Bret Easton Ellis' meisterhafter neuer Roman erzählt eine traumatische Geschichte: Während seiner eigenen Schulzeit war ein Serienmörder in L.A. eine Bedrohung für die Jugendlichen. Der siebzehnjährige Bret ist in der Oberstufe der exklusiven Buckley Prep School, als ein neuer Schüler auftaucht. Robert Mallory ist intelligent, gutaussehend und charismatisch und zieht Bret magisch an. Bret ist sich sicher, dass Robert ein düsteres Geheimnis hat, und kann dennoch nicht verhindern, dass Robert Teil seiner Freundesgruppe wird. Als der Trawler, ein Serienmörder, der Jugendliche auf bestialische Weise umbringt, immer näher an ihn und seine Clique heranrückt, gerät Bret zunehmend in eine Spirale aus Paranoia und Isolation. Doch wie zuverlässig ist Bret als Erzähler? The Shards ist eine faszinierende Mischung aus Fakten und Fiktion, aus Realität und Fantasie, die auf brillante Weise das emotionale Gefüge von Brets Leben als Siebzehnjähriger auslotet - Sex und Eifersucht, Besessenheit und mörderische Wut. Fesselnd, raffiniert, spannend, eindringlich und oft düster-komisch - The Shards ist ein unnachahmliches Meisterwerk.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.07.2023Die Bücher
des
Sommers
21 Romane, Sachbücher
und Lyrikbände
für die Wochen daheim oder am Strand.
Die Empfehlungen des
SZ-Feuilletons
Bitte gib mir
nur ein Wort
In diesem Buch geht es um Wörter, darum, was sie bedeuten und wer das überhaupt entscheidet. Hauptperson ist Esme Nicoll, Tochter eines der Editoren des ersten Oxford Dictionarys. Als Kind sitzt sie unter seinem Tisch und sammelt Wörter, die weggeschmissen wurden. Als Jugendliche fängt sie an zu hinterfragen, welche Wörter warum nicht hineinkommen – oft solche, die die Lebenswelt von Frauen beschreiben oder von der Unterschicht, oder gar von Frauen aus der Unterschicht („Fotze“). Zur selben Zeit kämpfen die Suffragetten ums Frauenwahlrecht. Esme ist dafür, doch ihre Magd Lizzie sagt dazu: „Das is nichts für Frauen wie sie und mich. Sondern nur was für Ladys mit Geld, und solche Ladys werden immer jemanden haben wollen, der ihnen die Böden schrubbt und die Bettpfannen leert.“ Ein wunderbarer Roman über Macht, Sprache und auch über Liebe. Aber nur ein bisschen, denn: Frauenleben sind voller wichtiger Dinge, und nicht alle davon haben etwas mit einem Mann zu tun.
BARBARA VORSAMER
Komm in
den Garten
Lange bevor „farm to table“ zum eskapistischen Traum für High Performer wurde und urbane Restaurants ihre Gerichte wortkarg ankündigten („Schwarzwurzel / Flusskrebse / Brunnenkresse“), hat Sally Schmitt schon so gekocht. Weil es nahelag, in Kalifornien, wo die Natur alles Köstliche hergibt, im Napa Valley, bevor das eine gefragte Weingegend wurde. Zwei Wochen nachdem sie 2022 mit 90 Jahren starb, erschien das Kochbuch, in dem sie ihr Frauenleben entlang verschiedener Küchen erzählt, etwa der ihres berühmten Familienbetriebs „The French Laundry“. Dass die französisch-mexikanisch-asiatische „California Cuisine“ längst auch in Europa groß ist, muss man nicht wissen, um genussvoll der Vorstellung nachzuhängen, mit Sally einen Kräutergarten am Pazifik zu bewirtschaften. Oder eine kalifornische Großmutter zu haben, die einen mahnt, das Geschirr vor dem Kochen zu waschen, und daran erinnert, dass im Leben alles besser wird, wenn genug Butter dran ist.
MARIE SCHMIDT
Sehen und
darüber schreiben
Eigentlich ist eine Generallobpreisung der Autorin Manja Präkels mehr als überfällig, aber das wäre ihr erstens mutmaßlich unangenehm, und es würde zweitens der Platz hier nicht reichen, also sei jetzt erst einmal locker vom Hocker „Welt im Widerhall oder war das eine Plastiktüte?“ empfohlen. Diesen Band durchaus politischer, dabei erstaunlich poetischer Essays gibt es im Grunde nur, weil Präkels’ Roman „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ (erschienen ebenfalls im Verbrecher-Verlag) so erfolgreich war und sie deswegen so viel unterwegs. Man sitzt herum, an Bahnhöfen oder in Zügen, und das ist nun rückblickend ein Glück, weil Präkels es als eine der wenigen schafft, ohne jedes Geschrei und ohne jeden Selbstdarstellungseifer über den Osten zu schreiben, nicht nur den deutschen. Das klingt dann so wie in dem Essay „Hasshasenangst“, der beginnt mit dem fast erschütternd schlichten Satz „Was geschieht, das können alle sehen“ – und an dessen Ende man denkt: Schlimm genug, was alles so geschieht und gesehen wird; aber ein kleiner Segen immerhin, dass es auch aufgeschrieben nachzulesen steht wie bei Manja Präkels.
CORNELIUS POLLMER
Und dann verglüht
der Star
Wenn man 17 ist, wankt der Boden ja sowieso ganz grundsätzlich, und als sich herausstellt, dass Akaris Idol einen Fan geschlagen haben soll, darf man mit der Ich-Erzählerin 124 Seiten lang ins Bodenlose stürzen. Wie bitteschön Halt finden, wenn der Popstar ständig mit Blogeinträgen verteidigt, die Mutter beruhigt, die Schwester abgewehrt und die Kneipengäste bedient werden müssen? „Idol in Flammen“ von der japanischen Schriftstellerin Rin Usami, Jahrgang 1999, ist ein kleiner, rasanter und weiser Roman darüber, wie man sich möglichst stabil in der Welt einrichtet.
LAURA HERTREITER
Mehr Schatten als
glitzerndes Licht
Stadt der Träume? Stadt der Albträume. Nach einem blutigen Bandenkrieg in Teil eins von Don Winslows Gangstertrilogie („City on Fire“, 2022) bewahrheitet sich in Teil zwei: Geschichte wiederholt sich immer, erst als Tragödie, dann als Farce. Hollywood will einen Film über das Leben des Romanhelden Danny Ryan machen, seine blutigen Erlebnisse im Kampf gegen die italienische Mafia in Providence, Rhode Island, Mitte der Achtzigerjahre nacherzählen. Dannys Crew möchte gern mitmischen im Filmrummel, merkt aber schnell, dass es in Los Angeles mehr Schatten gibt als glitzerndes Licht. Eine Desillusionierungsgeschichte im typischen Stakkato-Ton Don Winslows, schnell, hart, erbarmungslos. In den schäbigen Motels rund um die großen Studios warten übermüdete Mütter darauf, ihre Kinder bei einem Casting unterzubringen, und auch ganz oben in Hollywood herrscht vor allem: Angst und Einsamkeit. Nächstes Jahr erscheint dann der letzte Teil: „City of Ashes“.
DAVID STEINITZ
Das Leben,
ungeschönt
Vergewaltigung und Magersucht, Fehlgeburten und Unfruchtbarkeit, das klingt nicht nach Sommerlektüre. Doch die so starken, weil bitter ehrlichen Essays, die Emilie Pine, Jahrgang 1977 und Professorin für „Modern Drama“ aus Dublin, in ihrem Band „Botschaften an mich“ zusammenbindet, erzählen aus dem Leben einer modernen Frau, ihrem eigenen Leben, und berühren den Leser, ohne dabei je ins Kitschwasser abzudriften. Das autobiografische Schreiben sei ein Kraftakt gewesen, so sagte es Pine 2021 der SZ; lange glaubte sie, das Manuskript ohnehin nie zu veröffentlichen. „Wir schweigen lieber, aus Scham und aus Taktgefühl, damit wir niemanden verletzen. Denn wir Frauen sind es gewohnt, die Gefühle von anderen wichtiger zu nehmen als unsere eigenen.“ Zu Recht wurde Pine 2018 mit diesem, ihrem ersten nicht akademischen Buch mit dem „Irish Book of the Year“ ausgezeichnet.
JULIA ROTHHAAS
Abschied von
Europa
Er hat schon über das besetzte Frankreich berichtet. 1947 schreibt Andrzej Bobkowski Feuilletons über den Frühling in Paris für die polnische Exilpresse. Er ist 34 Jahre alt, arbeitet in einer Fahrradwerkstatt. Sein leichter Ton enthält manchen Spott, dann wird er bitterer. Damit, dass Westeuropa sich mit dem in Jalta beschlossenen „Stummel-Europa“ abfindet, mag er sich nicht abfinden. Sein Abschied von Europa führt ihn nach Guatemala. Die Atlantik-Passage, die Ankunft, seine neue Welt beschreibt er, den Abschied begründet er. In Guatemala lebt er vom Modellflugzeugbau. Nur Autor wollte er nie sein. 1957 wird ein Tumor diagnostiziert, 1961 wird er ihm erliegen. Aufzeichnungen, in denen er über den Tod reflektiert, sind in diesen Band aufgenommen. Wer ihn nicht liest, dem entgeht viel.
LOTHAR MÜLLER
Bloß nicht anhalten,
nachdenken, reden
Ferien zu zweit, ein Mietwagen, Sizilien. Was nach besten Voraussetzungen für eine erholsame Zeit klingt, wird für Melvil und Luisa zum Albtraum. Und das, noch bevor ihr Luxusurlaub überhaupt begonnen hat. Auf der Fahrt vom Flughafen ins Hotel – es ist schon dunkel – ein kurzer Stop am Meer, dann kommt es zu einem dumpfen Aufprall. Was Melvil da genau gerammt hat, finden die beiden nicht heraus. Sie fahren nach einem kurzen Halt einfach weiter. Immer weiter.
