Tyll Ulenspiegel - Vagant und Schausteller, Entertainer und Provokateur - wird zu Beginn des 17. Jahrhunderts in einem Dorf geboren, in dem sein Vater, ein Müller, als Magier und Welterforscher schon bald mit der Kirche in Konflikt gerät. Tyll muss fliehen, die Bäckerstochter Nele begleitet ihn. Auf seinen Wegen durch das vom Dreißigjährigen Krieg verheerte Land begegnen sie vielen kleinen Leuten und einigen der sogenannten Großen: Gelehrten, Ärzten, Henkern und Jongleuren, einem exilierten Königspaar, und nicht zuletzt einem Weltweisen, dessen größtes Geheimnis darin besteht, dass er seine aufsehenerregenden Versuchsergebnisse erschwindelt und erfunden hat ...
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buecher-magazin.deWir befinden uns mitten im Dreißigjährigen Krieg, in einer Zeit, in der manche noch Hexen verbrennen und andere schon beginnen, die Geschehnisse der Welt naturwissenschaftlich zu erfassen. Eine Epoche des Umbruchs also, in welcher der vielleicht begabteste Erzähler seiner Generation, Daniel Kehlmann, seinen neuen, titelgebenden Helden Tyll spuken lässt. Anspielend auf den mittelalterlichen Schelm Till Eulenspiegel, weiß auch dieser Protagonist uns mit allen Mitteln der Fantasie zu verführen. Ob auf Marktplätzen oder in Fürstenhäusern - wo immer der Gaukler aus Perspektiven unterschiedlicher Zeitgenossen gesehen wird, erweist sich die Realität bald schon als trügerisch und brüchig. Allen voran die fingierte und allzu unzuverlässige Autobiografie eines dicken, abenteuerlustigen Grafen lässt die Vermutung im Leser aufkommen, dass Tyll möglicherweise schon längst ein Gespenst geworden sein könnte. Spannend, wendungsreich und ästhetisch formvollendet bezeugt Kehlmann, dieser grandiose neue Nabokov, wieder einmal, was Literatur zu leisten vermag: Sie entrückt uns auf magische Weise der Wirklichkeit, sodass wir diese am Ende klarer und besser verstehen können.
© BÜCHERmagazin, Björn Hayer
© BÜCHERmagazin, Björn Hayer
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.10.2017Ein Clown
in düsterer
Zeit
Daniel Kehlmann hat die Geschichte
des „Tyll“ Eulenspiegel neu geschrieben:
Ein Roman über den
Dreißigjährigen Krieg, detailkundig,
sprachmächtig und kunstfertig
VON CHRISTOPH BARTMANN
Der historische Till (oder Dil oder Dyl) Eulenspiegel soll um 1350 in Mölln begraben worden sein. Von den oft derben Streichen, Schwänken und Späßen des Vaganten Till erzählt erstmals die um 1510 in Straßburg veröffentlichte Sammlung „Ein kurtzweilig lesen von Dil Uilenspiegel“, die dann ein Volksbuch wurde. Ihre Autorschaft ist bis heute nicht abschließend geklärt, die Figur hat sich seitdem weitgehend von ihrer Herkunft abgelöst. Man hat sie, je nach Interesse, in neue historische Kontexte gestellt, beispielhaft Charles de Coster, der 1867 den Till Eulenspiegel als flämischen Freiheitshelden und Widerstandskämpfer gegen die spanische Herrschaft neu erfand.
Daniel Kehlmann hat seinen „Tyll“ nun in das Deutschland des Dreißigjährigen Krieges verpflanzt. Ein neuer „Simplicissimus Teutsch“ vielleicht? Von Grimmelshausens Epochenroman von 1668 war kürzlich in Kehlmanns Frankfurter Poetikvorlesungen ausführlich die Rede. Die Figur des schein-einfältigen Toren, Abenteurers und späterhin Einsiedlers, der sich als Joker in x Identitäten, Abenteuern und Stationen durch die Zeit schlägt, mag Kehlmann inspiriert haben.
Ein „Schelmenroman“ ist sein „Tyll“ trotzdem nicht geworden. Dazu fehlt seinem Eulenspiegel entschieden das Heitere, und mehr noch das Naive. Eher ist Kehlmanns Tyll eine Art Horrorclown in düsterer Zeit. Ein Überlebenskünstler, der auf wundersame Weise Pest, Krieg und Inquisition trotzt. Ein „Herr der Luft“, der auf dem Seil dem staunenden Publikum eine Ahnung von Freiheit gibt. Ein übellauniger Narr, der seiner Herrschaft selten Freude macht. Niemand wird warm mit diesem Tyll, dessen größte Begabung zu sein scheint, seine Haut zu retten.
Kalt ist es in Deutschland in jenen Jahren. Die kleine Eiszeit hat Mitteleuropa ebenso im Griff wie die marodierenden Truppen verfeindeter Parteien. Die notleidende Bevölkerung sucht ihr Heil im Gebet, zu wem auch immer. „Zum Allmächtigen beteten wir und zur gütigen Jungfrau, wir beteten zur Herrin des Waldes und zu den kleinen Leuten der Mitternacht, zum heiligen Gerwin, zu Petrus, dem Torwächter, zum Evangelisten Johannes, und sicherheitshalber beteten wir auch zur Alten Mela, die in den rauen Nächten, wenn die Dämonen frei wandeln dürfen, vor ihrem Gefolge her durch die Himmel streift.“
Der magische Realismus ist in dieser Welt der Heimsuchungen immer schon da; er muss nicht eigens hinzuerfunden werden. In der Holsteinischen Ebene stirbt kurz vor Ende des Krieges „der letzte Drache des Nordens. Er war siebzehntausend Jahre alt, und er war es müde, sich zu verstecken.“ Der Erzähler macht wenig Aufhebens um solche Wunder. Dem magischen Realisten ist nichts Übersinnliches fremd.
„Tyll“ ist nicht nur kein Schelmenroman, sondern vielleicht nicht einmal ein Till-Eulenspiegel-Roman. Die titelgebende Figur führt in ihm beinahe eine Nebenexistenz. Sie bildet die Klammer, mit der die Stationen und Episoden der Erzählung vom großen Krieg zusammengehalten werden. Natürlich gibt Eulenspiegel die eine oder andere Probe seiner Kunst, ob als Seiltänzer oder als Messerwerfer. Anders als den historischen Till erlebt man ihn als Hofnarren im Dienst konkurrierender Herrscher. Mal trifft man ihn als Pionier bei der Belagerung von Brünn, mal als Ruheständler im Kloster Andechs an.
