Eine Lübecker Familie, kinderreich, konservativ, kaisertreu: die Lindhorsts. 1890 kommt Marthe in dem weitläufigen Patrizierhaus in der Königstraße zur Welt. Um sie eine Schar älterer Brüder, deren Freiheiten nicht ihre sein werden. Und doch ist es ein Leben mit glänzenden Aussichten. Bis ein Bestsellerroman, verfasst vom Sohn eines verstorbenen Bekannten, den respektablen Lindhorsts klarmacht, dass sie für ihr Umfeld auch nach zwei Generationen noch immer "die Jüdischen" sind. Unsereins ist der Roman einer Stadt und ihrer Gesellschaft, ihrer Bürger und Lohndiener, der Handwerker und, vor allem, ihrer Frauen. Ob Dienstmädchen, Hausfrau, Weißnäherin oder Schriftstellerin, ob manisch-depressiv wie Marthes Mutter, durchlässig wie Marthe selbst, die mit eigenen und fremden Erwartungen ringt. Inger-Maria Mahlke erzählt von Identität und Zugehörigkeit, von Geschlecht und Klasse, von Macht- und Liebesverhältnissen - von allem, was nicht nur den vormals "kleinsten Staat des deutschen Reichs", Lübeck, formte und zusammenhielt. Der neue Roman der Buchpreisträgerin: eine epische Familiengeschichte voll von Respekt, Humor und tiefer Einsicht.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Hellauf begeistert ist Rezensent Paul Jandl von Inger-Maria Mahlkes "Gegengeschichte zu Thomas Manns Schlüsselroman": Sie beleuchtet darin das Leben des Dienstpersonals der Buddenbrooks, wobei die Verweise auf Mann nur einen Teil des Spaßes ausmachen, den er bei der Lektüre hat, versichert er. Gerne liest Jandl von der Familie Lindhorst, die von den "weltgeschichtlichen Zentrifugalkräften" zwischen 1890 und 1906 zwar erfasst wird, doch der Fokus liegt auf dem privaten Zusammenleben, das von Syphillis bis beruflichem Misserfolg immer wieder untergraben wird. Besonderer Gewinn liegt für ihn auch darin, dass die Autorin vor dem Urbild Buddenbrooks trotzdem ihre eigene Sprache und Geschichte findet, resümiert er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2023Als der Pfau noch auf der Schulbank saß
Schlüsselfertig: Inger-Maria Mahlkes Romanpanorama "Unsereins" über die Lübecker Welt zu Zeiten Thomas Manns.
Von Sandra Kegel
In diesem Jahr sind gleich zwei Romane von Autorinnen erschienen, die sich mit dem Werk von Thomas Mann beschäftigen und daraus je eigene interessante Volten schlagen. Beide Autorinnen verbindet, dass sie in zwei Hauptwerken Manns, dem "Zauberberg" und den "Buddenbrooks", einerseits lustvoll herumwühlen, daraus andererseits aber etwas entstehen lassen, was mehr ist als nur intertextuelle Referenz.
Zuerst kam vor wenigen Monaten "Empusion" von Olga Tokarczuk heraus, der erste Roman der polnischen Schriftstellerin seit der Verleihung des Literaturnobelpreises 2019. "Empusion", eine Wortschöpfung aus Symposion und einer mythologischen Schreckensgestalt, erzählt auf der Folie des "Zauberbergs" von 1924 und in Analogie zum alpinen Kurort von einem Lungensanatorium im schlesischen Görbersdorf. Dort serviert die Autorin Abend für Abend im Speisesaal unter Herren ein deftiges Bankett patriarchaler Ideen.
Anders als Tokarczuk behält Inger-Maria Mahlke in ihrem Roman "Unsereins", dem ersten seit "Archipel", für den sie 2018 den Deutschen Buchpreis erhielt, den Schauplatz Thomas Manns bei - in ihrem Fall den von "Buddenbrooks". "Unsereins" spielt während der vorigen Jahrhundertwende in Lübeck, dem "kleinsten Staat des Deutschen Kaiserreichs", wie es sich selbst nicht ganz korrekt bezeichnet. Und wie bei Mann wird in "Unsereins" der Name Lübeck, dessen Stadtgesellschaft Mahlke in diesem großangelegten Panorama beschreibt, nie genannt.