Dieses Mantra verfolgt der Protagonist in Yves Raveys Roman „Taormina“ konsequent: bloß nicht anhalten, nachhaken, reden. Lieber ignorieren, schließlich will man ja Urlaub machen. In bester Krimi-noir-Art manövriert sich Melvil, ein grandioser Taugenichts, der von der wohlhabenden Familie seiner Frau schmarotzt, immer weiter ins Schlamassel. Und offenbart, wo das eigentliche Problem liegt. Das erinnert an das grauenvolle Idyll von „White Lotus“, nur dass Ravey kein Wort zu viel verliert, es ist ein ganz schmales Buch, nüchtern im Ton. Und genau deshalb verstörend gute Sommerlektüre.
CAROLIN GASTEIGER
Ein Tag in
Jerusalem
Ein Halbwaise, der fast ertrinkt, ein arabischer Müllmann, der vielleicht gar nicht so stumm ist, wie er tut. Eine Kanadierin, die sich von ihren Eltern emanzipieren möchte, ein deutscher Holocaust-Überlebender, der nicht mehr Hans heißen will, und ein Schreiner, der in einer Konditorei aushilft: Diese Geschichten webt Dori Pinto eher lose zusammen, eine Straße nahe dem alten Bahnhof Jerusalems und ein Tag müssen als Verbindung reichen: der 16. Juli 1969, an dem die Apollo 11 Richtung Mond startete. Doch was Halbwaise Charlie in einem Brief seines toten Vaters liest, gilt auch für Pintos Schnappschuss von Jerusalem kurz nach dem Sechstagekrieg: „Wie gerade die scheinbar marginalen Kleinigkeiten besonders wichtig sein können und wie gerade sie die großen Dinge verdeutlichen, die anders gar nicht zu begreifen sind.“
MORITZ BAUMSTIEGER
Das Unbegreifliche
klingt ganz nah
Stellen Sie sich vor, Sie sind auf der Suche nach einem Buch für den Sommer und ein etwas untertouriger Literaturredakteur drückt Ihnen ein Holocaust-Memoir in die Hand. In genauso einer Situation sind Sie hier gelandet, herzlich willkommen. Cordelia Edvardson wurde 1929 in München geboren und später nach Auschwitz deportiert. Sie überlebte das Vernichtungslager, weil sie für Joseph Mengele als Schreibkraft arbeiten konnte. Das Bestürzende an ihrem exzellent geschriebenen Rückblick auf ihre Zeit am Nullpunkt der Zivilisation sind aber gar nicht nur die Szenen im Lager selbst. Es sind zumindest auch die frühen Kontakte mit der Rassenbürokratie, die freundlichen Befragungen bezüglich der Frage, warum sie eigentlich ihren Judenstern nicht trage und ob sie bitte hier und da unterschreiben könne. Der Hanser-Verlag hat dieses überwältigende Buch jetzt von der glänzenden Ursel Allenstein neu übersetzen lassen, das Ferne und das Unbegreifliche klingen bei ihr nah und klar.
FELIX STEPHAN
Nichts als
Gedichte
„Der ewige Brunnen“ ist seit 1955 das poetische Hausbuch der Deutschen, immer wieder modernisiert und entnazifiziert. Jetzt hat der Dichter und Germanist Dirk von Petersdorff diesen Band neu und nach ewigmenschlichen Rubriken geordnet („Lebenskunst“, „Vergänglichkeit“, „Glauben und Zweifel“) und neues poetisches Leben neben das alte gepflanzt. Also darf Udo Lindenberg mit Neidhart von Reuental singen, Judith Holofernes mit Theodor Storm auftreten und Sven Regener sein Prenzlberg-Sommereis-Lied in der Nachbarschaft von Friederike Mayröcker anstimmen. Das ist ja der Reiz von Lyrik-Anthologien: Dichter, die man sonst nie miteinander vergleichen würde, stehen beieinander, weil sie das gleiche Lied haben. Das Hausinventar bleibt unberührt: die „Glocke“ ist drin, das Wichtigste von Rilke, der Radwechsel von Brecht, aber mit einer perspektivverschobenen Gegenstrophe von Yaak Karsunke hintendran. So ist das Buch, so ist die Poesie: Man findet zum Glück kein Ende.
HILMAR KLUTE
Zeitreise mit
Wwwusch
Dieses Buch spielt 1912 und 2020 auf der Erde, und 2401 auf dem Mond. Es geht um Straßenmusiker, eine obskure Behörde und britische Adelige. Zeitreise-Erzählungen zwirbeln Lesern ja oft Knoten ins Hirn. Diese Geschichte aber ist nicht nur meisterhaft in sich selbst gefaltet, sondern auch um die Autorin, die als Figur darin auftaucht: als Schriftstellerin, die mit einem Pandemie-Roman im Jahr 2203 einen Überraschungserfolg landet (genau wie Emily St. John Mandel 2014 mit ihrem postapokalyptischen Roman „Station Eleven“, der von HBO als Serie verfilmt wurde). Dieses Buch ist halb „Inception“, halb „Matrix“, einziger Special Effect ist die Erzählkunst der Autorin. Am Ende löst sich der Knoten zum „Wwwusch“ eines startenden Raumschiffs. Was für ein Vergnügen!
KAROLINE META BEISEL
Im Schloss mit
Journalisten
Was verbindet Markus Wolf mit Willy Brandt? Na klar, der eine hat als Chef der DDR-Auslandsaufklärung einen Spion, Günter Guillaume, auf den andren angesetzt und ihn damit als Bundeskanzler gestürzt. Aber es gibt noch mehr. Beide waren 1945/46 als Journalisten in Nürnberg, um über die Kriegsverbrecherprozesse gegen Rudolf Heß, Hermann Göring, Julius Streicher und andere Nazi-Größen zu berichten – Wolf für die Berliner Zeitung, Brandt für das Arbeiderbladet in Oslo. Beide lebten im Pressecamp Schloss Stein monatelang Seite an Seite. Uwe Neumahr erhellt dieses faszinierende Kapitel der Nürnberger Prozesse. Wie krass unterschiedlich Wolf, Brandt, John Dos Passos, Erika Mann oder Erich Kästner auf den Prozess blickten. Tagsüber konkurrierten sie um die schnellste Nachricht, den interessantesten Blick. Abends verzweifelten, tranken, feierten und liebten sie im Schloss Faber-Castell. Wer sonst keine Sachbücher liest, sollte hier eine Ausnahme machen.
WOLFGANG KRACH
Essen, lieben und
morden in Rom
Könnte man Rom auf Flaschen ziehen und zur Essenz verdichten, dann müsste am Ende ein Buch wie Carlo Emilio Gaddas Kriminalroman „Die grässliche Bescherung in der Via Merulana“ herauskommen. Jetzt, fünfzig Jahre nach dem Tod seines genialen Autors, hat der Wagenbach-Verlag dieses Hauptwerk der italienischen Moderne neu herausgebracht. Wie in archäologischen Schichten überlagern sich hier die Sprachen, Zeiten und sozialen Klassen der Stadt, vom Mythos bis zum Dialekt, vom Alten Rom bis zum Faschismus, vom Hungerleider bis zur Gräfin. In der Mitte ruht der träge, schlaue Kommissar Ingravallo, der diesen „Pasticciaccio“ kriminalistisch und philosophisch zu durchdringen versucht, mit Freud und Leibniz im Gepäck, mit Poe und Vergil, mit unnachsichtigem Blick auf einsame Frauen und noch einsamere Herren, die schönen Römern und Römerinnen verfallen. Augenlust, Körperlust, Lust am Essen und vor allem grenzenlose Lust an allen Formen der Sprache feiern hier ein üppiges Fest. Die Übersetzung von Toni Kienlechner behauptet sich glanzvoll. Es soll aber auch Menschen geben, die nur wegen dieses Buches angefangen haben, Italienisch zu lernen.
GUSTAV SEIBT
Pause vom
Wichtigtun
Wer für ein entspanntes Zwischen-den-Seiten-Versinken im Urlaub nicht genug Ruhe hat, wegen Kindern oder Weltschmerz oder beidem, neigt zum Kitsch. Möglichst doppelbödig und gebrochen sollte die Urlaubslektüre sein, aber bitte auch: tröstend. Ein solches Buch ist „Panikherz“, die Autobiografie von Benjamin von Stuckrad-Barre. Der schrieb zuletzt in „Noch wach?“ zum Beispiel, „MEINUNGSFREIHEIT“ bedeute eben auch „Deinungsfreiheit“, haha, aber weil es codiert um einen wichtigen Ex-Kumpelfreund des Autors ging, musste man das leider auch lesen. Was, fragte man sich bei der halbwachen Noch-Wach-Lektüre, würde Udo zu den geschilderten und schreiberisch performierten Wichtigtuereien sagen, Udo Lindenberg, die heimliche Hauptfigur, der wahre Freund, das schnodderig-cool säuselnde Erlösungs-Du von „Panikherz“? Besonders schön liest sich das Buch, wenn man es hört – also ihn, den Autor im Hörbuch, wie er seinen Udo imitiert, mit so viel Zärtlichkeit, dass man daraus mehr als ein Buch hätte machen können.
PHILIPP BOVERMANN
Urlaub im
Unterholz
Nein, handlich ist dieses Buch nicht und deshalb vielleicht eine ungewöhnliche Empfehlung für Sommer, Reisen, Rucksack, Strand. „Die verlorenen Wörter“ ist ein großformatiger, von der Künstlerin Jackie Morris farbig illustrierter Prachtband. Nicht dick, aber hoch, sperrig, und gerade deshalb vermittelt es schon physisch, was Robert Macfarlanes Gedichte wollen: erinnern, sich bemerkbar machen, Vergissmeinnicht rufen. Macfarlane, einer der Großen des Nature Writing, beschwört Naturnamen, die, so seine Sorge, aus dem Wortschatz der nachwachsenden Generationen verschwinden: Brombeere, Natter, Kastanie, Heidekraut, Otter, Wiesel, Star. Zu jedem steht hier ein Gedicht, toll aus dem Englischen übertragen von Daniela Seel, das längst nicht nur naturromantisch ist, sondern lautmalerisch, widerständig, witzig, wehmütig: „Natter ist, wie Natter zischt.“ Ein Buch, das den Blick fürs Kleine schärft, fürs Übersehene.