Mehr als um Tyll selbst geht es Kehlmann offenbar um ein historisches Panorama des Dreißigjährigen Krieges, ein Gesamtbild, für das er Tyll nicht zwingend gebraucht hätte. Es gibt Figuren in diesem Roman, die eindrücklicher sind als Eulenspiegel. Sein Vater etwa, der Müller Claus Eulenspiegel, ist ein veritabler Philosoph, ein Okkultist und Grübler, der nur das Pech hat, zwei durchreisenden Hexenjägern aufzufallen: dem englischen Jesuiten Tesimond, daheim auf der Fahndungsliste wegen seiner Beteiligung am „Gunpowder Plot“ von 1605 gegen König Jakob I., und seinem Adlatus, dem jungen Athanasius Kircher, der sich später in Rom als Universalgelehrter oder vielleicht auch nur –schwindler einen Namen macht.
Zu den schillernden Figuren auf der Hauptbühne des Romans gehört auch Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz, als „Winterkönig“ Friedrich I. 1618/19 ein paar Monate lang König von Böhmen, ehe ihn der Kaiser vertreibt und er, mit Reichsacht belegt, sein restliches Leben im Exil verbringt. Und seine Gattin Elisabeth Stuart, Enkelin der Maria Stuart und Tochter Jakobs I., gegen den sich die katholische Pulververschwörung richtete. Wer einen farbigen, packenden Roman über den unglücklichen Winterkönig und seine unbeugsame Frau oder die letzte Schlacht von 1648 bei Zusmarshausen oder über die drakontologischen Forschungen der Herren Olearius und Fleming (der nebenbei ein deutscher Barockdichter war) in Holstein lesen will, der findet ihn hier. Detailkundig, sprachmächtig und kunstfertig ist dieser Roman, vielleicht Kehlmanns bestes Buch seit der „Vermessung der Welt“.
Trotzdem wird auch dieser gelungene Roman die Kehlmann-Zweifler nicht ruhen lassen. Worauf will der Autor mit dieser pittoresken Geschichtsfiktion denn nun eigentlich hinaus? Müsste sich nicht irgendwo ein Türchen auftun in Problematiken der Gegenwart? Oder soll einem die dystopische Düsternis des von Krieg und Seuchen verheerten Reiches Gegenwartszeichen genug sein? Auf Aktualisierung hat Kehlmann es nicht angelegt, was kein Nachteil sein muss. Es scheint, als fasziniere ihn der sprachliche und kulturelle Fundus des Vergangenen mehr als seine möglichen Lektionen. Warum auch nicht einen Roman schreiben, der sich klug darauf beschränkt, eine vergangene Epoche so getreulich wie erfinderisch abzubilden?
Nichts anderes hat ja etwa zuletzt Hillary Mantel mit ihren berühmten Romanen über Thomas Cromwell getan. Dass Kehlmann mit der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur und dem deutschen Gegenwartstheater nicht viel anfangen kann, hat er gelegentlich eingeräumt. In England, das fällt auch der englischen Gattin des Winterkönigs immer wieder schmerzlich ein, ist vieles besser: die Sprache melodischer, das Theater gekonnter, und die Sitten sind milder. Die Vorbilder, die für „Tyll“ Pate gestanden haben mögen, wird man sicher nicht in der neueren Literatur finden. Eher ist wohl an jemanden wie Leo Perutz zu denken, über ihn hat Kehlmann in seinen Poetikvorlesungen („Kommt Geister“, 2015) gesprochen.
Perutz, heute aus der Mode gekommen, zu Lebzeiten hoch geschätzt und viel gelesen, hat 1953 den Roman „Nachts unter der steinernen Brücke“ veröffentlicht, einen Kranz von Episoden, die im Prag Rudolfs II. um 1600 angesiedelt sind. Der Rabbi Löw taucht darin auf, Kepler und Wallenstein, „Bettler, Narren, hohe Herren und fremde Abenteurer (...) ein Welttheater unvergesslicher Gestalten“, so der Klappentext. Das Gleiche könnte man auch über Kehlmanns „Tyll“ schreiben, ohne dass man ihn deshalb stilistisch in Perutz’ Nähe bringen wollte.
Anders als Perutz hütet sich Kehlmann vor Blumigkeiten, thematisch und methodisch aber ist die Perutz-Parallele unverkennbar. Historische Romane als „Welttheater unvergesslicher Gestalten“ stehen heute nicht hoch im Kurs. Demonstrationen auktorialen Könnens, etwa im kunstgerechten Umgang mit ja irgendwie „angeeigneten“ historischen Stoffen, begegnet man derzeit eher mit Skepsis. Kehlmanns „Tyll“ jedoch zeigt den Autor unbeirrt und souverän auf seinem literarischen Sonderweg. Mögen die anderen schreiben, was und wie sie wollen, er schreibt ein Epos vom Dreißigjährigen Krieg. Daran, dass ihm die Mittel hierfür zu Gebote stehen, lässt er in „Tyll“ keinen Zweifel.
Dieser Roman
zeigt seinen Autor
unbeirrt und souverän
auf seinem
literarischen Sonderweg
Daniel Kehlmann: Tyll.
Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2017.
495 Seiten. 22,95 Euro. E-Book 19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
in düsterer
Zeit
Daniel Kehlmann hat die Geschichte
des „Tyll“ Eulenspiegel neu geschrieben:
Ein Roman über den
Dreißigjährigen Krieg, detailkundig,
sprachmächtig und kunstfertig
VON CHRISTOPH BARTMANN
Der historische Till (oder Dil oder Dyl) Eulenspiegel soll um 1350 in Mölln begraben worden sein. Von den oft derben Streichen, Schwänken und Späßen des Vaganten Till erzählt erstmals die um 1510 in Straßburg veröffentlichte Sammlung „Ein kurtzweilig lesen von Dil Uilenspiegel“, die dann ein Volksbuch wurde. Ihre Autorschaft ist bis heute nicht abschließend geklärt, die Figur hat sich seitdem weitgehend von ihrer Herkunft abgelöst. Man hat sie, je nach Interesse, in neue historische Kontexte gestellt, beispielhaft Charles de Coster, der 1867 den Till Eulenspiegel als flämischen Freiheitshelden und Widerstandskämpfer gegen die spanische Herrschaft neu erfand.
Daniel Kehlmann hat seinen „Tyll“ nun in das Deutschland des Dreißigjährigen Krieges verpflanzt. Ein neuer „Simplicissimus Teutsch“ vielleicht? Von Grimmelshausens Epochenroman von 1668 war kürzlich in Kehlmanns Frankfurter Poetikvorlesungen ausführlich die Rede. Die Figur des schein-einfältigen Toren, Abenteurers und späterhin Einsiedlers, der sich als Joker in x Identitäten, Abenteuern und Stationen durch die Zeit schlägt, mag Kehlmann inspiriert haben.
