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Großes Glück der deutschen Literatur: Mit "Und wo mein Haus? - Kde domov muj" erscheint ein weiterer Nachlassroman von Peter Kurzeck.
Peter Kurzeck hatte einen Plan. Sein Romanzyklus "Das alte Jahrhundert" sollte bis zu zwölf Teile umfassen, und immer wieder neu versicherte sich der Schriftsteller des Ablaufs dieses 1997 mit "Übers Eis" begonnenen Riesenprojekts auf Zetteln und in Notizbüchern. Einmal, so zeigte es mir sein damaliger Verleger KD Wolff (Stroemfeld/ Roter Stern) noch vor dem Tod Kurzecks, plante der in einem dieser Ablaufschemata sogar den Erhalt des Literaturnobelpreises nach Abschluss des großen Vorhabens ein. Leider erlebte er beides nicht: Kurzeck starb 2013, kurz nachdem "Vorabend", der fünfte und mit mehr als tausend Seiten umfangreichste Band, erschienen war. Was blieb, waren die Vorarbeiten des Autors zu den noch ausstehenden Teilen, wohlgeordnet nach den geplanten Büchern.
Sie werden seitdem aus diesem Material rekonstruiert - Marcel Proust lässt grüßen, denn seine "Recherche" wurde ja ebenfalls erst postum komplettiert. In Kurzecks Fall wird das allerdings noch etwas dauern, weil die Abstände zwischen den weiteren Einzelbänden jeweils mehrere Jahre dauern, und es handelt sich bei ihnen auch nicht wie bei Prousts Hinterlassenschaft um komplette Romanmanuskripte, denen "nur" die letzten Überarbeitungen gefehlt haben. Es geht vielmehr hier darum, zu dokumentieren, wie weit Kurzeck mit den jeweiligen Büchern vor seinem Tod gekommen war, und so sprachen seine beiden früheren Lektoren Rudi Deuble und Alexander Losse, die sich an diese Arbeit gemacht haben, bei der ersten Nachlassveröffentlichung, dem 2015 erschienenen Band "Bis er kommt" (Teil sechs des "Alten Jahrhunderts"), noch zutreffend von einem Romanfragment. "Der vorige Sommer und der Sommer davor" (Teil sieben) wurde dagegen 2019 als vollwertiger Roman ausgewiesen, und so verhält es sich jetzt auch wieder beim achten Teil, "Und wo mein Haus?" (für den Deuble erstmals allein als Herausgeber verantwortlich zeichnet), obwohl das der fragmentarischste der nunmehr drei postum publizierten Romane ist. Zwischen der Veröffentlichung der Teile sechs und sieben lagen das traurige Ende des Stroemfeld-Verlags und der daraus resultierende, höchst erfreuliche Wechsel von Kurzecks Gesamtwerk zu Schöffling. Auffällig jedoch, dass bei den beiden dort erschienenen Romanen nicht von Fragmenten die Rede ist, obwohl sie es sind.
Aber macht das etwas aus? Beim nun erschienenen "Und wo mein Haus?" ganz entschieden nicht, obwohl die zweite Hälfte dieses "Romans" mehr aus Notizen zum weiteren Handlungsverlauf als aus ausgeschriebenen Passagen besteht. Aber die erste Hälfte gehört zum Besten, was Kurzeck überhaupt geschrieben hat - kein Wunder, waren diese vier Kapitel doch gedacht als Bestandteile von "Vorabend", bis sie sich beim Schreiben thematisch und vom Umfang her verselbständigten, sodass ihr Autor sie aussonderte und zur Keimzelle eines anderen von ihm geplanten Romans machte. In diesen hundert Seiten steckt alles, was Kurzecks Sonderstellung in der deutschen Literaturgeschichte ausmacht: sein unnachahmlicher Gedanken- und Assoziationsfluss, die beschwörende Erzählstimme und eine bei aller Melancholie des Erinnerns rücksichtslose (weil rückhaltlose) Selbstanalyse. Es gibt wenige psychologisch derart interessante Erzählprojekte wie "Das alte Jahrhundert".
Dessen achter Teil ist mit "Und wo mein Haus?" eigentlich unzutreffend knapp benannt, denn Kurzeck fügte dem Titel diese Frage noch in einer anderen Sprache bei: "Kde domov muj" - die erste Zeile der tschechischen Nationalhymne, dort zu verstehen als Sehnsucht nach der Heimat. Kurzeck stammte aus Böhmen, geboren wurde er 1943 im egerländischen Tachau, dem heutigen Tachov. Als Kleinkind wurde er mit Mutter und älterer Schwester vertrieben, der Vater kam erst Jahre später aus der Kriegsgefangenschaft zurück, als die Familie schon in der Nähe von Gießen lebte. Und Gießen ist denn auch der Hauptschauplatz des Romans "Und wo mein Haus? - Kde domov muj", dessen Hauptgeschehen in den späten Vierziger- und den Fünfzigerjahren angesiedelt ist, während die eigentliche Handlungszeit im Februar 1983 hätte spielen sollen: wie im Zyklus üblich als monologische Erinnerung des Ich-Erzählers im trauten Kreis von Freundin, kleiner Tochter und einem befreundeten Paar. Erinnerungen an sein Leben. Und an seine Beobachtungen: "Siehst du einen Menschen, gleich mußt du spüren, wie er sich fühlt. Wie es für ihn ist, daß er jetzt dieser Mensch ist. Jeden einzelnen Tag hast du dir gemerkt und die vielen Gesichter. Keine Einzelheit je vergessen." Das ist das Erzählprogramm - narrativ wie psychologisch - von Peter Kurzeck und seinem Alter Ego im Romanzyklus.
Und so ist dieses gigantische Rekonstruktionsprogramm des Erzählers auch kein solipsistisches, sondern ein weltzugewandtes, in dem der naive Kinder- oder Jugendlichenblick seiner Erinnerungen abwechselt mit dem nostalgisch-abgeklärten eines zum Handlungszeitpunkt knapp Vierzigjährigen. Der wie sein Autor nach dem Lehrabschluss zehn Jahre lang in der Personalabteilung für Zivilangestellte der amerikanischen Armee in Deutschland angestellt war und deshalb auch diesen Mikrokosmos der westdeutschen Nachkriegsgeschichte mit einer Intensität beschreiben kann, wie wir es von seinen Schilderungen des damaligen Alltags in den früheren Romanen kennen und lieben. Kurzeck öffnet literarisch die Welt, indem er eigenes Leben und Gesellschaft kurzschließt. Diese Romankunst wird als umso größer erkennbar, je mehr "Das alte Jahrhundert" anwächst. Hoffentlich ist er auch mit den anderen angedachten Bänden weit genug gekommen. ANDREAS PLATTHAUS
Peter Kurzeck: "Und wo mein Haus? - Kde domov muj". Roman.
Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2022. 174 S., 3 Abb., geb., 24,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
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