KATHLEEN HILDEBRAND
Flimmernd in
griechischer Hitze
Drei Schwestern, ein Dorf in der Nähe von Athen. Es sind die späten 1930er-Jahre, die Sommer sind lang und sie sind heiß, die Ziegen müssen gemolken werden, genauso dringend müssen die Schwestern ihre Zukunft diskutieren, die ihnen eigentlich so deutlich vorgezeichnet ist. Maria will heiraten, Infanta und Erzählerin Katerina träumen, es ihrer berüchtigten Großmutter gleichzutun, die einst mit einem Musiker durchbrannte. Schwer zu glauben, dass die griechische Autorin Margarita Liberaki „Drei Sommer“ schon 1946 veröffentlichte, denn diese Coming-of-Age-Geschichte ist voller schnellen Witzes und stürmischer Figuren, flirrend vor Sehnsucht. Kein bisschen kitschig, auch wenn das Cover anderes vermuten lässt.
CHRISTIANE LUTZ
Süchtig nach
der Sehnsucht
Diese Sommerdämmrigkeit, wenn die Sonne auf den Kopf knallt, die Menschen und Schirme vor den Augen zu flimmern beginnen, und sich das eigene Dasein allmählich im Schweiß auflöst, passt wie kein anderer Zustand zum Roman der israelischen Schriftstellerin Zeruya Shalev. Darin erzählt sie von einer jungen Frau, die eine Liebesbeziehung mit einem älteren Mann beginnt, die niemanden glücklich macht, nicht sie, nicht den Mann, nicht den Leser, aber die mit so viel Erotik, Schwung und Kommata geschrieben ist, dass man trotz aller Abgründe, trotz Kopfschüttel-Reflex mitgerissen wird in die Sehnsüchte eines jungen Lebens. Die Sehnsucht wird zur Sucht, von der die Protagonistin Ja’ara nicht mehr loskommt, „weil alles, was weniger war als das, mich nicht mehr begeistern würde“. Flirrend, unerhaben und poetisch rasen die Seiten vorbei und wie am Ende eines guten Sommers fragt man am Ende dieses Buchs: Was, schon vorbei?
MARLENE KNOBLOCH
Horror in
Hollywood
Im Los Angeles der Achtzigerjahre geht ein Serienkiller um. Der junge Bret Ellis, der gerade mit seinem Erstlingswerk „Unter Null“ begonnen hat, glaubt, diesen Killer in seinem neuen Mitschüler auf der Buckley Highschool erkannt zu haben – dem so dämonischen wie rasend gut aussehenden Robert Mallory. Für den Schriftsteller Bret Easton Ellis schließt sich mit diesem gewaltigen (auch gewaltig dicken) Roman ein Kreis: Fast 40 Jahre nach seinem gefeierten Debüt kehrt er zurück an den Ort des Geschehens, zu den Rich Kids von Beverly Hills, zu Kokain, Mercedes-Cabrios und innerer Leere, dem Soundtrack der Achtziger, zu homosexuellen und (irre lustlosen) heterosexuellen Begegnungen. Von einer Handlung kann nicht die Rede sein, das macht aber nichts, denn der Roman entwickelt einen dunklen Sog, der Thriller-Potenzial hat. All dies selbstverständlich mit klirrender Kälte erzählt. Fazit: Selten hat man so gerne viel Zeit mit wahnsinnig unangenehmen Menschen verbracht.
TANJA REST
Philosophieren
in der Sonne
Es ist eines der großen Missverständnisse, dass es unmöglich ist, etwas Anspruchsvolleres zu lesen, während einem im Urlaub die Sonne den Verstand ansengt. Bei philosophischen Büchern zum Beispiel, in denen es ja darum geht, neu und anders zu denken, kann es manchmal sogar ideal sein. In seinem letzten Buch „Pragmatismus als Antiautoritarismus“ plädiert der 2007 verstorbene amerikanische Philosoph Richard Rorty dafür, die Suche nach dem Unbedingten und Erhabenen von der Suche nach Gerechtigkeit und Glück streng zu trennen. Man darf ihn sich dabei aber auf keinen Fall als Kulturkämpfer vorstellen, von denen es gerade ja ein paar zu viele gibt, sondern eher als menschenfreundlichen Skeptiker, von denen es nie genug geben kann.
JENS-CHRISTIAN RABE
Bei höchstem
Wellengang
„Ein Schiff wird kommen, in welchem Schiffer sind, die du kennst.“ Diesen Trost bietet ein Geist, der Schlangenmann, vor 4500 Jahren einem ägyptischen Schiffbrüchigen auf einer unbekannten Insel. Der britische Historiker David Abulafia zitiert den alten Papyrustext in seiner monumentalen Weltgeschichte der Ozeane. Blendend geschrieben, ein Füllhorn des Wissens und durchweg spannend trotz seiner mehr als 1000 Seiten, wurde es deutsches Wissenschaftsbuch 2022. Abulafia vermeidet die übliche eurozentrische Sicht der Seefahrt und entwirft ein Bild vom Meer, das trotz aller Kriege die Kulturen weniger trennt als vielmehr verbindet. Dafür steht auch die Geschichte vom Schlangenmann samt Happy End: „Du umarmst deine Kinder und küsst deine Frau und siehst dein Haus wieder – sie sind das Beste von allem.“ Ideal für den Urlaub am Meer und viel Lesezeit – allerdings müssen Freunde des Analogen den ziegelsteinschweren Wälzer an den Strand schleppen.
JOACHIM KÄPPNER
Pip Williams:
Die Sammlerin der verlorenen Wörter;
aus dem Englischen von Christiane Burkhardt. Diana Verlag, 2022,
528 Seiten, 22 Euro.
Illustration: Lennart Menkhaus c/o kombinatrotweiss.de / Instagram: @lennartmenkhaus, @kombinatrotweiss_illustration
Sally Schmitt:
Six California
Kitchens. Chronicle Books, San Francisco 2022, 352 Seiten, 33,99 Euro.
Manja Präkels:
„Welt im Widerhall oder war das eine Plastiktüte?“ Essays. Verbrecher Verlag, Berlin 2022.
192 Seiten, 19 Euro.
Rin Usami:
Idol in Flammen. Roman. Aus dem Japanischen von
Luise Steggewentz. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023.
128 Seiten, 18 Euro.
Don Winslow:
„City of Dreams“.
Aus dem Amerikanischen von Conny Lösch.
Harper Collins,
Hamburg, 2023.
368 Seiten, 24 Euro.
Emilie Pine:
Botschaften an mich selbst. Essays.
Aus dem Englischen von Cornelia Röser.
Btb, München 2022. 224 Seiten, 11 Euro.
Andrzej Bobkowski: Hinter dem
Wendekreis. Aus dem Polnischen von
Ron Mieczkowski.
Die Andere Bibliothek, Berlin 2023.
384 Seiten, 44 Euro.
Yves Ravey:
Taormina. Aus dem Französischen von Holger Fock und
Sabine Müller.
Liebeskind,
München 2023.
112 Seiten, 20 Euro.
Dori Pinto:
Der Mond über
Jerusalem. Roman.
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Kein und Aber,
Zürich 2022,
336 Seiten, 25 Euro.
Cordelia Edvardson: Gebranntes Kind
sucht das Feuer. Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein.
Carl Hanser Verlag, München 2023.
145 Seiten, 22 Euro.
Der ewige Brunnen. Deutsche Gedichte aus zwölf Jahrhunderten. Herausgegeben von
Dirk von Petersdorff.
C.H. Beck Verlag,
München 2023.
1167 Seiten, 28 Euro.
Emily St. John Mandel: Das Meer der
endlosen Ruhe. Aus dem Amerikanischen von Bernhard Robben. Ullstein Verlag,
Berlin 2023. 288 Seiten, 23 Euro. Erscheint
auf Deutsch am
27. Juli 2023.
Uwe Neumahr:
Das Schloss der
Schriftsteller.
Sachbuch. C.H. Beck, München 2023.
304 Seiten, 26 Euro.
Carlo Emilio Gadda:
Die grässliche Bescherung in der Via Merulana.
Krimi. Aus dem
Italienischen von Toni
Kienlechner.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2023. 352 Seiten,
26 Euro.
Benjamin von Stuckrad-Barre: Panikherz.
Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016.
576 Seiten, 22,99 Euro.
Robert Macfarlane und Jackie Morris:
Die verlorenen
Wörter. Aus dem Englischen von
Daniela Seel.
Matthes & Seitz,
Berlin 2018.
134 Seiten, 38 Euro.
Margarita Liberaki: Drei Sommer. Roman. Aus dem Griechischen von Michaela
Prinzinger. Arche
Literatur Verlag,
Hamburg 2021.
388 Seiten, 24 Euro.
Zeruya Shalev:
Liebesleben.
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Berliner Taschenbuchverlag, Berlin 2001.
384 Seiten, 12 Euro.
Bret Easton Ellis:
The Shards. Roman. Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023.
736 Seiten, 28 Euro.
Richard Rorty:
Pragmatismus als
Antiautoritarismus.
Aus dem Englischen
von Joachim Schulte. Suhrkamp, Berlin 2023. 454 Seiten, 34 Euro.
David Abulafia:
Das unendliche
Meer. Sachbuch. Aus dem Englischen von Michael Bischoff und Laura Su Bischoff. Fischer Verlag,
Frankfurt 2021. 1168
Seiten, 68 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
des
Sommers
21 Romane, Sachbücher
und Lyrikbände
für die Wochen daheim oder am Strand.
Die Empfehlungen des
SZ-Feuilletons
Bitte gib mir
nur ein Wort
In diesem Buch geht es um Wörter, darum, was sie bedeuten und wer das überhaupt entscheidet. Hauptperson ist Esme Nicoll, Tochter eines der Editoren des ersten Oxford Dictionarys. Als Kind sitzt sie unter seinem Tisch und sammelt Wörter, die weggeschmissen wurden. Als Jugendliche fängt sie an zu hinterfragen, welche Wörter warum nicht hineinkommen – oft solche, die die Lebenswelt von Frauen beschreiben oder von der Unterschicht, oder gar von Frauen aus der Unterschicht („Fotze“). Zur selben Zeit kämpfen die Suffragetten ums Frauenwahlrecht. Esme ist dafür, doch ihre Magd Lizzie sagt dazu: „Das is nichts für Frauen wie sie und mich. Sondern nur was für Ladys mit Geld, und solche Ladys werden immer jemanden haben wollen, der ihnen die Böden schrubbt und die Bettpfannen leert.“ Ein wunderbarer Roman über Macht, Sprache und auch über Liebe. Aber nur ein bisschen, denn: Frauenleben sind voller wichtiger Dinge, und nicht alle davon haben etwas mit einem Mann zu tun.