Ein „Schelmenroman“ ist sein „Tyll“ trotzdem nicht geworden. Dazu fehlt seinem Eulenspiegel entschieden das Heitere, und mehr noch das Naive. Eher ist Kehlmanns Tyll eine Art Horrorclown in düsterer Zeit. Ein Überlebenskünstler, der auf wundersame Weise Pest, Krieg und Inquisition trotzt. Ein „Herr der Luft“, der auf dem Seil dem staunenden Publikum eine Ahnung von Freiheit gibt. Ein übellauniger Narr, der seiner Herrschaft selten Freude macht. Niemand wird warm mit diesem Tyll, dessen größte Begabung zu sein scheint, seine Haut zu retten.
Kalt ist es in Deutschland in jenen Jahren. Die kleine Eiszeit hat Mitteleuropa ebenso im Griff wie die marodierenden Truppen verfeindeter Parteien. Die notleidende Bevölkerung sucht ihr Heil im Gebet, zu wem auch immer. „Zum Allmächtigen beteten wir und zur gütigen Jungfrau, wir beteten zur Herrin des Waldes und zu den kleinen Leuten der Mitternacht, zum heiligen Gerwin, zu Petrus, dem Torwächter, zum Evangelisten Johannes, und sicherheitshalber beteten wir auch zur Alten Mela, die in den rauen Nächten, wenn die Dämonen frei wandeln dürfen, vor ihrem Gefolge her durch die Himmel streift.“
Der magische Realismus ist in dieser Welt der Heimsuchungen immer schon da; er muss nicht eigens hinzuerfunden werden. In der Holsteinischen Ebene stirbt kurz vor Ende des Krieges „der letzte Drache des Nordens. Er war siebzehntausend Jahre alt, und er war es müde, sich zu verstecken.“ Der Erzähler macht wenig Aufhebens um solche Wunder. Dem magischen Realisten ist nichts Übersinnliches fremd.
„Tyll“ ist nicht nur kein Schelmenroman, sondern vielleicht nicht einmal ein Till-Eulenspiegel-Roman. Die titelgebende Figur führt in ihm beinahe eine Nebenexistenz. Sie bildet die Klammer, mit der die Stationen und Episoden der Erzählung vom großen Krieg zusammengehalten werden. Natürlich gibt Eulenspiegel die eine oder andere Probe seiner Kunst, ob als Seiltänzer oder als Messerwerfer. Anders als den historischen Till erlebt man ihn als Hofnarren im Dienst konkurrierender Herrscher. Mal trifft man ihn als Pionier bei der Belagerung von Brünn, mal als Ruheständler im Kloster Andechs an.
Mehr als um Tyll selbst geht es Kehlmann offenbar um ein historisches Panorama des Dreißigjährigen Krieges, ein Gesamtbild, für das er Tyll nicht zwingend gebraucht hätte. Es gibt Figuren in diesem Roman, die eindrücklicher sind als Eulenspiegel. Sein Vater etwa, der Müller Claus Eulenspiegel, ist ein veritabler Philosoph, ein Okkultist und Grübler, der nur das Pech hat, zwei durchreisenden Hexenjägern aufzufallen: dem englischen Jesuiten Tesimond, daheim auf der Fahndungsliste wegen seiner Beteiligung am „Gunpowder Plot“ von 1605 gegen König Jakob I., und seinem Adlatus, dem jungen Athanasius Kircher, der sich später in Rom als Universalgelehrter oder vielleicht auch nur –schwindler einen Namen macht.
Zu den schillernden Figuren auf der Hauptbühne des Romans gehört auch Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz, als „Winterkönig“ Friedrich I. 1618/19 ein paar Monate lang König von Böhmen, ehe ihn der Kaiser vertreibt und er, mit Reichsacht belegt, sein restliches Leben im Exil verbringt. Und seine Gattin Elisabeth Stuart, Enkelin der Maria Stuart und Tochter Jakobs I., gegen den sich die katholische Pulververschwörung richtete. Wer einen farbigen, packenden Roman über den unglücklichen Winterkönig und seine unbeugsame Frau oder die letzte Schlacht von 1648 bei Zusmarshausen oder über die drakontologischen Forschungen der Herren Olearius und Fleming (der nebenbei ein deutscher Barockdichter war) in Holstein lesen will, der findet ihn hier. Detailkundig, sprachmächtig und kunstfertig ist dieser Roman, vielleicht Kehlmanns bestes Buch seit der „Vermessung der Welt“.
Trotzdem wird auch dieser gelungene Roman die Kehlmann-Zweifler nicht ruhen lassen. Worauf will der Autor mit dieser pittoresken Geschichtsfiktion denn nun eigentlich hinaus? Müsste sich nicht irgendwo ein Türchen auftun in Problematiken der Gegenwart? Oder soll einem die dystopische Düsternis des von Krieg und Seuchen verheerten Reiches Gegenwartszeichen genug sein? Auf Aktualisierung hat Kehlmann es nicht angelegt, was kein Nachteil sein muss. Es scheint, als fasziniere ihn der sprachliche und kulturelle Fundus des Vergangenen mehr als seine möglichen Lektionen. Warum auch nicht einen Roman schreiben, der sich klug darauf beschränkt, eine vergangene Epoche so getreulich wie erfinderisch abzubilden?
Nichts anderes hat ja etwa zuletzt Hillary Mantel mit ihren berühmten Romanen über Thomas Cromwell getan. Dass Kehlmann mit der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur und dem deutschen Gegenwartstheater nicht viel anfangen kann, hat er gelegentlich eingeräumt. In England, das fällt auch der englischen Gattin des Winterkönigs immer wieder schmerzlich ein, ist vieles besser: die Sprache melodischer, das Theater gekonnter, und die Sitten sind milder. Die Vorbilder, die für „Tyll“ Pate gestanden haben mögen, wird man sicher nicht in der neueren Literatur finden. Eher ist wohl an jemanden wie Leo Perutz zu denken, über ihn hat Kehlmann in seinen Poetikvorlesungen („Kommt Geister“, 2015) gesprochen.
Perutz, heute aus der Mode gekommen, zu Lebzeiten hoch geschätzt und viel gelesen, hat 1953 den Roman „Nachts unter der steinernen Brücke“ veröffentlicht, einen Kranz von Episoden, die im Prag Rudolfs II. um 1600 angesiedelt sind. Der Rabbi Löw taucht darin auf, Kepler und Wallenstein, „Bettler, Narren, hohe Herren und fremde Abenteurer (...) ein Welttheater unvergesslicher Gestalten“, so der Klappentext. Das Gleiche könnte man auch über Kehlmanns „Tyll“ schreiben, ohne dass man ihn deshalb stilistisch in Perutz’ Nähe bringen wollte.
