Umstand, dass jedes Universum "über eine Art Immunsystem" verfügt, "das Fremdkörper abweist und radikale Fliehkräfte nicht zulässt", das also "stabil bleibt, selbst wenn sich wichtige Elemente verschieben". Das ist natürlich bemühte Selbstreflexion: Wer sich einmal in die Logik der Historie verstrickt, der erkennt, dass es nicht um den einen Augenblick geht, an dem sich die Weichen anders stellen ließen - um den vorzeitigen Tyrannenmord etwa -, sondern um Strukturen, die sich nicht einfach reprogrammieren lassen.
Die Chromatin lernen diese Lektion schon sehr früh im Roman, was sie gleichwohl nicht davon abhält, den historischen Moment doch immer wieder aufsuchen und umschreiben zu wollen, insbesondere im letzten und dritten Teil, der die Oktoberrevolution behandelt. Die angestrengt und mehrfach herbeierzählte Ermordung des "neuen Zaren" Lenin, durch die der Sozialismus als antikapitalistische Alternative vor den Tschekisten gerettet werden und damit eine "Vermenschlichung des 20. Jahrhunderts" herbeigeführt werden soll, mündet am Ende in vier Paralleluniversen, vier Zukünfte, von denen nur eine jener humanisierten Wirklichkeit ähnlich sieht - die letzte, die als Zug mit den Zeitreisenden Cya und Samsil in ihre Welt zurückfährt.
Es ist eine Fahrt über ungesichertes Terrain, denn die Route, die aus der Geschichte in die Nachgeschichte führt, bleibt erwartungsgemäß verschwommen. Immer deutlicher wird im Verlauf des Textes, dass die Chronautin das Zustandekommen ihrer eigenen Gesellschaftsform aus dem historischen Material, das sie umschreiben wollen, überhaupt nicht begründen können. So, wie sich Zeit und Zeitlosigkeit niemals berühren, so bleibt auch der Kosmos, den die Zeitreisenden der Logik des Mehrwerts entgegenstellen, ein fremder, verdankt er sich doch dem Umstand, "dass die am Umbruch beteiligten Menschen sich den existierenden Mechanismen verweigerten, sich zu Gemeinschaften zusammenschlossen, deren Wirken sie selbst bestimmten, mit eigenen Regeln, die sie untereinander aushandelten, bis sie behutsam zu Einigungen gelangten, während sie sich gegenseitig unter die Arme griffen und immer mehr von ihnen Gier und Geiz aufgaben."
Das ist eine schöne Erzählung, die man da von sich verbreitet - und es schwant Cya und ihren Gefährten, dass es eben nur eine Erzählung ist, dass sie selbst Ausgeburten eines Postulats sind, das kaum mit Leben zu füllen ist. Einer von ihnen, Cyas Geliebter Domru, wird dann auch bei seinen Raumzeitreisen historisch kontaminiert, verfällt in einen insulären Machtrausch und verlässt damit den utopischen Raum.
Es gibt im Grunde keine Position, die in diesem Roman nicht mehrfach gewendet, keinen Begriff, der nicht diskursiviert wird, keinen literarischen Reflektor, den dieser Text nicht nutzt - von der Bibliothek über die von den Genossen abgeschmirgelten Wörter bis hin zur KI, die ihre Sicht auf die erreisten Zeiten in einem eigenen Konvolut abbildet. (Letzteres würde man gerne lesen, erfährt man doch immerhin, dass die KI das "Damalsdortige" für "veraltete Software" hält.) Indessen ist Selbstbefragung kein literarisches Bindemittel. Mögen sich die Expeditoren zu Beginn ihrer Fahrten auch noch so sehr verschwören, dass ihre Berichte "in allen Farben der Plausibilität" nachzukolorieren seien: Ihre Geschichte zerfällt. Es gibt da durchaus schöne Splitter wie den Auftritt Majakowskis, der als futuristischer Dichter die Zukunftswesen als solche zu durchschauen vermag. Anderes bleibt seltsam hölzern, wie der durch eine Manipulation Domrus herbeigeführte Ausflug zu den Olympischen Winterspielen in Sarajevo, an dessen Ende man durch einen "Raum-Zeit-Lag" den Balkankrieg aufschimmern sieht. Viel Sendungsbewusstsein erahnt man dahinter, aber es trägt diesen Roman nicht durch die Geschichte.
Was der Mensch, was Gesellschaft, was Zivilisation sei: Zeitreisen können bei diesen Fragen weiterhelfen, man lese Stapledons "Last and First Men" oder Michel Jeurys "Le temps incertain". "Tausend und ein Morgen" aber verweigert sich sowohl einer konkreten Fragestellung als auch einer Logistik der Aufzeichnung (die es an seine KI delegiert). Freilich ist das Scheitern an der "Geschichtsschreibung" programmatischer Bestandteil jedes Zeitreiseromans. Wer aber von vornherein schon ohne Code, Eigeninteresse und ideologischen Standpunkt in die Vergangenheiten schweift, kehrt immer mit leeren Händen zurück. PHILIPP THEISOHN
Ilija Trojanow: "Tausend und ein Morgen". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2023. 528 S., geb., 30,- Euro.
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[...] weil Trojanow schöne und berührende Assoziationen über den Sinn des Lebens wie Perlen einer Kette aneinanderreiht. ZEIT Wissen 20240216
Rezensent Andreas Platthaus findet es folgerichtig, wenn Ilija Trojanow seinem Weltenbummler-Roman nun ein Buch folgen lässt, in dem es um das Reisen durch die Zeit geht. Mit Figuren aus unterschiedlichen Epochen, Zeitreisenden, und einer KI-Figur verhandelt der Autor laut Platthaus im Sci-Fi-Stil große Momente bzw. Utopien und Theorien der Menschheit im Indien des 18. oder im Sarajewo des späten 20. Jahrhunderts. Der Leser darf dabei gern an H. G. Wells denken, meint Platthaus. Dass Trojanow keinen Thesenroman schreibt, sondern dialogisch arbeitet, findet Platthaus reizvoll. Das Dilemma aller Zeitreisenden, zu wissen, worauf alles hinausläuft, denkt der Autor immer mit, so Platthaus. Insofern ist das Buch halb Märchen, halb Aufklärungsschrift, meint er. Vor allem aber zeugt es von großer Erzählfreude, so der Rezensent.
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