BARBARA VORSAMER
Komm in
den Garten
Lange bevor „farm to table“ zum eskapistischen Traum für High Performer wurde und urbane Restaurants ihre Gerichte wortkarg ankündigten („Schwarzwurzel / Flusskrebse / Brunnenkresse“), hat Sally Schmitt schon so gekocht. Weil es nahelag, in Kalifornien, wo die Natur alles Köstliche hergibt, im Napa Valley, bevor das eine gefragte Weingegend wurde. Zwei Wochen nachdem sie 2022 mit 90 Jahren starb, erschien das Kochbuch, in dem sie ihr Frauenleben entlang verschiedener Küchen erzählt, etwa der ihres berühmten Familienbetriebs „The French Laundry“. Dass die französisch-mexikanisch-asiatische „California Cuisine“ längst auch in Europa groß ist, muss man nicht wissen, um genussvoll der Vorstellung nachzuhängen, mit Sally einen Kräutergarten am Pazifik zu bewirtschaften. Oder eine kalifornische Großmutter zu haben, die einen mahnt, das Geschirr vor dem Kochen zu waschen, und daran erinnert, dass im Leben alles besser wird, wenn genug Butter dran ist.
MARIE SCHMIDT
Sehen und
darüber schreiben
Eigentlich ist eine Generallobpreisung der Autorin Manja Präkels mehr als überfällig, aber das wäre ihr erstens mutmaßlich unangenehm, und es würde zweitens der Platz hier nicht reichen, also sei jetzt erst einmal locker vom Hocker „Welt im Widerhall oder war das eine Plastiktüte?“ empfohlen. Diesen Band durchaus politischer, dabei erstaunlich poetischer Essays gibt es im Grunde nur, weil Präkels’ Roman „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ (erschienen ebenfalls im Verbrecher-Verlag) so erfolgreich war und sie deswegen so viel unterwegs. Man sitzt herum, an Bahnhöfen oder in Zügen, und das ist nun rückblickend ein Glück, weil Präkels es als eine der wenigen schafft, ohne jedes Geschrei und ohne jeden Selbstdarstellungseifer über den Osten zu schreiben, nicht nur den deutschen. Das klingt dann so wie in dem Essay „Hasshasenangst“, der beginnt mit dem fast erschütternd schlichten Satz „Was geschieht, das können alle sehen“ – und an dessen Ende man denkt: Schlimm genug, was alles so geschieht und gesehen wird; aber ein kleiner Segen immerhin, dass es auch aufgeschrieben nachzulesen steht wie bei Manja Präkels.
CORNELIUS POLLMER
Und dann verglüht
der Star
Wenn man 17 ist, wankt der Boden ja sowieso ganz grundsätzlich, und als sich herausstellt, dass Akaris Idol einen Fan geschlagen haben soll, darf man mit der Ich-Erzählerin 124 Seiten lang ins Bodenlose stürzen. Wie bitteschön Halt finden, wenn der Popstar ständig mit Blogeinträgen verteidigt, die Mutter beruhigt, die Schwester abgewehrt und die Kneipengäste bedient werden müssen? „Idol in Flammen“ von der japanischen Schriftstellerin Rin Usami, Jahrgang 1999, ist ein kleiner, rasanter und weiser Roman darüber, wie man sich möglichst stabil in der Welt einrichtet.
LAURA HERTREITER
Mehr Schatten als
glitzerndes Licht
Stadt der Träume? Stadt der Albträume. Nach einem blutigen Bandenkrieg in Teil eins von Don Winslows Gangstertrilogie („City on Fire“, 2022) bewahrheitet sich in Teil zwei: Geschichte wiederholt sich immer, erst als Tragödie, dann als Farce. Hollywood will einen Film über das Leben des Romanhelden Danny Ryan machen, seine blutigen Erlebnisse im Kampf gegen die italienische Mafia in Providence, Rhode Island, Mitte der Achtzigerjahre nacherzählen. Dannys Crew möchte gern mitmischen im Filmrummel, merkt aber schnell, dass es in Los Angeles mehr Schatten gibt als glitzerndes Licht. Eine Desillusionierungsgeschichte im typischen Stakkato-Ton Don Winslows, schnell, hart, erbarmungslos. In den schäbigen Motels rund um die großen Studios warten übermüdete Mütter darauf, ihre Kinder bei einem Casting unterzubringen, und auch ganz oben in Hollywood herrscht vor allem: Angst und Einsamkeit. Nächstes Jahr erscheint dann der letzte Teil: „City of Ashes“.
DAVID STEINITZ
Das Leben,
ungeschönt
Vergewaltigung und Magersucht, Fehlgeburten und Unfruchtbarkeit, das klingt nicht nach Sommerlektüre. Doch die so starken, weil bitter ehrlichen Essays, die Emilie Pine, Jahrgang 1977 und Professorin für „Modern Drama“ aus Dublin, in ihrem Band „Botschaften an mich“ zusammenbindet, erzählen aus dem Leben einer modernen Frau, ihrem eigenen Leben, und berühren den Leser, ohne dabei je ins Kitschwasser abzudriften. Das autobiografische Schreiben sei ein Kraftakt gewesen, so sagte es Pine 2021 der SZ; lange glaubte sie, das Manuskript ohnehin nie zu veröffentlichen. „Wir schweigen lieber, aus Scham und aus Taktgefühl, damit wir niemanden verletzen. Denn wir Frauen sind es gewohnt, die Gefühle von anderen wichtiger zu nehmen als unsere eigenen.“ Zu Recht wurde Pine 2018 mit diesem, ihrem ersten nicht akademischen Buch mit dem „Irish Book of the Year“ ausgezeichnet.
JULIA ROTHHAAS
Abschied von
Europa
Er hat schon über das besetzte Frankreich berichtet. 1947 schreibt Andrzej Bobkowski Feuilletons über den Frühling in Paris für die polnische Exilpresse. Er ist 34 Jahre alt, arbeitet in einer Fahrradwerkstatt. Sein leichter Ton enthält manchen Spott, dann wird er bitterer. Damit, dass Westeuropa sich mit dem in Jalta beschlossenen „Stummel-Europa“ abfindet, mag er sich nicht abfinden. Sein Abschied von Europa führt ihn nach Guatemala. Die Atlantik-Passage, die Ankunft, seine neue Welt beschreibt er, den Abschied begründet er. In Guatemala lebt er vom Modellflugzeugbau. Nur Autor wollte er nie sein. 1957 wird ein Tumor diagnostiziert, 1961 wird er ihm erliegen. Aufzeichnungen, in denen er über den Tod reflektiert, sind in diesen Band aufgenommen. Wer ihn nicht liest, dem entgeht viel.
LOTHAR MÜLLER
Bloß nicht anhalten,
nachdenken, reden
Ferien zu zweit, ein Mietwagen, Sizilien. Was nach besten Voraussetzungen für eine erholsame Zeit klingt, wird für Melvil und Luisa zum Albtraum. Und das, noch bevor ihr Luxusurlaub überhaupt begonnen hat. Auf der Fahrt vom Flughafen ins Hotel – es ist schon dunkel – ein kurzer Stop am Meer, dann kommt es zu einem dumpfen Aufprall. Was Melvil da genau gerammt hat, finden die beiden nicht heraus. Sie fahren nach einem kurzen Halt einfach weiter. Immer weiter.
Dieses Mantra verfolgt der Protagonist in Yves Raveys Roman „Taormina“ konsequent: bloß nicht anhalten, nachhaken, reden. Lieber ignorieren, schließlich will man ja Urlaub machen. In bester Krimi-noir-Art manövriert sich Melvil, ein grandioser Taugenichts, der von der wohlhabenden Familie seiner Frau schmarotzt, immer weiter ins Schlamassel. Und offenbart, wo das eigentliche Problem liegt. Das erinnert an das grauenvolle Idyll von „White Lotus“, nur dass Ravey kein Wort zu viel verliert, es ist ein ganz schmales Buch, nüchtern im Ton. Und genau deshalb verstörend gute Sommerlektüre.
CAROLIN GASTEIGER
Ein Tag in
Jerusalem
Ein Halbwaise, der fast ertrinkt, ein arabischer Müllmann, der vielleicht gar nicht so stumm ist, wie er tut. Eine Kanadierin, die sich von ihren Eltern emanzipieren möchte, ein deutscher Holocaust-Überlebender, der nicht mehr Hans heißen will, und ein Schreiner, der in einer Konditorei aushilft: Diese Geschichten webt Dori Pinto eher lose zusammen, eine Straße nahe dem alten Bahnhof Jerusalems und ein Tag müssen als Verbindung reichen: der 16. Juli 1969, an dem die Apollo 11 Richtung Mond startete. Doch was Halbwaise Charlie in einem Brief seines toten Vaters liest, gilt auch für Pintos Schnappschuss von Jerusalem kurz nach dem Sechstagekrieg: „Wie gerade die scheinbar marginalen Kleinigkeiten besonders wichtig sein können und wie gerade sie die großen Dinge verdeutlichen, die anders gar nicht zu begreifen sind.“
MORITZ BAUMSTIEGER
Das Unbegreifliche
klingt ganz nah
Stellen Sie sich vor, Sie sind auf der Suche nach einem Buch für den Sommer und ein etwas untertouriger Literaturredakteur drückt Ihnen ein Holocaust-Memoir in die Hand. In genauso einer Situation sind Sie hier gelandet, herzlich willkommen. Cordelia Edvardson wurde 1929 in München geboren und später nach Auschwitz deportiert. Sie überlebte das Vernichtungslager, weil sie für Joseph Mengele als Schreibkraft arbeiten konnte. Das Bestürzende an ihrem exzellent geschriebenen Rückblick auf ihre Zeit am Nullpunkt der Zivilisation sind aber gar nicht nur die Szenen im Lager selbst. Es sind zumindest auch die frühen Kontakte mit der Rassenbürokratie, die freundlichen Befragungen bezüglich der Frage, warum sie eigentlich ihren Judenstern nicht trage und ob sie bitte hier und da unterschreiben könne. Der Hanser-Verlag hat dieses überwältigende Buch jetzt von der glänzenden Ursel Allenstein neu übersetzen lassen, das Ferne und das Unbegreifliche klingen bei ihr nah und klar.