Anders als Perutz hütet sich Kehlmann vor Blumigkeiten, thematisch und methodisch aber ist die Perutz-Parallele unverkennbar. Historische Romane als „Welttheater unvergesslicher Gestalten“ stehen heute nicht hoch im Kurs. Demonstrationen auktorialen Könnens, etwa im kunstgerechten Umgang mit ja irgendwie „angeeigneten“ historischen Stoffen, begegnet man derzeit eher mit Skepsis. Kehlmanns „Tyll“ jedoch zeigt den Autor unbeirrt und souverän auf seinem literarischen Sonderweg. Mögen die anderen schreiben, was und wie sie wollen, er schreibt ein Epos vom Dreißigjährigen Krieg. Daran, dass ihm die Mittel hierfür zu Gebote stehen, lässt er in „Tyll“ keinen Zweifel.
Dieser Roman
zeigt seinen Autor
unbeirrt und souverän
auf seinem
literarischen Sonderweg
Daniel Kehlmann: Tyll.
Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2017.
495 Seiten. 22,95 Euro. E-Book 19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2017Wenn wir Toten erwachen
Wispernde Stimmen in Bach und Feld: Daniel Kehlmann versetzt den Gaukler Tyll Eulenspiegel in die schlimme Zeit des Dreißigjährigen Krieges und begleitet ihn durch die wachsende Wüste in Deutschland.
Von Tilman Spreckelsen
Wenn man tot ist", sagt der Fremde, der sich zu dem Jungen ins Gras setzt, "dann liegt man im Grab, bis der Herr wiederkehrt, uns zu richten." Wann das denn sei, fragt der Junge, und der Fremde antwortet: "Am Ende der Zeit. Nur können die Toten keine Zeit empfinden, sie sind ja tot, also kann man auch sagen: Sofort. Sobald du tot bist, bricht der Tag des Gerichts an."
Schön wär's. Der Fremde jedenfalls, ein Jesuit, der da fünf Jahre nach Ausbruch des Dreißigjährigen Kriegs dem Jungen die letzten Dinge erklärt und ihn dabei heimlich aushorcht, mag mit dem Gericht nicht bis zum Jenseits warten. Er erfährt, dass sich der Müller Claus Ulenspiegel, der Vater des Jungen, Spekulationen über die Welt hingibt, dass er Heilsprüche kennt und vielleicht auch welche, die Schaden stiften. Dann strengt er einen Prozess gegen Claus Ulenspiegel an und bringt ihn auf den Scheiterhaufen - der Müller sei ein Hexer, der sich dem Teufel verschrieben habe. Sein Sohn Tyll aber flieht aus dem Dorf, begleitet von der Bäckerstochter Nele, und schlägt sich nun als Gaukler durch.
Vor zwölf Jahren ist Daniel Kehlmann berühmt geworden. Sein Roman "Die Vermessung der Welt", der sich mehr als sechs Millionen Mal verkaufte, erzählt von der Begegnung der beiden deutschen Wissenschaftler Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß im Jahr 1828 und beleuchtet von dort aus die beiden sehr gegensätzlichen Lebensläufe und Perspektiven. Die Handlung von "Tyll", Kehlmanns neuem Roman, liegt noch weiter in der Vergangenheit, eben in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, und auch hier ist es die Begegnung des tragikomischen "Winterkönigs" und seiner Frau auf der einen Seite, des Gauklers Tyll und seiner Gefährtin Nele auf der anderen, die in mehreren Episoden den Roman strukturiert und ein polyperspektivisches Panorama der Zeit ermöglicht.
Mehr als jede andere Gattung muss sich der historische Roman seit jeher, in diesem Fall also seit gut zweihundert Jahren, mit der Frage herumschlagen, wie er es denn jeweils mit der Realität hält - mit dem, was wir von der Epoche insgesamt und von den Ereignissen konkret zu wissen glauben, von denen er erzählt oder die den Hintergrund seiner Handlung bilden. Populär wurde die Gattung mit den Romanen Walter Scotts, mit "Waverley" (1814) und "Ivanhoe" (1820), und geprägt sind diese Werke von einer großen Liebe des Autors zu exakt umrissenen Schauplätzen und historisch verorteten Handlungen. "Ivanhoe" etwa beginnt mit: "Des glücklichen Englands lieblicher Bezirk, durch den der Fluss Don seine Wasser führt, trug in alten Zeiten mächtigen Wald, der mehr als die Hälfte der anmutigen Täler und Hügel zwischen Sheffield und dem freundlichen Städtchen Doncaster bedeckte", dann folgt der Hinweis auf den "Zeitabschnitt gegen Ende der Regierung Richards I., da seine im Joch der Unterdrückung schier verzweifelnden Untertanen des Königs Rückkehr aus langer Gefangenschaft heiß ersehnten, doch kaum erhofften". Alles soll stimmen, alles soll Wirklichkeit und aus den Quellen belegt sein, und schon der frühe deutsche "Ivanhoe"-Übersetzer Karl Immermann klagte über Faktenhuberei, "müßige historische Expositionen und übel angebrachte Gelehrsamkeit", denn Scott sei "halb Historiker, halb Poet, diese Spaltung wirkt erkältend auf sein bildendes Vermögen". Immermanns Frage nach dem Verhältnis von Welt und Dichtung ließe sich jedenfalls an unsere Gegenwartsliteratur mit dem gleichen Recht, vielleicht sogar noch etwas dringlicher stellen.
Gerade in Deutschland machte Scotts Beispiel Schule, aber natürlich wirkte auch die Kritik daran nach. So betonen umgekehrt die Autoren heutiger historischer Romane gern ihre Zeitgenossenschaft durch gezielte Anachronismen oder Verweise auf die Gegenwart, indem sie ihre Protagonisten ausgesprochen modern denken und argumentieren lassen. Oder sie nutzen die Freiheit des Romanciers noch sehr viel weitergehend. Am schönsten bringt das der englische Autor Lawrence Norfolk auf den Punkt. Im Nachwort zu seinem 1991 erschienenen Roman "Lemprière's Wörterbuch" erläutert er, dass ein Geranientopf, der in seinem Roman an einem bestimmten Moment in einer bestimmten Straße vom Fensterbrett fällt, selbstverständlich authentisch sei. Zugleich ist sein oberirdisch so überkorrekt reproduziertes London auf einem gigantischen Saurierskelett errichtet, das den gesamten Untergrund der Stadt ausfüllt.
Kehlmanns Freiheiten sind nicht geringer, aber es sind andere. Seinen Roman bevölkert er ganz klassisch mit einigen bekannten Personen der Zeit - neben dem Winterkönig und seiner Frau sind das etwa der Jesuit Athanasius Kircher, der Dichter Paul Fleming, der Asien-Reisende Adam Olearius oder William Shakespeare - und vielen unbekannten. Zeitlich setzt sein Roman Schlaglichter über die gesamte Dauer des Dreißigjährigen Krieges. Das reicht vom Prager Fenstersturz 1618 und dem Versuch des Pfälzer Kurfürsten Friedrichs V., seinen Anspruch auf die böhmische Krone durchzusetzen (was ihm den Spottnamen Winterkönig einbringt), über die Schlacht bei Lützen, bei der im November 1632 der bis dahin übermächtige Schwedenkönig Gustav Adolf fällt, die Belagerung von Brünn im Sommer 1645 bis hin zur letzten Feldschlacht dieses Kriegs im Mai 1648 und schließlich den Verhandlungen zum Westfälischen Frieden.
