Die Diskussion über Ostdeutschland und das Verhältnis zwischen Ost und West flammt immer wieder auf. Sei es anlässlich runder Jubiläen, sei es nach Protesten. Und dennoch gibt es in dieser Debatte keine Verständnisfortschritte. Sie dreht sich im Kreis, auf Vorwürfe folgen Gegenvorwürfe: »Ihr seid diktatursozialisiert!« – »Ihr habt uns ökonomisch und symbolisch kleingemacht!« Im November jährt sich der Mauerfall zum 35. Mal. Bereits zuvor könnte die AfD aus drei Landtagswahlen als stärkste Partei hervorgehen. In dieser Lage meldet sich der »gefragteste Gesellschaftsdeuter im Land« (FAS) mit einer differenzierten Intervention zu Wort. Steffen Mau setzt sich mit prominenten Beiträgen auseinander und widerspricht der Angleichungsthese, laut der Ostdeutschland im Lauf der Zeit so sein werde wie der Westen. Aufgrund der Erfahrungen in der DDR und in den Wendejahren wird der Osten anders bleiben – ökonomisch, politisch, aber auch, was Mentalität und Identität betrifft. Angesichts der schwachen Verwurzelung der Parteien plädiert Steffen Mau dafür, alternative Formen der Demokratie zu erproben und die Menschen etwa über Bürgerräte stärker zu beteiligen. Ein Hörbuch, das aus Sackgassen herausführt – und für Gesprächsstoff sorgen wird.
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Steffen Mau liefert in seinem Buch ungewöhnliche Ansätze, mit den auch 35 Jahre nach dem Mauerfall noch bestehenden Unterschieden zwischen Ost und West umzugehen: Statt davon auszugehen, der Osten habe sich an den fortschrittlicheren Westen anzugleichen, dreht er den Spieß um, erklärt Rezensent Franz Paul Helms. Mau geht davon aus, dass etwa der zunehmende Rechtsruck eine Entwicklung ist, die auch im Westen zu folgen droht und schlägt deswegen vor, den Osten als "Labor für Experimente neuer demokratischer Partizipationsformen" zu verstehen, etwa in Form von Bürgerräten. Helms nimmt aus der Lektüre viele wichtige Anregungen mit.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.07.2024Im Labor der Partizipation
Ost-West-Differenzen: Steffen Mau bringt basisdemokratische Elemente ins Spiel
Jedem guten Buch ist zu wünschen, dass es von Anfang bis Ende gelesen wird. Der "kleinen politischen Schrift zu Gesellschaft, Politik und Demokratie in Ostdeutschland", die der Soziologe Steffen Mau vorgelegt hat, sei dies besonders gegönnt, denn wirklich aufregend wird es erst im siebten und letzten Kapitel. Dort begibt sich der Autor in ein "Labor der Partizipation". Auf der in den Kapiteln davor entworfenen Folie einer bleibenden politisch-soziokulturellen Ost-West-Differenz unterbreitet er Vorschläge, wie die spezifischen Erfahrungen der Ostdeutschen in eine Stärkung der repräsentativen Demokratie eingebracht werden könnten.
Der 1968 in Rostock geborene Mau, Professor für Makrosoziologie an der HU Berlin, greift damit eine Diskussion auf, die um den Mauerfall herum in Ost und West intensiv geführt wurde, ohne je politische Mehrheiten zu mobilisieren, und nun - forciert nicht zuletzt durch die bedrohlichen Erfolge des Populismus - in den aktuellen Debatten um die Krise der repräsentativen Demokratie eine kleine Renaissance erlebt. Diese "Ertüchtigungsmaßnahmen der Demokratie", wie Mau sie nennt, sind allesamt "von unten" gedacht: Es geht ihm um die Ergänzung der "klassischen" Parteiendemokratie um basis- und direktdemokratische Elemente.