FELIX STEPHAN
Nichts als
Gedichte
„Der ewige Brunnen“ ist seit 1955 das poetische Hausbuch der Deutschen, immer wieder modernisiert und entnazifiziert. Jetzt hat der Dichter und Germanist Dirk von Petersdorff diesen Band neu und nach ewigmenschlichen Rubriken geordnet („Lebenskunst“, „Vergänglichkeit“, „Glauben und Zweifel“) und neues poetisches Leben neben das alte gepflanzt. Also darf Udo Lindenberg mit Neidhart von Reuental singen, Judith Holofernes mit Theodor Storm auftreten und Sven Regener sein Prenzlberg-Sommereis-Lied in der Nachbarschaft von Friederike Mayröcker anstimmen. Das ist ja der Reiz von Lyrik-Anthologien: Dichter, die man sonst nie miteinander vergleichen würde, stehen beieinander, weil sie das gleiche Lied haben. Das Hausinventar bleibt unberührt: die „Glocke“ ist drin, das Wichtigste von Rilke, der Radwechsel von Brecht, aber mit einer perspektivverschobenen Gegenstrophe von Yaak Karsunke hintendran. So ist das Buch, so ist die Poesie: Man findet zum Glück kein Ende.
HILMAR KLUTE
Zeitreise mit
Wwwusch
Dieses Buch spielt 1912 und 2020 auf der Erde, und 2401 auf dem Mond. Es geht um Straßenmusiker, eine obskure Behörde und britische Adelige. Zeitreise-Erzählungen zwirbeln Lesern ja oft Knoten ins Hirn. Diese Geschichte aber ist nicht nur meisterhaft in sich selbst gefaltet, sondern auch um die Autorin, die als Figur darin auftaucht: als Schriftstellerin, die mit einem Pandemie-Roman im Jahr 2203 einen Überraschungserfolg landet (genau wie Emily St. John Mandel 2014 mit ihrem postapokalyptischen Roman „Station Eleven“, der von HBO als Serie verfilmt wurde). Dieses Buch ist halb „Inception“, halb „Matrix“, einziger Special Effect ist die Erzählkunst der Autorin. Am Ende löst sich der Knoten zum „Wwwusch“ eines startenden Raumschiffs. Was für ein Vergnügen!
KAROLINE META BEISEL
Im Schloss mit
Journalisten
Was verbindet Markus Wolf mit Willy Brandt? Na klar, der eine hat als Chef der DDR-Auslandsaufklärung einen Spion, Günter Guillaume, auf den andren angesetzt und ihn damit als Bundeskanzler gestürzt. Aber es gibt noch mehr. Beide waren 1945/46 als Journalisten in Nürnberg, um über die Kriegsverbrecherprozesse gegen Rudolf Heß, Hermann Göring, Julius Streicher und andere Nazi-Größen zu berichten – Wolf für die Berliner Zeitung, Brandt für das Arbeiderbladet in Oslo. Beide lebten im Pressecamp Schloss Stein monatelang Seite an Seite. Uwe Neumahr erhellt dieses faszinierende Kapitel der Nürnberger Prozesse. Wie krass unterschiedlich Wolf, Brandt, John Dos Passos, Erika Mann oder Erich Kästner auf den Prozess blickten. Tagsüber konkurrierten sie um die schnellste Nachricht, den interessantesten Blick. Abends verzweifelten, tranken, feierten und liebten sie im Schloss Faber-Castell. Wer sonst keine Sachbücher liest, sollte hier eine Ausnahme machen.
WOLFGANG KRACH
Essen, lieben und
morden in Rom
Könnte man Rom auf Flaschen ziehen und zur Essenz verdichten, dann müsste am Ende ein Buch wie Carlo Emilio Gaddas Kriminalroman „Die grässliche Bescherung in der Via Merulana“ herauskommen. Jetzt, fünfzig Jahre nach dem Tod seines genialen Autors, hat der Wagenbach-Verlag dieses Hauptwerk der italienischen Moderne neu herausgebracht. Wie in archäologischen Schichten überlagern sich hier die Sprachen, Zeiten und sozialen Klassen der Stadt, vom Mythos bis zum Dialekt, vom Alten Rom bis zum Faschismus, vom Hungerleider bis zur Gräfin. In der Mitte ruht der träge, schlaue Kommissar Ingravallo, der diesen „Pasticciaccio“ kriminalistisch und philosophisch zu durchdringen versucht, mit Freud und Leibniz im Gepäck, mit Poe und Vergil, mit unnachsichtigem Blick auf einsame Frauen und noch einsamere Herren, die schönen Römern und Römerinnen verfallen. Augenlust, Körperlust, Lust am Essen und vor allem grenzenlose Lust an allen Formen der Sprache feiern hier ein üppiges Fest. Die Übersetzung von Toni Kienlechner behauptet sich glanzvoll. Es soll aber auch Menschen geben, die nur wegen dieses Buches angefangen haben, Italienisch zu lernen.
GUSTAV SEIBT
Pause vom
Wichtigtun
Wer für ein entspanntes Zwischen-den-Seiten-Versinken im Urlaub nicht genug Ruhe hat, wegen Kindern oder Weltschmerz oder beidem, neigt zum Kitsch. Möglichst doppelbödig und gebrochen sollte die Urlaubslektüre sein, aber bitte auch: tröstend. Ein solches Buch ist „Panikherz“, die Autobiografie von Benjamin von Stuckrad-Barre. Der schrieb zuletzt in „Noch wach?“ zum Beispiel, „MEINUNGSFREIHEIT“ bedeute eben auch „Deinungsfreiheit“, haha, aber weil es codiert um einen wichtigen Ex-Kumpelfreund des Autors ging, musste man das leider auch lesen. Was, fragte man sich bei der halbwachen Noch-Wach-Lektüre, würde Udo zu den geschilderten und schreiberisch performierten Wichtigtuereien sagen, Udo Lindenberg, die heimliche Hauptfigur, der wahre Freund, das schnodderig-cool säuselnde Erlösungs-Du von „Panikherz“? Besonders schön liest sich das Buch, wenn man es hört – also ihn, den Autor im Hörbuch, wie er seinen Udo imitiert, mit so viel Zärtlichkeit, dass man daraus mehr als ein Buch hätte machen können.
PHILIPP BOVERMANN
Urlaub im
Unterholz
Nein, handlich ist dieses Buch nicht und deshalb vielleicht eine ungewöhnliche Empfehlung für Sommer, Reisen, Rucksack, Strand. „Die verlorenen Wörter“ ist ein großformatiger, von der Künstlerin Jackie Morris farbig illustrierter Prachtband. Nicht dick, aber hoch, sperrig, und gerade deshalb vermittelt es schon physisch, was Robert Macfarlanes Gedichte wollen: erinnern, sich bemerkbar machen, Vergissmeinnicht rufen. Macfarlane, einer der Großen des Nature Writing, beschwört Naturnamen, die, so seine Sorge, aus dem Wortschatz der nachwachsenden Generationen verschwinden: Brombeere, Natter, Kastanie, Heidekraut, Otter, Wiesel, Star. Zu jedem steht hier ein Gedicht, toll aus dem Englischen übertragen von Daniela Seel, das längst nicht nur naturromantisch ist, sondern lautmalerisch, widerständig, witzig, wehmütig: „Natter ist, wie Natter zischt.“ Ein Buch, das den Blick fürs Kleine schärft, fürs Übersehene.
KATHLEEN HILDEBRAND
Flimmernd in
griechischer Hitze
Drei Schwestern, ein Dorf in der Nähe von Athen. Es sind die späten 1930er-Jahre, die Sommer sind lang und sie sind heiß, die Ziegen müssen gemolken werden, genauso dringend müssen die Schwestern ihre Zukunft diskutieren, die ihnen eigentlich so deutlich vorgezeichnet ist. Maria will heiraten, Infanta und Erzählerin Katerina träumen, es ihrer berüchtigten Großmutter gleichzutun, die einst mit einem Musiker durchbrannte. Schwer zu glauben, dass die griechische Autorin Margarita Liberaki „Drei Sommer“ schon 1946 veröffentlichte, denn diese Coming-of-Age-Geschichte ist voller schnellen Witzes und stürmischer Figuren, flirrend vor Sehnsucht. Kein bisschen kitschig, auch wenn das Cover anderes vermuten lässt.
CHRISTIANE LUTZ
Süchtig nach
der Sehnsucht
Diese Sommerdämmrigkeit, wenn die Sonne auf den Kopf knallt, die Menschen und Schirme vor den Augen zu flimmern beginnen, und sich das eigene Dasein allmählich im Schweiß auflöst, passt wie kein anderer Zustand zum Roman der israelischen Schriftstellerin Zeruya Shalev. Darin erzählt sie von einer jungen Frau, die eine Liebesbeziehung mit einem älteren Mann beginnt, die niemanden glücklich macht, nicht sie, nicht den Mann, nicht den Leser, aber die mit so viel Erotik, Schwung und Kommata geschrieben ist, dass man trotz aller Abgründe, trotz Kopfschüttel-Reflex mitgerissen wird in die Sehnsüchte eines jungen Lebens. Die Sehnsucht wird zur Sucht, von der die Protagonistin Ja’ara nicht mehr loskommt, „weil alles, was weniger war als das, mich nicht mehr begeistern würde“. Flirrend, unerhaben und poetisch rasen die Seiten vorbei und wie am Ende eines guten Sommers fragt man am Ende dieses Buchs: Was, schon vorbei?