All dies wird nicht linear erzählt, es kommt zu wüsten Zeitsprüngen in beide Richtungen, auf das letzte Kriegsjahr folgt seine Anfangsphase, bevor wieder die Geschehnisse um 1640 in den Blick geraten. Die Zeit wird - wie in Shakespeares Stücken, die als Reminiszenz hier eine große Rolle spielen - gestreckt, gedehnt oder komprimiert, verschiedene historische Ereignisse überlagern sich bis hin zum offenen Widerspruch gegenüber der Geschichtsschreibung, die dennoch der Romanhandlung ein Gerüst gibt.
Gefüllt wird es aus anderen Quellen. Die drei wichtigsten sind das Volksbuch "Ein kurtzweilig lesen von Dyl Ulenspiegel", erschienen 1515, dessen Held ein herumziehender Gaukler im frühen vierzehnten Jahrhundert ist. Aus ihm stammen zahlreiche Episoden, die auch in Kehlmanns Roman wiederkehren, allerdings deutlich verwandelt: Die klassische Geschichte vom dreimal getauften Eulenspiegel etwa, die im Volksbuch fast harmlos klingt, gewinnt hier eine bittere Note - die zweite Taufe resultiert aus einem Mordversuch im Mühlenweiher, dem Tyll mit knapper Not entkommt. Auch die wohl bekannteste Eulenspiegeliade, die vom Seiltänzer Tyll verstreuten Schuhe seiner Zuschauer, dient hier dazu, den Gaukler von seiner bösartigsten Seite zu zeigen, indem er - zuvor bestens entlohnt - Zank und Streit in ein Städtchen trägt, dessen Bewohner zuvor mitten im Krieg geradezu aufreizend harmonisch miteinander gelebt hatten.
Wo immer Eulenspiegel auftritt, heißt es einmal, geht es einigen schlecht - "aber die, die davonkamen, hatten großen Spaß gehabt". Das entspricht einer Bemerkung Kehlmanns in seiner Frankfurter Poetikvorlesung "Kommt, Geister" über die Gestalt des Narren an sich: Der sei "nicht bloß Spaßmacher, er ist ein Halbmensch, eine Gestalt aus dem Schattenreich, ein Witzbold, aber er ist zugleich ein gefesselter Dämon".
Kehlmann führt das am Beispiel einer Szene aus Grimmelshausens "Der abenteuerliche Simplicissimus" aus, der zweiten und wohl wichtigsten Quelle für seinen Roman, und er übernimmt diese Szene zugleich, ohne den Bezug offenzulegen. Im zweiten Buch des Romans wird Simplicissimus in einem seltsamen Ritual in einem dunklen Keller eingesperrt und mit einer Narrenkappe versehen, an der zwei Eselsohren befestigt waren. Kehlmanns Tyll aber, der als Knabe im dunklen Wald vergessen wird, muss dort Grauenhaftes durchgemacht haben, an das er sich später nicht mehr erinnert. Als er endlich gefunden wird, tanzt er splitternackt auf einem Seil, ist von Kopf bis Fuß mit Mehl bestäubt und trägt auf dem Kopf das blutige Fell eines Esels. Der Teufel sei in ihn gefahren, sagt der Knabe lachend und seiner Sinne nicht mächtig.
Kehlmanns Freude am Spukhaften ist bekannt, nicht erst seit seiner Novelle "Du hättest gehen sollen" von 2016. Tatsächlich wendet er vieles ins Unheimliche, das in den Vorlagen noch einen harmloseren Anstrich besessen hatte, und auch die immer wiederkehrende Gestalt des Esels, der Tyll auf der Wanderschaft begleitet und hier Origenes heißt, geht zwar auf jenen Schwank des Volksbuchs zurück, in dem Eulenspiegel einem Esel das Vorlesen beizubringen verspricht, lässt sich aber nicht gar so leicht als Betrug aufklären. Offen bleibt, wie in jeder guten Bauchrednergeschichte, ob der Esel, der gern durch unverschämte Kommentare auffällt, nicht tatsächlich spricht.
Kehlmanns dritte wesentliche Quelle aber ist Charles de Costers Roman "Thyl Ulenspiegel" von 1867. Ihr entnimmt er das Motiv des als Ketzer verbrannten Vaters, das sich im Volksbuch nicht findet, und ebenso die Gestalt der Gefährtin Nele, die De Costers Held in herzlicher Liebe zugetan ist, in "Tyll" aber von dem traumatisierten Spaßmacher auf Abstand gehalten wird. De Coster siedelt seinen flämischen Gaukler zur Zeit des spanischen Königs Philipps II. an, Kehlmann noch etwas später, auch er wählt einen Krieg, aber einen sehr viel schrecklicheren. Nichts hat wohl in Deutschland so viel Brachland hinterlassen wie der Dreißigjährige Krieg, so viel Wüsteneien, die einmal Dörfer waren und nach der Zerstörung jahrzehntelang nicht mehr besiedelt wurden - oder sogar bis auf den heutigen Tag. Kehlmann findet dafür Worte, die umso eindrucksvoller sind, weil sich seine Figuren wie etwa ein ominöser "dicker Graf" von der Aufgabe, vom Krieg zu berichten, so überfordert fühlen.
Denn auch davon handelt dieser Roman, Kehlmanns bislang bester: vom Erinnern und vom heilsamen Vergessen, vom Verschweigen des allzu Furchtbaren, vom Ausborgen fremder Kriegsschilderungen, um sich den eigenen Eindrücken nicht überlassen zu müssen, und vom notgedrungenen Erzählen: "Der Wind trug kleine, kalte Regentropfen mit sich. Um sie herum waren Baumstümpfe, Hunderte davon, hier war ein ganzer Wald abgeholzt worden. Sie kamen durch ein bis auf die Grundmauern niedergebranntes Dorf, und da sahen sie einen Leichenhaufen. Der dicke Graf wandte den Blick ab und sah dann doch hin. Es sah geschwärzte Gesichter, einen Rumpf mit nur einem Arm, eine zur Klaue gekrampfte Hand, zwei leere Augenhöhlen über einem offenen Mund und dort etwas, das wie ein Sack aussah, aber der Überrest eines Leibes war. Ein beißender Geruch hing in der Luft."