Mau gehört zu den wenigen Soziologen, die empirische Sozialforschung und soziologische Theoriearbeit auf allgemein verständliche Weise vermitteln können. Das gemeinsam mit Thomas Lux und Linus Westheuser verfasste Buch "Triggerpunkte - Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft" (F.A.Z. vom 13. Oktober 2023) steht dafür exemplarisch und mit seinem teils autobiographisch, teils soziologisch informierten Buch "Lütten Klein" hatte Mau vier Jahre zuvor eine der erklärungskräftigsten Erkundungen der ostdeutschen Transformationsgesellschaft vorgelegt.
Die Grundlage für die Argumentation in seinem neuen Buch bilden diese Forschungen zur Wirklichkeit und Wahrnehmung sozialer Ungleichheiten in Deutschland und der Welt. Hinzu kommen die neuere politik- und geschichtswissenschaftliche Demokratieforschung sowie nicht zuletzt ein hohes Interesse an der Versachlichung gesellschaftlicher Grundsatzdebatten. All dies fundiert "Ungleich vereint". In ihrer leidenschaftlichen Gegenwarts- und Zukunftsorientierung zeigt diese Intervention die Möglichkeiten einer im besten Sinne gesellschaftskritischen Forschung - und auch ihre Grenzen.
Nicht unähnlich der intellektuellen Grundhaltung, die Jens Beckert in "Verkaufte Zukunft" in Bezug auf den Umgang mit dem Klimawandel eingenommen hat (F.A.Z. vom 16. März), plädiert Mau für eine Anerkennung der Tatsachen und eine Suche nach Lösungen jenseits kollektiver Selbsttäuschung und fixer Gemeinschaftsideen wie der "inneren Einheit": Der Osten ist und bleibe als besonders geprägter politisch-kultureller Raum auf absehbare Zeit anders. Man müsse sich eingestehen, dass sich "manche Unterschiede trotz anderer Erwartungen aushärten und reproduzieren". Der Mehrwert eines solchen Eingeständnisses liege darin, dass "gesellschaftliche Unwuchten" und mögliche Auswege jenseits der üblichen Ost-West-Logiken analysiert und verhandelt werden könnten.
Für diese Verstetigung einer Differenz beziehungsweise den damit erreichten Zustand der ostdeutschen Gesellschaft verwendet Mau die Metapher der "Ossifikation", die er zunächst als "nur eine Gedankenspielerei" einführt, aber dann doch als Summe seines Erklärungsansatzes ausfaltet. Der der Medizin entlehnte Begriff führt die osteologische Metaphorik aus "Lütten Klein" fort. Er sei "einigermaßen deutungsoffen", weil er "sowohl (die unter Umständen pathologische) Verknöcherung wie auch die Regeneration nach einem Bruch, nämlich die Bildung von Narbengewebe", bezeichne.
Selbst wer einen solchen Deutungsrahmen nicht von vornherein ablehnt, weil damit letztlich gesellschaftliche Zustände und Gruppen tendenziell verabsolutiert, pathologisiert und exotisiert werden, wird dennoch zweifeln, ob Mau die Ossifikationsthese hinreichend durchdacht hat und ihr Erkenntnispotential bestmöglich ausschöpft. Denn leider konzentriert sich der Autor in seiner Analyse vor allem auf die erste Ebene, die der "Aushärtung" der Unterschiede zwischen Ost und West sowie der ostdeutschen Eigenheiten - vor allem in Bezug auf Sozialstruktur, Demographie, Kultur und Identität. Diese Analyse vermittelt ein merkwürdig statisches Gesellschaftsbild - als ob in einer "Posttransformationsgesellschaft" keinerlei Wandel mehr zu erwarten ist. Noch bedauerlicher ist, dass der Aspekt einer möglichen "Gesundung" durch "Vernarbung", was auch immer das auf eine Gesellschaft übertragen hieße, im weiteren Verlauf der Argumentation keine Rolle spielt.
Dennoch führen die Kapitel, die dem Nachweis der Verfestigungsthese gewidmet sind, präzise vor Augen, wie nachhaltig in Ostdeutschland "Geschichte in Strukturen und Identitäten nachwirkt", etwa im Bereich des familiären Wohlstands und der Geschlechterverhältnisse oder der unzureichenden Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Grundlagen der SED-Diktatur. Und nicht zuletzt vertritt Mau diese These mit Blick auf die politische Kultur der Ostdeutschen, die nicht per se als antidemokratisch oder politikverdrossen abgekanzelt werden sollten. Vielmehr sei diese Kultur durch eine vor, um und nach 1989 spezifisch geformte "Parteienpolitikverdrossenheit" gekennzeichnet, der man mit konkreten, experimentierfreudigen Antworten begegnen könne und müsse.