MARLENE KNOBLOCH
Horror in
Hollywood
Im Los Angeles der Achtzigerjahre geht ein Serienkiller um. Der junge Bret Ellis, der gerade mit seinem Erstlingswerk „Unter Null“ begonnen hat, glaubt, diesen Killer in seinem neuen Mitschüler auf der Buckley Highschool erkannt zu haben – dem so dämonischen wie rasend gut aussehenden Robert Mallory. Für den Schriftsteller Bret Easton Ellis schließt sich mit diesem gewaltigen (auch gewaltig dicken) Roman ein Kreis: Fast 40 Jahre nach seinem gefeierten Debüt kehrt er zurück an den Ort des Geschehens, zu den Rich Kids von Beverly Hills, zu Kokain, Mercedes-Cabrios und innerer Leere, dem Soundtrack der Achtziger, zu homosexuellen und (irre lustlosen) heterosexuellen Begegnungen. Von einer Handlung kann nicht die Rede sein, das macht aber nichts, denn der Roman entwickelt einen dunklen Sog, der Thriller-Potenzial hat. All dies selbstverständlich mit klirrender Kälte erzählt. Fazit: Selten hat man so gerne viel Zeit mit wahnsinnig unangenehmen Menschen verbracht.
TANJA REST
Philosophieren
in der Sonne
Es ist eines der großen Missverständnisse, dass es unmöglich ist, etwas Anspruchsvolleres zu lesen, während einem im Urlaub die Sonne den Verstand ansengt. Bei philosophischen Büchern zum Beispiel, in denen es ja darum geht, neu und anders zu denken, kann es manchmal sogar ideal sein. In seinem letzten Buch „Pragmatismus als Antiautoritarismus“ plädiert der 2007 verstorbene amerikanische Philosoph Richard Rorty dafür, die Suche nach dem Unbedingten und Erhabenen von der Suche nach Gerechtigkeit und Glück streng zu trennen. Man darf ihn sich dabei aber auf keinen Fall als Kulturkämpfer vorstellen, von denen es gerade ja ein paar zu viele gibt, sondern eher als menschenfreundlichen Skeptiker, von denen es nie genug geben kann.
JENS-CHRISTIAN RABE
Bei höchstem
Wellengang
„Ein Schiff wird kommen, in welchem Schiffer sind, die du kennst.“ Diesen Trost bietet ein Geist, der Schlangenmann, vor 4500 Jahren einem ägyptischen Schiffbrüchigen auf einer unbekannten Insel. Der britische Historiker David Abulafia zitiert den alten Papyrustext in seiner monumentalen Weltgeschichte der Ozeane. Blendend geschrieben, ein Füllhorn des Wissens und durchweg spannend trotz seiner mehr als 1000 Seiten, wurde es deutsches Wissenschaftsbuch 2022. Abulafia vermeidet die übliche eurozentrische Sicht der Seefahrt und entwirft ein Bild vom Meer, das trotz aller Kriege die Kulturen weniger trennt als vielmehr verbindet. Dafür steht auch die Geschichte vom Schlangenmann samt Happy End: „Du umarmst deine Kinder und küsst deine Frau und siehst dein Haus wieder – sie sind das Beste von allem.“ Ideal für den Urlaub am Meer und viel Lesezeit – allerdings müssen Freunde des Analogen den ziegelsteinschweren Wälzer an den Strand schleppen.
JOACHIM KÄPPNER
Pip Williams:
Die Sammlerin der verlorenen Wörter;
aus dem Englischen von Christiane Burkhardt. Diana Verlag, 2022,
528 Seiten, 22 Euro.
Illustration: Lennart Menkhaus c/o kombinatrotweiss.de / Instagram: @lennartmenkhaus, @kombinatrotweiss_illustration
Sally Schmitt:
Six California
Kitchens. Chronicle Books, San Francisco 2022, 352 Seiten, 33,99 Euro.
Manja Präkels:
„Welt im Widerhall oder war das eine Plastiktüte?“ Essays. Verbrecher Verlag, Berlin 2022.
192 Seiten, 19 Euro.
Rin Usami:
Idol in Flammen. Roman. Aus dem Japanischen von
Luise Steggewentz. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023.
128 Seiten, 18 Euro.
Don Winslow:
„City of Dreams“.
Aus dem Amerikanischen von Conny Lösch.
Harper Collins,
Hamburg, 2023.
368 Seiten, 24 Euro.
Emilie Pine:
Botschaften an mich selbst. Essays.
Aus dem Englischen von Cornelia Röser.
Btb, München 2022. 224 Seiten, 11 Euro.
Andrzej Bobkowski: Hinter dem
Wendekreis. Aus dem Polnischen von
Ron Mieczkowski.
Die Andere Bibliothek, Berlin 2023.
384 Seiten, 44 Euro.
Yves Ravey:
Taormina. Aus dem Französischen von Holger Fock und
Sabine Müller.
Liebeskind,
München 2023.
112 Seiten, 20 Euro.
Dori Pinto:
Der Mond über
Jerusalem. Roman.
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Kein und Aber,
Zürich 2022,
336 Seiten, 25 Euro.
Cordelia Edvardson: Gebranntes Kind
sucht das Feuer. Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein.
Carl Hanser Verlag, München 2023.
145 Seiten, 22 Euro.
Der ewige Brunnen. Deutsche Gedichte aus zwölf Jahrhunderten. Herausgegeben von
Dirk von Petersdorff.
C.H. Beck Verlag,
München 2023.
1167 Seiten, 28 Euro.
Emily St. John Mandel: Das Meer der
endlosen Ruhe. Aus dem Amerikanischen von Bernhard Robben. Ullstein Verlag,
Berlin 2023. 288 Seiten, 23 Euro. Erscheint
auf Deutsch am
27. Juli 2023.
Uwe Neumahr:
Das Schloss der
Schriftsteller.
Sachbuch. C.H. Beck, München 2023.
304 Seiten, 26 Euro.
Carlo Emilio Gadda:
Die grässliche Bescherung in der Via Merulana.
Krimi. Aus dem
Italienischen von Toni
Kienlechner.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2023. 352 Seiten,
26 Euro.
Benjamin von Stuckrad-Barre: Panikherz.
Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016.
576 Seiten, 22,99 Euro.
Robert Macfarlane und Jackie Morris:
Die verlorenen
Wörter. Aus dem Englischen von
Daniela Seel.
Matthes & Seitz,
Berlin 2018.
134 Seiten, 38 Euro.
Margarita Liberaki: Drei Sommer. Roman. Aus dem Griechischen von Michaela
Prinzinger. Arche
Literatur Verlag,
Hamburg 2021.
388 Seiten, 24 Euro.
Zeruya Shalev:
Liebesleben.
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Berliner Taschenbuchverlag, Berlin 2001.
384 Seiten, 12 Euro.
Bret Easton Ellis:
The Shards. Roman. Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023.
736 Seiten, 28 Euro.
Richard Rorty:
Pragmatismus als
Antiautoritarismus.
Aus dem Englischen
von Joachim Schulte. Suhrkamp, Berlin 2023. 454 Seiten, 34 Euro.
David Abulafia:
Das unendliche
Meer. Sachbuch. Aus dem Englischen von Michael Bischoff und Laura Su Bischoff. Fischer Verlag,
Frankfurt 2021. 1168
Seiten, 68 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensent Joachim Scholl lässt sich von Bret Easton Ellis keinen Bären aufbinden. Dessen ellenlanges, "larmoyantes" Vorwort zum neuen Roman durchschaut er flugs als "Mumpitz" des von "Slasher"-Fatasien geplagten Autors. Sei's drum. An der verkoksten und verkorksten Szenerie der Luxuskids im Los Angeles der frühen achtziger Jahre, die der Autor hier entwirft und die ein Serienmörder mit seinem Blutrausch aufstört, findet Scholl allemal Gefallen. Wie Ellis ein ums andere Mal in seinen Texten glitzernde Fassaden zum Einsturz bringt, scheint Scholl enorm unterhaltsam.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.01.2023Boulevard der Dämmerung
Total Recall: "The Shards", der
neue Roman von Bret
Easton Ellis, verdichtet seine Werk- und Lebensthemen in der Form eines Albtraums.
Im Herbst 2005 saß Bret Easton Ellis auf dem Podium einer Stadtbibliothek in Neuengland und las aus seinem Roman "Lunar Park". Nach der Lesung fragte jemand, wie autobiographisch das alles sei. Ellis gab sich genervt. Bis vor ein paar Jahren verbot es sich geradezu, Schriftsteller nach dem Wahrheitsgehalt ihrer Werke zu fragen. Heute beantworten sie die Frage oft freiwillig - und sogar in den Werken selbst, die zunehmend unter Betonung ihres autobiographischen Charakters vermarktet werden.
Der neue Roman von Bret Easton Ellis hat ein Vorwort, in dem offenbar der Autor seine Annäherung an dessen Stoff beschreibt. Es gehe um seine eigenen Erfahrungen als Jugendlicher an einer Privatschule in Los Angeles, erzählt dort jemand namens Bret, um eine Gruppe von Freunden und deren Verhältnis zu einem Serienmörder im "Schreckensjahr 1981". Er berichtet vierzig Jahre später von Panikattacken bei dem Versuch, sich an diese Zeit bewusst zu erinnern, und spricht von einem "düsteren Tunnel, den ich als Siebzehnjähriger durchquerte", bevor er sich für den Rest des Buches zurück in diesen Tunnel begibt.
Ist Bret Easton Ellis also inzwischen auch auf jenen Zug der Unterhaltungsindustrie aufgesprungen, der mit dem abgeschmackten Slogan "based on a true story" Dringlichkeit und Relevanz behauptet? Vordergründig ja. Aber wenn dann im ersten Kapitel die vermeintlich wahre Erinnerung einsetzt mit dem Sprung zu einem kalifornischen Küstenhighway im Jahr 1981, auf dem der Icherzähler in einer Corvette einem befreundeten Paar hinterherfährt und ein Lied namens "Dangerous Type" hört, wirkt das wie eine Warnung vor ihm, und dass er die folgenden Sätze verdächtig oft mit den Worten "Ich weiß noch" beginnt, weckt Zweifel, ob das stimmt. Schon bald wird klar, dass diese Erzählung kein Memoir, sondern im emphatischen Sinne ein Roman ist - und noch dazu einer, der das Lebensthema von Bret Easton Ellis, eine dekadente Jugend in Kalifornien zu Beginn der Achtzigerjahre, nach dessen Verarbeitung in Romanen wie "Unter Null" (1985) und "Die Informanten" (1994) noch einmal neu angeht und albtraumhaft verdichtet.