Wie geht man damit um? Wie schreibt man auf, was man sieht, und setzt damit künftigen historischen Romanen von Menschen, die keine Zeitgenossen sind, ein authentisches Bild entgegen? Der dicke Graf weiß schon jetzt, dass er das alles in seinen noch zu schreibenden Memoiren anders darstellen wird, als von ihm beobachtet, weil er diese Schrecken einfach nicht aushält. Auch deshalb ist eine zentrale Stelle des Roman der nüchterne Bericht eines Abts aus einem zerstörten Kloster in einem zerstörten Land. Er spricht von den Leiden der Bevölkerung, von Hunger, Wölfen, verunreinigtem Wasser, von marodierenden Truppen, von all dem, was dazu führte, dass die Gegend nun entvölkert sei. Und dann bittet der Abt seinen Besucher, ebenden dicken Graf, sich das eben Berichtete genau zu merken und es an den Hof zu tragen: "Der bayerische Kurfürst als Oberbefehlshaber der Kaiserlichen interessiere sich in seiner Weisheit nur fürs große Bild, nicht für die Einzelheiten. Oft habe man ihn um Hilfe angerufen, aber die Wahrheit sei, dass seine Truppen schlimmer gewütet hätten als die Schweden. Nur wenn man sich daran erinnere, habe all das Leiden einen Sinn gehabt." Es sind hilflose Worte, die der Abt da spricht, jetzt, wo es bereits nichts mehr zu retten gibt und vom bloßen Erinnern an die Toten keiner wieder lebendig wird. Trotzdem steckt auch darin ein Auftrag an den Erzähler, der dem Impuls, einen Historischen Roman zu schreiben, sehr nahekommt.
Denn wo alles zerstört ist, wo nichts mehr an die einstigen Bewohner erinnert, kein Haus, keine Kirche, kein Feld und keine Weide, strafen dort wispernde Stimmen den selbstbewussten Jesuiten mit seinem Jüngsten Gericht und den bis dahin traumlos schlafenden Toten Lügen. "Wir aber erinnern uns", sagt hier einer der gleich zu Beginn des Romans Hingemetzelten, "auch wenn keiner sich an uns erinnert, denn wir haben uns noch nicht damit abgefunden, nicht zu sein."
Das ist eine Perspektive, die dem historischen Roman alter Prägung konträr entgegensteht: Während dort durch den Zugriff des modernen Erzählers längst abgelebte Personen für die Dauer einer Romanlektüre wieder lebendig werden, sind es hier die Gestorbenen selbst, die sich bemerkbar machen: "Man hört uns im Gras und im Grillenzirpen, man hört uns, wenn man den Kopf gegen das Astloch der alten Ulme legt, und zuweilen kommt es Kindern so vor, als könnten sie unsere Gesichter im Wasser des Baches sehen."
Dass wir sie nun deutlicher sehen, so deutlich, dass es schmerzt, verdanken wir diesem großen Roman.
Daniel Kehlmann: "Tyll". Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2017. 480 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wispernde Stimmen in Bach und Feld: Daniel Kehlmann versetzt den Gaukler Tyll Eulenspiegel in die schlimme Zeit des Dreißigjährigen Krieges und begleitet ihn durch die wachsende Wüste in Deutschland.
Von Tilman Spreckelsen
Wenn man tot ist", sagt der Fremde, der sich zu dem Jungen ins Gras setzt, "dann liegt man im Grab, bis der Herr wiederkehrt, uns zu richten." Wann das denn sei, fragt der Junge, und der Fremde antwortet: "Am Ende der Zeit. Nur können die Toten keine Zeit empfinden, sie sind ja tot, also kann man auch sagen: Sofort. Sobald du tot bist, bricht der Tag des Gerichts an."
Schön wär's. Der Fremde jedenfalls, ein Jesuit, der da fünf Jahre nach Ausbruch des Dreißigjährigen Kriegs dem Jungen die letzten Dinge erklärt und ihn dabei heimlich aushorcht, mag mit dem Gericht nicht bis zum Jenseits warten. Er erfährt, dass sich der Müller Claus Ulenspiegel, der Vater des Jungen, Spekulationen über die Welt hingibt, dass er Heilsprüche kennt und vielleicht auch welche, die Schaden stiften. Dann strengt er einen Prozess gegen Claus Ulenspiegel an und bringt ihn auf den Scheiterhaufen - der Müller sei ein Hexer, der sich dem Teufel verschrieben habe. Sein Sohn Tyll aber flieht aus dem Dorf, begleitet von der Bäckerstochter Nele, und schlägt sich nun als Gaukler durch.
Vor zwölf Jahren ist Daniel Kehlmann berühmt geworden. Sein Roman "Die Vermessung der Welt", der sich mehr als sechs Millionen Mal verkaufte, erzählt von der Begegnung der beiden deutschen Wissenschaftler Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß im Jahr 1828 und beleuchtet von dort aus die beiden sehr gegensätzlichen Lebensläufe und Perspektiven. Die Handlung von "Tyll", Kehlmanns neuem Roman, liegt noch weiter in der Vergangenheit, eben in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, und auch hier ist es die Begegnung des tragikomischen "Winterkönigs" und seiner Frau auf der einen Seite, des Gauklers Tyll und seiner Gefährtin Nele auf der anderen, die in mehreren Episoden den Roman strukturiert und ein polyperspektivisches Panorama der Zeit ermöglicht.
Mehr als jede andere Gattung muss sich der historische Roman seit jeher, in diesem Fall also seit gut zweihundert Jahren, mit der Frage herumschlagen, wie er es denn jeweils mit der Realität hält - mit dem, was wir von der Epoche insgesamt und von den Ereignissen konkret zu wissen glauben, von denen er erzählt oder die den Hintergrund seiner Handlung bilden. Populär wurde die Gattung mit den Romanen Walter Scotts, mit "Waverley" (1814) und "Ivanhoe" (1820), und geprägt sind diese Werke von einer großen Liebe des Autors zu exakt umrissenen Schauplätzen und historisch verorteten Handlungen. "Ivanhoe" etwa beginnt mit: "Des glücklichen Englands lieblicher Bezirk, durch den der Fluss Don seine Wasser führt, trug in alten Zeiten mächtigen Wald, der mehr als die Hälfte der anmutigen Täler und Hügel zwischen Sheffield und dem freundlichen Städtchen Doncaster bedeckte", dann folgt der Hinweis auf den "Zeitabschnitt gegen Ende der Regierung Richards I., da seine im Joch der Unterdrückung schier verzweifelnden Untertanen des Königs Rückkehr aus langer Gefangenschaft heiß ersehnten, doch kaum erhofften". Alles soll stimmen, alles soll Wirklichkeit und aus den Quellen belegt sein, und schon der frühe deutsche "Ivanhoe"-Übersetzer Karl Immermann klagte über Faktenhuberei, "müßige historische Expositionen und übel angebrachte Gelehrsamkeit", denn Scott sei "halb Historiker, halb Poet, diese Spaltung wirkt erkältend auf sein bildendes Vermögen". Immermanns Frage nach dem Verhältnis von Welt und Dichtung ließe sich jedenfalls an unsere Gegenwartsliteratur mit dem gleichen Recht, vielleicht sogar noch etwas dringlicher stellen.