Doch so korrekt dieser Befund und, daraus folgend, der Verweis auf die im Osten weiter verbreitete Zustimmung zu basis- und direktdemokratischen Verfahren sind, so fragwürdig scheint es, diese Minderheitenposition innerhalb der ostdeutschen Bevölkerung zum demokratiepolitischen Maß aller Dinge zu machen.
Die von Mau unterbreiteten, teils in eigener Forschung erprobten Vorschläge einer "bürgernahen" oder auch "deliberativen" Demokratiepraxis reichen von Bürgerräten, die im Losverfahren gebildet werden, über plebiszitäre Abstimmungen bis hin zur Idee einer "dritten Kammer", in der Vertreter aus Bundestag und Bundesrat sowie ausgeloste Bürger gemeinsam beraten. Welche Verbindlichkeit diese Verfahren hätten, wie sie ohne Verfassungsänderung zu erreichen wären oder wie sie sich auf die bisherige Gewaltenteilung und Verantwortungsstruktur auswirken würden, führt Mau nicht aus. Etwaigen Bedenken hält er entgegen, es gehe ihm um eine "experimentelle Öffnung und Weiterentwicklung von Partizipationsmöglichkeiten mit dem Ziel, die Zugangsschwellen zur Politik zu senken".
Doch kann auch Mau keine Belege dafür anführen, dass oder wie (mehr) plebiszitäre und direktdemokratische Verfahren die parlamentarische Demokratie stärken. Die fünf ostdeutschen Landesverfassungen (wie alle anderen auch) enthalten bereits die Möglichkeit von Volksentscheiden; trotzdem steht die Demokratie überall und im Osten ganz besonders unter Druck. Sicher ist es ein Gewinn, wenn etwa über Auslosungen erstmals direkt in Politik einbezogene Menschen mitunter "plötzlich einräumen" müssen, wie komplex viele Sachfragen sind und dass ihnen wichtige Aspekte eines Themas "so gar nicht klar gewesen" seien. Fraglich aber bleibt, wie diese individuelle Einsicht langfristig mehr Bürger dazu bewegen könnte, den noch immer effektivsten Weg politischer Willensbildung und Veränderung einzuschlagen: den Weg des parlamentarischen und in Parteien vermittelten Engagements auf der kommunalen, Länder- und Bundesebene, auf dem Ostdeutsche (und andere Gruppen in diesem Land) nach wie vor seltener anzutreffen sind als westdeutsch sozialisierte Menschen.
Mit seinen Anregungen hat Mau insbesondere jene Bürger im Blick, die momentan bevorzugt der AfD ihre Stimme geben. Er hege die Hoffnung, dass sich zumindest einige von ihnen in solchen Formaten "entradikalisieren" würden. Freilich ist schwer absehbar, welche Nebenwirkungen diese Operation am offenen Herzen der Demokratie hätte. Gerade mit Blick auf die ins Lager der Populisten übergegangenen Teile der Wählerschaft - die AfD und BSW ja genau mit jener Klage des ("Alt"-)Parteienpolitikversagens zu gewinnen verstehen, die Mau als Hauptsymptom identifiziert - ist zweifelhaft, ob das erklärte Ziel der Zurückdrängung des Populismus und der Stärkung der repräsentativen Demokratie mit derlei "Experimenten" zu erreichen ist.
Letztlich könnten der Fokus auf das problematische Drittel des Ostens - den Mau keineswegs als komplett dysfunktionales Einheitsgebilde sieht - und eine allzu starke Ausrichtung der eigenen Lösungsansätze an der antiparlamentarischen und illiberalen Krisenrhetorik von AfD & Co. gar zur Verschärfung des diagnostizierten Problems führen. Denn zugleich bleibt die große Mehrheit der Ostdeutschen, die nicht populistisch und nicht extrem wählt, leider auch in dieser Studie zu sehr außen vor. Sie steht auch hier weder hinreichend deutlich im Blickfeld der Analyse, noch ist sie im Nachdenken über mögliche Lösungsansätze angemessen repräsentiert.