Bei diesem Vorgang spielt Musik eine besondere Rolle. Romane von Bret Easton Ellis bringen ja oft ihren eigenen Soundtrack mit, im Text sind ständig Verweise auf Popmusik und deren Abspielung in ganz bestimmten Situationen. Die Feststellung, dass, was bei Proust die Madeleines tun, bei Ellis die Musik macht: Erinnerungen unwillkürlich zu triggern, ist wohl nicht sehr originell und längst gängiges Prinzip der Popliteratur; aber zum einen hat Ellis diese Popliteratur maßgeblich selbst geprägt (die deutschsprachige Popliteratur seit den Neunzigern wäre ohne sein Vorbild undenkbar), und zum anderen ist die Art, wie das in seinen Texten passiert, eben doch immer wieder originell - oder es ist einfach sehr gut gemacht (siehe auch "American Psycho"). Musik erklingt bei ihm nie zufällig, sie ist immer der Spiegel der Figuren, wenn sie "mit beiläufiger Schönheit", wie es hier heißt, in Sportwagen mit Designersonnenbrillen an den Klippen des Lebens entlangfahren oder herunterstürzen. Oder zumindest will es den Erzählern von Bret Easton Ellis so erscheinen, dass Musik diese Bedeutung hat. Manchmal wirkt es gar, als seien seine Romane ganz aus dieser Musik heraus entwickelt, als schreibe er Fiktionen entlang von Liedtexten und ihren Evokationen.
Ein aus dem Radio dringender Refrain des Liedes "Vienna" von Ultravox auf einem Sender namens "Totally 80s" löst die siebenhundertseitige Erinnerung und Traumabewältigung maßgeblich aus, und das Lied rahmt deren Erzählung, wenn es kurz vor Schluss in einer dramatischen Szene wieder zitiert wird. "It means nothing to me": Das stimmt schon kaum für den Siebzehnjährigen; für den älter gewordenen Mann ist das Gegenteil der Fall. Er wird auf grausame Weise immer wieder eingeholt von seinen Erinnerungen, und sie bedeuten ihm wohl eher alles als nichts.
Die Geschichte hat dann über weite Strecken etwas von einem Kriminalroman oder auch Kriminalfilm - denn Ellis' Erzählen ist auch stark geprägt vom Kino. Was beginnt, wie man es aus seinen anderen Werken schon kennt: also mit Luxus und Langeweile, Sex und Drogen, abwesenden Eltern und deren noch nicht ganz erwachsenen Kindern, deren Leben einzig dem Hedonismus gewidmet ist, wird durch dunkle Vorausdeutungen und schließlich drastische Schilderungen von Gewalt bald zu einem Thriller, der wiederum aus allerlei kulturellen Vorbildern schöpft. Es fallen einem sowohl Bezüge zu L.A.-Krimis wie "Black Dahlia" als auch zu Filmen von David Lynch wie "Mulholland Drive" auf. Die Vorbilder und Referenzen gelangen auch immer wieder explizit in den Roman, weil er äußerst detailreich schildert, welche Filme die Jugendlichen sich ansehen und welche Bücher sie lesen. Dieser archivarisch-nostalgische Zug, mit dem Ellis oft auch ein heute nicht mehr existierendes Los Angeles mit seinen Jugendstil-Kinosälen und Taschenbuchläden heraufbeschwören will, nimmt dennoch der Spannung nichts weg, die er gezielt zu erzeugen und immer stärker zu steigern weiß.
Entscheidend wird dabei auch die Rolle des Erzählers, der maßgeblich in die grausamen Ereignisse verwickelt ist, die zu mehreren Toten und an Leib und Seele Verletzten führen (vorher allerdings gibt es sehr viele Poolpartys mit nackten, obszönen, bemitleidenswerten und verrückten Menschen zwischen Bergen von Kokain und Quaaludes). Die Ähnlichkeit zu F. Scott Fitzgeralds "Großem Gatsby" mit dessen unzuverlässigem Erzähler Nick Carraway springt geradezu ins Auge, schon wenn der Erzähler hier zu Beginn das befreundete Paar beschreibt: Susan ist die Schönheitskönigin des Jahrgangs, und Thom ist ebenso mühelos begehrenswert und sexy, dass es wehtut: Bret gibt dann zu, dass er in beide verliebt ist. In die ohnehin schon vertrackten, von Eifersucht und unterdrückter, weil stigmatisierter Homosexualität geprägten Beziehungen der Figuren bricht dann das absolut Böse in Gestalt eines Serienmörders ein, der als "der Trawler" bezeichnet wird. Seine Figur ist ein Amalgam aus fiktiven und leider auch sehr realen Vorbildern. Das ist die Horror-Kehrseite der Vorstellung, wild und frei an der Westküste herumzukurven: Überall könnte ein Ted Bundy, ein Zodiac-Killer, ein Charles Manson lauern.
Ellis spürt immer auch der Frage nach, wann und wie amerikanische und speziell kalifornische Träume eigentlich gekippt sind. Er unterscheidet dabei, wie nachzulesen in seinem Essayband "Weiß", aber auch stellenweise im vorliegenden Roman, das Zeitalter eines "Empire" von dem des "Post-Empire": Die von ihm beschriebenen Teenager um 1980 seien am Ende des Empire "zugleich deprimiert und cool und kreditwürdig gewesen", hätten aber die Versprechen des Aufschwungs bald als leer entlarvt und dagegen "mit Ironie und negativer Grundhaltung" rebelliert. Auch hierin mag man eine Parallele oder farcehafte Wiederholung jenes nicht nur von Fitzgerald beschriebenen rauschhaften "Jazz-Age" der Zwanzigerjahre und seines Niedergangs sehen.
Im desillusionierten Post-Empire jedenfalls lebt und schreibt Ellis seit 1985, und es ist symptomatisch, dass sich sein neues Werk darüber dezidiert dem Horror-Genre annähert (mit dem er auch als Drehbuchschreiber vertraut ist). Während im Mittelteil des Buches viel Raum für explizit geschilderten homo- und heterosexuellen Verkehr ist, hält es gegen Ende detaillierte Beschreibungen von Verstümmelungen, von Suiziden und Morden bereit (Letztere sind nicht immer zu unterscheiden, was die wohl größte Spannung des Romans erzeugt). Gesteigert werden soll der Horror offenbar noch dadurch, dass der Erzähler immer wieder große Ähnlichkeit mit dem Autor aufweist, sogar von der Entstehung anderer Romane erzählt, die Bret Easton Ellis geschrieben hat. Und selbst der dicke Hinweis ganz am Ende des Buches, es handle sich bei diesem um ein fiktionales Werk, soll doch wieder Zweifel streuen, wenn es darin heißt: "Abgesehen vom Autor selbst ist jede Ähnlichkeit mit Lebenden oder Verstorbenen größtenteils zufällig und nicht real." Aber bevor man auf diesen Trick hereinfällt oder gar anfängt, nach den Fakten hinter der Erzählung zu googeln, sollte man sie lieber als das nehmen, was sie ist: eben kein "Total Recall", sosehr der Erzähler das auch glauben machen will, sondern ein explodierter Traum, dessen Scherben (daher der Titel "The Shards") man als Leser rätselnd, manchmal auch hingerissen und oft erschüttert betrachtet.
So spannend er ist, erschöpft sich der Roman aber nicht in der Krimihandlung. Er ist vielmehr ein Fanal der Melancholie. Sich noch einmal erinnernd an den Soundtrack seines Aufbruchs mit Liedtiteln wie "Time for Me to Fly", klingen dem Erzähler am Ende "viele der Stücke nach verzweifelter Begierde und Zurückweisung und Flucht. Handelten die Lieder, wie ich einmal geglaubt hatte, von einem Kind, das zum Mann wurde, so handelten sie für mich als Sechsundfünfzigjährigen auch von einem Mann, der ein Kind geblieben war." JAN WIELE
Bret Easton Ellis: "The Shards". Roman.
Aus dem amerikanischen Englisch von Stephan Kleiner. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023. 736 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Total Recall: "The Shards", der
neue Roman von Bret
Easton Ellis, verdichtet seine Werk- und Lebensthemen in der Form eines Albtraums.
Im Herbst 2005 saß Bret Easton Ellis auf dem Podium einer Stadtbibliothek in Neuengland und las aus seinem Roman "Lunar Park". Nach der Lesung fragte jemand, wie autobiographisch das alles sei. Ellis gab sich genervt. Bis vor ein paar Jahren verbot es sich geradezu, Schriftsteller nach dem Wahrheitsgehalt ihrer Werke zu fragen. Heute beantworten sie die Frage oft freiwillig - und sogar in den Werken selbst, die zunehmend unter Betonung ihres autobiographischen Charakters vermarktet werden.
Der neue Roman von Bret Easton Ellis hat ein Vorwort, in dem offenbar der Autor seine Annäherung an dessen Stoff beschreibt. Es gehe um seine eigenen Erfahrungen als Jugendlicher an einer Privatschule in Los Angeles, erzählt dort jemand namens Bret, um eine Gruppe von Freunden und deren Verhältnis zu einem Serienmörder im "Schreckensjahr 1981". Er berichtet vierzig Jahre später von Panikattacken bei dem Versuch, sich an diese Zeit bewusst zu erinnern, und spricht von einem "düsteren Tunnel, den ich als Siebzehnjähriger durchquerte", bevor er sich für den Rest des Buches zurück in diesen Tunnel begibt.