Gerade in Deutschland machte Scotts Beispiel Schule, aber natürlich wirkte auch die Kritik daran nach. So betonen umgekehrt die Autoren heutiger historischer Romane gern ihre Zeitgenossenschaft durch gezielte Anachronismen oder Verweise auf die Gegenwart, indem sie ihre Protagonisten ausgesprochen modern denken und argumentieren lassen. Oder sie nutzen die Freiheit des Romanciers noch sehr viel weitergehend. Am schönsten bringt das der englische Autor Lawrence Norfolk auf den Punkt. Im Nachwort zu seinem 1991 erschienenen Roman "Lemprière's Wörterbuch" erläutert er, dass ein Geranientopf, der in seinem Roman an einem bestimmten Moment in einer bestimmten Straße vom Fensterbrett fällt, selbstverständlich authentisch sei. Zugleich ist sein oberirdisch so überkorrekt reproduziertes London auf einem gigantischen Saurierskelett errichtet, das den gesamten Untergrund der Stadt ausfüllt.
Kehlmanns Freiheiten sind nicht geringer, aber es sind andere. Seinen Roman bevölkert er ganz klassisch mit einigen bekannten Personen der Zeit - neben dem Winterkönig und seiner Frau sind das etwa der Jesuit Athanasius Kircher, der Dichter Paul Fleming, der Asien-Reisende Adam Olearius oder William Shakespeare - und vielen unbekannten. Zeitlich setzt sein Roman Schlaglichter über die gesamte Dauer des Dreißigjährigen Krieges. Das reicht vom Prager Fenstersturz 1618 und dem Versuch des Pfälzer Kurfürsten Friedrichs V., seinen Anspruch auf die böhmische Krone durchzusetzen (was ihm den Spottnamen Winterkönig einbringt), über die Schlacht bei Lützen, bei der im November 1632 der bis dahin übermächtige Schwedenkönig Gustav Adolf fällt, die Belagerung von Brünn im Sommer 1645 bis hin zur letzten Feldschlacht dieses Kriegs im Mai 1648 und schließlich den Verhandlungen zum Westfälischen Frieden.
All dies wird nicht linear erzählt, es kommt zu wüsten Zeitsprüngen in beide Richtungen, auf das letzte Kriegsjahr folgt seine Anfangsphase, bevor wieder die Geschehnisse um 1640 in den Blick geraten. Die Zeit wird - wie in Shakespeares Stücken, die als Reminiszenz hier eine große Rolle spielen - gestreckt, gedehnt oder komprimiert, verschiedene historische Ereignisse überlagern sich bis hin zum offenen Widerspruch gegenüber der Geschichtsschreibung, die dennoch der Romanhandlung ein Gerüst gibt.
Gefüllt wird es aus anderen Quellen. Die drei wichtigsten sind das Volksbuch "Ein kurtzweilig lesen von Dyl Ulenspiegel", erschienen 1515, dessen Held ein herumziehender Gaukler im frühen vierzehnten Jahrhundert ist. Aus ihm stammen zahlreiche Episoden, die auch in Kehlmanns Roman wiederkehren, allerdings deutlich verwandelt: Die klassische Geschichte vom dreimal getauften Eulenspiegel etwa, die im Volksbuch fast harmlos klingt, gewinnt hier eine bittere Note - die zweite Taufe resultiert aus einem Mordversuch im Mühlenweiher, dem Tyll mit knapper Not entkommt. Auch die wohl bekannteste Eulenspiegeliade, die vom Seiltänzer Tyll verstreuten Schuhe seiner Zuschauer, dient hier dazu, den Gaukler von seiner bösartigsten Seite zu zeigen, indem er - zuvor bestens entlohnt - Zank und Streit in ein Städtchen trägt, dessen Bewohner zuvor mitten im Krieg geradezu aufreizend harmonisch miteinander gelebt hatten.
Wo immer Eulenspiegel auftritt, heißt es einmal, geht es einigen schlecht - "aber die, die davonkamen, hatten großen Spaß gehabt". Das entspricht einer Bemerkung Kehlmanns in seiner Frankfurter Poetikvorlesung "Kommt, Geister" über die Gestalt des Narren an sich: Der sei "nicht bloß Spaßmacher, er ist ein Halbmensch, eine Gestalt aus dem Schattenreich, ein Witzbold, aber er ist zugleich ein gefesselter Dämon".
Kehlmann führt das am Beispiel einer Szene aus Grimmelshausens "Der abenteuerliche Simplicissimus" aus, der zweiten und wohl wichtigsten Quelle für seinen Roman, und er übernimmt diese Szene zugleich, ohne den Bezug offenzulegen. Im zweiten Buch des Romans wird Simplicissimus in einem seltsamen Ritual in einem dunklen Keller eingesperrt und mit einer Narrenkappe versehen, an der zwei Eselsohren befestigt waren. Kehlmanns Tyll aber, der als Knabe im dunklen Wald vergessen wird, muss dort Grauenhaftes durchgemacht haben, an das er sich später nicht mehr erinnert. Als er endlich gefunden wird, tanzt er splitternackt auf einem Seil, ist von Kopf bis Fuß mit Mehl bestäubt und trägt auf dem Kopf das blutige Fell eines Esels. Der Teufel sei in ihn gefahren, sagt der Knabe lachend und seiner Sinne nicht mächtig.
Kehlmanns Freude am Spukhaften ist bekannt, nicht erst seit seiner Novelle "Du hättest gehen sollen" von 2016. Tatsächlich wendet er vieles ins Unheimliche, das in den Vorlagen noch einen harmloseren Anstrich besessen hatte, und auch die immer wiederkehrende Gestalt des Esels, der Tyll auf der Wanderschaft begleitet und hier Origenes heißt, geht zwar auf jenen Schwank des Volksbuchs zurück, in dem Eulenspiegel einem Esel das Vorlesen beizubringen verspricht, lässt sich aber nicht gar so leicht als Betrug aufklären. Offen bleibt, wie in jeder guten Bauchrednergeschichte, ob der Esel, der gern durch unverschämte Kommentare auffällt, nicht tatsächlich spricht.