Dem Buch sind dennoch viele Leser zu wünschen, in Ost wie West. Maus Vorschläge zum Weiterdenken der Demokratie bieten wichtige Impulse für eine sachlich geführte Debatte über Wesen und Zukunft der Demokratie als gesamtdeutscher Angelegenheit. Diese Debatte ist auf genau die konstruktive Tonlage und informierende Analyse angewiesen, mit der sich "Ungleich vereint" von der ersten bis zur letzten Seite in die sogenannte Ost-West-Debatte einschreibt - und damit für ungleich globalere Fragen öffnet. CHRISTINA MORINA
Steffen Mau: "Ungleich vereint". Warum der Osten anders bleibt.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024. 168 S.,
br., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Ost-West-Differenzen: Steffen Mau bringt basisdemokratische Elemente ins Spiel
Jedem guten Buch ist zu wünschen, dass es von Anfang bis Ende gelesen wird. Der "kleinen politischen Schrift zu Gesellschaft, Politik und Demokratie in Ostdeutschland", die der Soziologe Steffen Mau vorgelegt hat, sei dies besonders gegönnt, denn wirklich aufregend wird es erst im siebten und letzten Kapitel. Dort begibt sich der Autor in ein "Labor der Partizipation". Auf der in den Kapiteln davor entworfenen Folie einer bleibenden politisch-soziokulturellen Ost-West-Differenz unterbreitet er Vorschläge, wie die spezifischen Erfahrungen der Ostdeutschen in eine Stärkung der repräsentativen Demokratie eingebracht werden könnten.
Der 1968 in Rostock geborene Mau, Professor für Makrosoziologie an der HU Berlin, greift damit eine Diskussion auf, die um den Mauerfall herum in Ost und West intensiv geführt wurde, ohne je politische Mehrheiten zu mobilisieren, und nun - forciert nicht zuletzt durch die bedrohlichen Erfolge des Populismus - in den aktuellen Debatten um die Krise der repräsentativen Demokratie eine kleine Renaissance erlebt. Diese "Ertüchtigungsmaßnahmen der Demokratie", wie Mau sie nennt, sind allesamt "von unten" gedacht: Es geht ihm um die Ergänzung der "klassischen" Parteiendemokratie um basis- und direktdemokratische Elemente.
Mau gehört zu den wenigen Soziologen, die empirische Sozialforschung und soziologische Theoriearbeit auf allgemein verständliche Weise vermitteln können. Das gemeinsam mit Thomas Lux und Linus Westheuser verfasste Buch "Triggerpunkte - Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft" (F.A.Z. vom 13. Oktober 2023) steht dafür exemplarisch und mit seinem teils autobiographisch, teils soziologisch informierten Buch "Lütten Klein" hatte Mau vier Jahre zuvor eine der erklärungskräftigsten Erkundungen der ostdeutschen Transformationsgesellschaft vorgelegt.
Die Grundlage für die Argumentation in seinem neuen Buch bilden diese Forschungen zur Wirklichkeit und Wahrnehmung sozialer Ungleichheiten in Deutschland und der Welt. Hinzu kommen die neuere politik- und geschichtswissenschaftliche Demokratieforschung sowie nicht zuletzt ein hohes Interesse an der Versachlichung gesellschaftlicher Grundsatzdebatten. All dies fundiert "Ungleich vereint". In ihrer leidenschaftlichen Gegenwarts- und Zukunftsorientierung zeigt diese Intervention die Möglichkeiten einer im besten Sinne gesellschaftskritischen Forschung - und auch ihre Grenzen.