Ist Bret Easton Ellis also inzwischen auch auf jenen Zug der Unterhaltungsindustrie aufgesprungen, der mit dem abgeschmackten Slogan "based on a true story" Dringlichkeit und Relevanz behauptet? Vordergründig ja. Aber wenn dann im ersten Kapitel die vermeintlich wahre Erinnerung einsetzt mit dem Sprung zu einem kalifornischen Küstenhighway im Jahr 1981, auf dem der Icherzähler in einer Corvette einem befreundeten Paar hinterherfährt und ein Lied namens "Dangerous Type" hört, wirkt das wie eine Warnung vor ihm, und dass er die folgenden Sätze verdächtig oft mit den Worten "Ich weiß noch" beginnt, weckt Zweifel, ob das stimmt. Schon bald wird klar, dass diese Erzählung kein Memoir, sondern im emphatischen Sinne ein Roman ist - und noch dazu einer, der das Lebensthema von Bret Easton Ellis, eine dekadente Jugend in Kalifornien zu Beginn der Achtzigerjahre, nach dessen Verarbeitung in Romanen wie "Unter Null" (1985) und "Die Informanten" (1994) noch einmal neu angeht und albtraumhaft verdichtet.
Bei diesem Vorgang spielt Musik eine besondere Rolle. Romane von Bret Easton Ellis bringen ja oft ihren eigenen Soundtrack mit, im Text sind ständig Verweise auf Popmusik und deren Abspielung in ganz bestimmten Situationen. Die Feststellung, dass, was bei Proust die Madeleines tun, bei Ellis die Musik macht: Erinnerungen unwillkürlich zu triggern, ist wohl nicht sehr originell und längst gängiges Prinzip der Popliteratur; aber zum einen hat Ellis diese Popliteratur maßgeblich selbst geprägt (die deutschsprachige Popliteratur seit den Neunzigern wäre ohne sein Vorbild undenkbar), und zum anderen ist die Art, wie das in seinen Texten passiert, eben doch immer wieder originell - oder es ist einfach sehr gut gemacht (siehe auch "American Psycho"). Musik erklingt bei ihm nie zufällig, sie ist immer der Spiegel der Figuren, wenn sie "mit beiläufiger Schönheit", wie es hier heißt, in Sportwagen mit Designersonnenbrillen an den Klippen des Lebens entlangfahren oder herunterstürzen. Oder zumindest will es den Erzählern von Bret Easton Ellis so erscheinen, dass Musik diese Bedeutung hat. Manchmal wirkt es gar, als seien seine Romane ganz aus dieser Musik heraus entwickelt, als schreibe er Fiktionen entlang von Liedtexten und ihren Evokationen.
Ein aus dem Radio dringender Refrain des Liedes "Vienna" von Ultravox auf einem Sender namens "Totally 80s" löst die siebenhundertseitige Erinnerung und Traumabewältigung maßgeblich aus, und das Lied rahmt deren Erzählung, wenn es kurz vor Schluss in einer dramatischen Szene wieder zitiert wird. "It means nothing to me": Das stimmt schon kaum für den Siebzehnjährigen; für den älter gewordenen Mann ist das Gegenteil der Fall. Er wird auf grausame Weise immer wieder eingeholt von seinen Erinnerungen, und sie bedeuten ihm wohl eher alles als nichts.
Die Geschichte hat dann über weite Strecken etwas von einem Kriminalroman oder auch Kriminalfilm - denn Ellis' Erzählen ist auch stark geprägt vom Kino. Was beginnt, wie man es aus seinen anderen Werken schon kennt: also mit Luxus und Langeweile, Sex und Drogen, abwesenden Eltern und deren noch nicht ganz erwachsenen Kindern, deren Leben einzig dem Hedonismus gewidmet ist, wird durch dunkle Vorausdeutungen und schließlich drastische Schilderungen von Gewalt bald zu einem Thriller, der wiederum aus allerlei kulturellen Vorbildern schöpft. Es fallen einem sowohl Bezüge zu L.A.-Krimis wie "Black Dahlia" als auch zu Filmen von David Lynch wie "Mulholland Drive" auf. Die Vorbilder und Referenzen gelangen auch immer wieder explizit in den Roman, weil er äußerst detailreich schildert, welche Filme die Jugendlichen sich ansehen und welche Bücher sie lesen. Dieser archivarisch-nostalgische Zug, mit dem Ellis oft auch ein heute nicht mehr existierendes Los Angeles mit seinen Jugendstil-Kinosälen und Taschenbuchläden heraufbeschwören will, nimmt dennoch der Spannung nichts weg, die er gezielt zu erzeugen und immer stärker zu steigern weiß.
Entscheidend wird dabei auch die Rolle des Erzählers, der maßgeblich in die grausamen Ereignisse verwickelt ist, die zu mehreren Toten und an Leib und Seele Verletzten führen (vorher allerdings gibt es sehr viele Poolpartys mit nackten, obszönen, bemitleidenswerten und verrückten Menschen zwischen Bergen von Kokain und Quaaludes). Die Ähnlichkeit zu F. Scott Fitzgeralds "Großem Gatsby" mit dessen unzuverlässigem Erzähler Nick Carraway springt geradezu ins Auge, schon wenn der Erzähler hier zu Beginn das befreundete Paar beschreibt: Susan ist die Schönheitskönigin des Jahrgangs, und Thom ist ebenso mühelos begehrenswert und sexy, dass es wehtut: Bret gibt dann zu, dass er in beide verliebt ist. In die ohnehin schon vertrackten, von Eifersucht und unterdrückter, weil stigmatisierter Homosexualität geprägten Beziehungen der Figuren bricht dann das absolut Böse in Gestalt eines Serienmörders ein, der als "der Trawler" bezeichnet wird. Seine Figur ist ein Amalgam aus fiktiven und leider auch sehr realen Vorbildern. Das ist die Horror-Kehrseite der Vorstellung, wild und frei an der Westküste herumzukurven: Überall könnte ein Ted Bundy, ein Zodiac-Killer, ein Charles Manson lauern.
Ellis spürt immer auch der Frage nach, wann und wie amerikanische und speziell kalifornische Träume eigentlich gekippt sind. Er unterscheidet dabei, wie nachzulesen in seinem Essayband "Weiß", aber auch stellenweise im vorliegenden Roman, das Zeitalter eines "Empire" von dem des "Post-Empire": Die von ihm beschriebenen Teenager um 1980 seien am Ende des Empire "zugleich deprimiert und cool und kreditwürdig gewesen", hätten aber die Versprechen des Aufschwungs bald als leer entlarvt und dagegen "mit Ironie und negativer Grundhaltung" rebelliert. Auch hierin mag man eine Parallele oder farcehafte Wiederholung jenes nicht nur von Fitzgerald beschriebenen rauschhaften "Jazz-Age" der Zwanzigerjahre und seines Niedergangs sehen.
Im desillusionierten Post-Empire jedenfalls lebt und schreibt Ellis seit 1985, und es ist symptomatisch, dass sich sein neues Werk darüber dezidiert dem Horror-Genre annähert (mit dem er auch als Drehbuchschreiber vertraut ist). Während im Mittelteil des Buches viel Raum für explizit geschilderten homo- und heterosexuellen Verkehr ist, hält es gegen Ende detaillierte Beschreibungen von Verstümmelungen, von Suiziden und Morden bereit (Letztere sind nicht immer zu unterscheiden, was die wohl größte Spannung des Romans erzeugt). Gesteigert werden soll der Horror offenbar noch dadurch, dass der Erzähler immer wieder große Ähnlichkeit mit dem Autor aufweist, sogar von der Entstehung anderer Romane erzählt, die Bret Easton Ellis geschrieben hat. Und selbst der dicke Hinweis ganz am Ende des Buches, es handle sich bei diesem um ein fiktionales Werk, soll doch wieder Zweifel streuen, wenn es darin heißt: "Abgesehen vom Autor selbst ist jede Ähnlichkeit mit Lebenden oder Verstorbenen größtenteils zufällig und nicht real." Aber bevor man auf diesen Trick hereinfällt oder gar anfängt, nach den Fakten hinter der Erzählung zu googeln, sollte man sie lieber als das nehmen, was sie ist: eben kein "Total Recall", sosehr der Erzähler das auch glauben machen will, sondern ein explodierter Traum, dessen Scherben (daher der Titel "The Shards") man als Leser rätselnd, manchmal auch hingerissen und oft erschüttert betrachtet.
So spannend er ist, erschöpft sich der Roman aber nicht in der Krimihandlung. Er ist vielmehr ein Fanal der Melancholie. Sich noch einmal erinnernd an den Soundtrack seines Aufbruchs mit Liedtiteln wie "Time for Me to Fly", klingen dem Erzähler am Ende "viele der Stücke nach verzweifelter Begierde und Zurückweisung und Flucht. Handelten die Lieder, wie ich einmal geglaubt hatte, von einem Kind, das zum Mann wurde, so handelten sie für mich als Sechsundfünfzigjährigen auch von einem Mann, der ein Kind geblieben war." JAN WIELE
Bret Easton Ellis: "The Shards". Roman.
Aus dem amerikanischen Englisch von Stephan Kleiner. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023. 736 S., geb., 28,- Euro.
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»ein fulminantes Romancomeback« ORF-Jury-Bestenliste 20230201
"Gleichzeitig echt und übertrieben": So fasst Rezensent Ijoma Mangold seinen Eindruck von Bret Easton Ellis' autobiografisch angehauchtem neuen Roman "The Shards", zu Deutsch "die Scherben", zusammen. Worum geht's? Um die wohlstandsverwahrloste Elite in Los Angeles, besonders um die Privatschule Buckley, auf die der Ich-Erzähler Bret Ellis geht. Er erfüllt eigentlich alle Voraussetzungen, zur Coolness-Elite der frühen Achtziger zu gehören, verrät der Rezensent, wäre da nicht seine Homosexualität, die dazu führt, dass er Sexualität und Sozialleben voneinander abspalten muss. Ein bisschen billig scheint Mangold der Serienmörder-Plot, der zu den ewig koksenden Glamour-Kids und der Los Angeles-Storyline dazukommt, doch befindet er, auch mit Blick auf Ellis' größten Erfolg "American Psycho", dass der Schriftsteller meisterhaft auf dem hauchdünnen Grat zwischen billig und genial balanciert. Ein für den Autor typisches Kunstwerk, das zwischen Dekadenz und Abgründen oszilliert, schließt Mangold.
© Perlentaucher Medien GmbH
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