Kehlmanns dritte wesentliche Quelle aber ist Charles de Costers Roman "Thyl Ulenspiegel" von 1867. Ihr entnimmt er das Motiv des als Ketzer verbrannten Vaters, das sich im Volksbuch nicht findet, und ebenso die Gestalt der Gefährtin Nele, die De Costers Held in herzlicher Liebe zugetan ist, in "Tyll" aber von dem traumatisierten Spaßmacher auf Abstand gehalten wird. De Coster siedelt seinen flämischen Gaukler zur Zeit des spanischen Königs Philipps II. an, Kehlmann noch etwas später, auch er wählt einen Krieg, aber einen sehr viel schrecklicheren. Nichts hat wohl in Deutschland so viel Brachland hinterlassen wie der Dreißigjährige Krieg, so viel Wüsteneien, die einmal Dörfer waren und nach der Zerstörung jahrzehntelang nicht mehr besiedelt wurden - oder sogar bis auf den heutigen Tag. Kehlmann findet dafür Worte, die umso eindrucksvoller sind, weil sich seine Figuren wie etwa ein ominöser "dicker Graf" von der Aufgabe, vom Krieg zu berichten, so überfordert fühlen.
Denn auch davon handelt dieser Roman, Kehlmanns bislang bester: vom Erinnern und vom heilsamen Vergessen, vom Verschweigen des allzu Furchtbaren, vom Ausborgen fremder Kriegsschilderungen, um sich den eigenen Eindrücken nicht überlassen zu müssen, und vom notgedrungenen Erzählen: "Der Wind trug kleine, kalte Regentropfen mit sich. Um sie herum waren Baumstümpfe, Hunderte davon, hier war ein ganzer Wald abgeholzt worden. Sie kamen durch ein bis auf die Grundmauern niedergebranntes Dorf, und da sahen sie einen Leichenhaufen. Der dicke Graf wandte den Blick ab und sah dann doch hin. Es sah geschwärzte Gesichter, einen Rumpf mit nur einem Arm, eine zur Klaue gekrampfte Hand, zwei leere Augenhöhlen über einem offenen Mund und dort etwas, das wie ein Sack aussah, aber der Überrest eines Leibes war. Ein beißender Geruch hing in der Luft."
Wie geht man damit um? Wie schreibt man auf, was man sieht, und setzt damit künftigen historischen Romanen von Menschen, die keine Zeitgenossen sind, ein authentisches Bild entgegen? Der dicke Graf weiß schon jetzt, dass er das alles in seinen noch zu schreibenden Memoiren anders darstellen wird, als von ihm beobachtet, weil er diese Schrecken einfach nicht aushält. Auch deshalb ist eine zentrale Stelle des Roman der nüchterne Bericht eines Abts aus einem zerstörten Kloster in einem zerstörten Land. Er spricht von den Leiden der Bevölkerung, von Hunger, Wölfen, verunreinigtem Wasser, von marodierenden Truppen, von all dem, was dazu führte, dass die Gegend nun entvölkert sei. Und dann bittet der Abt seinen Besucher, ebenden dicken Graf, sich das eben Berichtete genau zu merken und es an den Hof zu tragen: "Der bayerische Kurfürst als Oberbefehlshaber der Kaiserlichen interessiere sich in seiner Weisheit nur fürs große Bild, nicht für die Einzelheiten. Oft habe man ihn um Hilfe angerufen, aber die Wahrheit sei, dass seine Truppen schlimmer gewütet hätten als die Schweden. Nur wenn man sich daran erinnere, habe all das Leiden einen Sinn gehabt." Es sind hilflose Worte, die der Abt da spricht, jetzt, wo es bereits nichts mehr zu retten gibt und vom bloßen Erinnern an die Toten keiner wieder lebendig wird. Trotzdem steckt auch darin ein Auftrag an den Erzähler, der dem Impuls, einen Historischen Roman zu schreiben, sehr nahekommt.
Denn wo alles zerstört ist, wo nichts mehr an die einstigen Bewohner erinnert, kein Haus, keine Kirche, kein Feld und keine Weide, strafen dort wispernde Stimmen den selbstbewussten Jesuiten mit seinem Jüngsten Gericht und den bis dahin traumlos schlafenden Toten Lügen. "Wir aber erinnern uns", sagt hier einer der gleich zu Beginn des Romans Hingemetzelten, "auch wenn keiner sich an uns erinnert, denn wir haben uns noch nicht damit abgefunden, nicht zu sein."
Das ist eine Perspektive, die dem historischen Roman alter Prägung konträr entgegensteht: Während dort durch den Zugriff des modernen Erzählers längst abgelebte Personen für die Dauer einer Romanlektüre wieder lebendig werden, sind es hier die Gestorbenen selbst, die sich bemerkbar machen: "Man hört uns im Gras und im Grillenzirpen, man hört uns, wenn man den Kopf gegen das Astloch der alten Ulme legt, und zuweilen kommt es Kindern so vor, als könnten sie unsere Gesichter im Wasser des Baches sehen."
Dass wir sie nun deutlicher sehen, so deutlich, dass es schmerzt, verdanken wir diesem großen Roman.
Daniel Kehlmann: "Tyll". Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2017. 480 S., geb., 22,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
"Literaturliteratur" nennt Rezensent Dirk Knipphals Daniel Kehlmanns neuen Roman und meint das absolut anerkennend, ohne Hintergedanken, denn mit diesem Buch, indem mehr als ein Geschichts- und Künstlerroman steckt, treibt Kehlmann dem Leser alle Bedenken an seinem mitunter kühl "überbrillianten" Scheiben aus. Brilliant bleibt er aber, in gerade dem rechten Maß, freut sich Knipphals, zum Beispiel, wenn er Till Eulenspiegel, Vorbild seiner Figur "Tyll" in die Zeit kurz vor dem Dreißigjährigen Krieg versetzt, wenn er dessen Lebensgeschichte im ersten Teil des Buches erzählt, damit Erwartungen weckt, dann jedoch einen genialischen Schwenk wagt, den König Friedrich V., bei dem Tyll als Hofnarr angestellt ist, ins Visier nimmt, sein Erzählen in dem Zusammenhang episodisch wird, wobei einige Episoden zwar ein wenig zu stark ihre literarischen Leitbilder offenbaren, der Großteil jedoch erstaunlich ist: erstaunlich spannend, erstaunlich anschaulich und erstaunlich tiefgängig, tiefgängig bis zum Kern der Kunst, dem, wie Kehlmann in seinem Roman den Leser herausarbeiten, ja er-denken lässt, immer etwas brutales, "traumatisches" anhaftet, denn auch die Kunst ist durch die Geschichte gegangen oder nebenher? Und Geschichte wird von denen gemacht, die einmal überlebt haben, so der hingerissene und nachdenkliche Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Und jetzt darf ich einen echten Triumph der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur anzeigen. Sprachtrunken, bildersatt und verzaubert habe ich den neuen Roman von Daniel Kehlmann zugeklappt: So ein Wunderbuch begegnet einem nicht jedes Jahr! Eindrücklich wie nie gelingt es Kehlmann, rund um den aus dem Spätmittelalter in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges verpflanzten Tyll Ulenspiegel einen Mummenschanz um Macht, Machtmissbrauch und den Hochseiltanz unserer Existenz zu inszenieren, der es in sich hat. Hinreißend! Dennis Scheck ARD "Druckfrisch"