Nicht unähnlich der intellektuellen Grundhaltung, die Jens Beckert in "Verkaufte Zukunft" in Bezug auf den Umgang mit dem Klimawandel eingenommen hat (F.A.Z. vom 16. März), plädiert Mau für eine Anerkennung der Tatsachen und eine Suche nach Lösungen jenseits kollektiver Selbsttäuschung und fixer Gemeinschaftsideen wie der "inneren Einheit": Der Osten ist und bleibe als besonders geprägter politisch-kultureller Raum auf absehbare Zeit anders. Man müsse sich eingestehen, dass sich "manche Unterschiede trotz anderer Erwartungen aushärten und reproduzieren". Der Mehrwert eines solchen Eingeständnisses liege darin, dass "gesellschaftliche Unwuchten" und mögliche Auswege jenseits der üblichen Ost-West-Logiken analysiert und verhandelt werden könnten.
Für diese Verstetigung einer Differenz beziehungsweise den damit erreichten Zustand der ostdeutschen Gesellschaft verwendet Mau die Metapher der "Ossifikation", die er zunächst als "nur eine Gedankenspielerei" einführt, aber dann doch als Summe seines Erklärungsansatzes ausfaltet. Der der Medizin entlehnte Begriff führt die osteologische Metaphorik aus "Lütten Klein" fort. Er sei "einigermaßen deutungsoffen", weil er "sowohl (die unter Umständen pathologische) Verknöcherung wie auch die Regeneration nach einem Bruch, nämlich die Bildung von Narbengewebe", bezeichne.
Selbst wer einen solchen Deutungsrahmen nicht von vornherein ablehnt, weil damit letztlich gesellschaftliche Zustände und Gruppen tendenziell verabsolutiert, pathologisiert und exotisiert werden, wird dennoch zweifeln, ob Mau die Ossifikationsthese hinreichend durchdacht hat und ihr Erkenntnispotential bestmöglich ausschöpft. Denn leider konzentriert sich der Autor in seiner Analyse vor allem auf die erste Ebene, die der "Aushärtung" der Unterschiede zwischen Ost und West sowie der ostdeutschen Eigenheiten - vor allem in Bezug auf Sozialstruktur, Demographie, Kultur und Identität. Diese Analyse vermittelt ein merkwürdig statisches Gesellschaftsbild - als ob in einer "Posttransformationsgesellschaft" keinerlei Wandel mehr zu erwarten ist. Noch bedauerlicher ist, dass der Aspekt einer möglichen "Gesundung" durch "Vernarbung", was auch immer das auf eine Gesellschaft übertragen hieße, im weiteren Verlauf der Argumentation keine Rolle spielt.
Dennoch führen die Kapitel, die dem Nachweis der Verfestigungsthese gewidmet sind, präzise vor Augen, wie nachhaltig in Ostdeutschland "Geschichte in Strukturen und Identitäten nachwirkt", etwa im Bereich des familiären Wohlstands und der Geschlechterverhältnisse oder der unzureichenden Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Grundlagen der SED-Diktatur. Und nicht zuletzt vertritt Mau diese These mit Blick auf die politische Kultur der Ostdeutschen, die nicht per se als antidemokratisch oder politikverdrossen abgekanzelt werden sollten. Vielmehr sei diese Kultur durch eine vor, um und nach 1989 spezifisch geformte "Parteienpolitikverdrossenheit" gekennzeichnet, der man mit konkreten, experimentierfreudigen Antworten begegnen könne und müsse.
Doch so korrekt dieser Befund und, daraus folgend, der Verweis auf die im Osten weiter verbreitete Zustimmung zu basis- und direktdemokratischen Verfahren sind, so fragwürdig scheint es, diese Minderheitenposition innerhalb der ostdeutschen Bevölkerung zum demokratiepolitischen Maß aller Dinge zu machen.
Die von Mau unterbreiteten, teils in eigener Forschung erprobten Vorschläge einer "bürgernahen" oder auch "deliberativen" Demokratiepraxis reichen von Bürgerräten, die im Losverfahren gebildet werden, über plebiszitäre Abstimmungen bis hin zur Idee einer "dritten Kammer", in der Vertreter aus Bundestag und Bundesrat sowie ausgeloste Bürger gemeinsam beraten. Welche Verbindlichkeit diese Verfahren hätten, wie sie ohne Verfassungsänderung zu erreichen wären oder wie sie sich auf die bisherige Gewaltenteilung und Verantwortungsstruktur auswirken würden, führt Mau nicht aus. Etwaigen Bedenken hält er entgegen, es gehe ihm um eine "experimentelle Öffnung und Weiterentwicklung von Partizipationsmöglichkeiten mit dem Ziel, die Zugangsschwellen zur Politik zu senken".
Doch kann auch Mau keine Belege dafür anführen, dass oder wie (mehr) plebiszitäre und direktdemokratische Verfahren die parlamentarische Demokratie stärken. Die fünf ostdeutschen Landesverfassungen (wie alle anderen auch) enthalten bereits die Möglichkeit von Volksentscheiden; trotzdem steht die Demokratie überall und im Osten ganz besonders unter Druck. Sicher ist es ein Gewinn, wenn etwa über Auslosungen erstmals direkt in Politik einbezogene Menschen mitunter "plötzlich einräumen" müssen, wie komplex viele Sachfragen sind und dass ihnen wichtige Aspekte eines Themas "so gar nicht klar gewesen" seien. Fraglich aber bleibt, wie diese individuelle Einsicht langfristig mehr Bürger dazu bewegen könnte, den noch immer effektivsten Weg politischer Willensbildung und Veränderung einzuschlagen: den Weg des parlamentarischen und in Parteien vermittelten Engagements auf der kommunalen, Länder- und Bundesebene, auf dem Ostdeutsche (und andere Gruppen in diesem Land) nach wie vor seltener anzutreffen sind als westdeutsch sozialisierte Menschen.
Mit seinen Anregungen hat Mau insbesondere jene Bürger im Blick, die momentan bevorzugt der AfD ihre Stimme geben. Er hege die Hoffnung, dass sich zumindest einige von ihnen in solchen Formaten "entradikalisieren" würden. Freilich ist schwer absehbar, welche Nebenwirkungen diese Operation am offenen Herzen der Demokratie hätte. Gerade mit Blick auf die ins Lager der Populisten übergegangenen Teile der Wählerschaft - die AfD und BSW ja genau mit jener Klage des ("Alt"-)Parteienpolitikversagens zu gewinnen verstehen, die Mau als Hauptsymptom identifiziert - ist zweifelhaft, ob das erklärte Ziel der Zurückdrängung des Populismus und der Stärkung der repräsentativen Demokratie mit derlei "Experimenten" zu erreichen ist.
Letztlich könnten der Fokus auf das problematische Drittel des Ostens - den Mau keineswegs als komplett dysfunktionales Einheitsgebilde sieht - und eine allzu starke Ausrichtung der eigenen Lösungsansätze an der antiparlamentarischen und illiberalen Krisenrhetorik von AfD & Co. gar zur Verschärfung des diagnostizierten Problems führen. Denn zugleich bleibt die große Mehrheit der Ostdeutschen, die nicht populistisch und nicht extrem wählt, leider auch in dieser Studie zu sehr außen vor. Sie steht auch hier weder hinreichend deutlich im Blickfeld der Analyse, noch ist sie im Nachdenken über mögliche Lösungsansätze angemessen repräsentiert.
Dem Buch sind dennoch viele Leser zu wünschen, in Ost wie West. Maus Vorschläge zum Weiterdenken der Demokratie bieten wichtige Impulse für eine sachlich geführte Debatte über Wesen und Zukunft der Demokratie als gesamtdeutscher Angelegenheit. Diese Debatte ist auf genau die konstruktive Tonlage und informierende Analyse angewiesen, mit der sich "Ungleich vereint" von der ersten bis zur letzten Seite in die sogenannte Ost-West-Debatte einschreibt - und damit für ungleich globalere Fragen öffnet. CHRISTINA MORINA
Steffen Mau: "Ungleich vereint". Warum der Osten anders bleibt.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024. 168 S.,
br., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
»Die scharfsinnigste Analyse, warum der Osten anders tickt und anders bleibt.« Peter Neumann DIE ZEIT 20241121