In fünfzehn Kapiteln setzt sie die Zeit zwischen 1890 und 1906 ins Bild. Sie erzählt im Präsens, was dem Text seine Kraft unmittelbaren Erlebens verleiht. Der Stoff wird entwickelt aus dem Innenleben der Figuren. Zugleich wird der Roman, und das macht die literarische Spannung dieser horizontalen Erzählung aus, spürbar aus der Gegenwart heraus geschrieben, wenn etwa en passant Anspielungen auf Algorithmen oder Drohnen fallen. Die Erzählinstanz zoomt sich wie eine Kamera aus großer Höhe, aus der sie alles überblickt, hinab und geht mitten hinein ins Geschehen der stolzen Hansestadt mit ihren vielen geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen.
Schon in der Schule müssen hier die vielen "einander überlappenden Hierarchien, unübersichtlichen Verflechtungen und sich aus ihnen ergebende Konsequenzen" gelernt sein. Den Primanern sind die feinen Unterschiede zwischen Mittelschicht und unterer Mittelschicht bewusst. Ganz oben stehen die, deren Väter im Klassenbuch als Senator oder Bürgerschaft gekennzeichnet sind. Wer Pech hat, steht unten, so wie auch Ida, das Dienstmädchen der Lindhorsts. Von einer anderen Magd erfährt sie, dass es helfe, sich bei den Kindern der Herrschaft beliebt zu machen. Das könne in späteren Jahren vor der Armut retten. Aber, fragt sich Ida, wie schließt man Freundschaft mit einem Fünfjährigen?
Die Kaufmannsfamilie Lindhorst - Friedrich und seine Frau und ihre acht Kinder - steht im Zentrum des Romans. Da sie jüdische Vorfahren haben, stoßen sie immer wieder an die Grenzen der Gesellschaft. Über sie hinaus erzählt "Unsereins" zugleich von vielen anderen Menschen, die ebenfalls nicht dazugehören, mitunter ist es hilfreich, das Personenverzeichnis vorn im Buch zu konsultieren.
Inger-Maria Mahlke stammt wie Thomas Mann aus Lübeck. Die Geschichten, die diese Stadt seit Erscheinen der "Buddenbrooks" 1901 untrennbar mit der Literatur verbindet - klagende Familienmitglieder, herumgereichte Listen, welche Herrschaften in dem Schlüsselroman Vorbild waren für welche Figuren -, sind der Autorin bestens bekannt. So hört man eine gewisse diebische Freude heraus, wenn sie den leicht blasierten Schüler Tommy auftauchen lässt, den alle hier nur "Pfau" nennen" und der stets in Begleitung seines Freundes Otto erscheint. Auch er ist eine historisch verbürgte Figur, dem wir in den "Buddenbrooks" wiederum als Kai begegnen - und der wiederum seinem Jugendfreund Thomas Mann treu ergeben ist. Dass ihn mit diesem eine "ungesunde Obsession" verbinde, wird ihm bescheinigt.
Später im Roman wird Mann, der die Schule ohne Abitur verlassen hat und schließlich in München als nahezu Unbekannter sein 1000-Seiten-Werk über den "Verfall einer Familie" schreiben und in voller Länge im Verlag S. Fischer veröffentlichen wird, für einen Vortrag nach Lübeck zurückkehren. Das Gerede und die Aufregung der Lübecker Familien hat sich bis dahin noch immer nicht gelegt.
Indem Mahlke nicht nur eine Familie, sondern eine ganze Gesellschaft und dabei insbesondere die unteren Stände in den Blick nimmt, die Dienerschaft, die Lohnarbeiter und Entwicklungen wie das Entstehen der Sozialdemokratie sowie den latenten Antisemitismus der damaligen Zeit beschreibt, weitet sie ihren Roman über Fragen der Ähnlichkeit zu Wahrheit und Dichtung Thomas Manns zu einem Werk aus eigener Kraft.
Auf fast fünfhundert Seiten entfaltet sie ihr detailliertes Panorama vom Leben Ende des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Ein ums andere Mal wird deutlich, wie nah sich die unterschiedlichen Klassen, die so sehr um gesellschaftlichen Abstand bemüht sind, räumlich tatsächlich sind. Oftmals trennen die Senatoren nur wenige Meter von den Bediensteten und Armen. Und während die einen gefangen sind im starren Reglement ihrer Schicht, sind die anderen gänzlich unfrei. Über ihre Zeit können diese nicht bestimmen, und die Mühsal, die es kostet, die Böden anderer Leute zu schrubben, zeigt eine Welt, in der längst nicht jedes Individuum zählt.
Macht und Ohnmacht, Sicherheit und Unsicherheit - in diesem Spannungsfeld bewegen sich die Romane von Inger-Maria Mahlke seit jeher. In "Rechnung offen" (2010) erzählte sie dies anhand der Bewohner eines Neuköllner Mietshauses, in "Wie Ihr wollt" (2015) anhand einer kleinwüchsigen Adligen im England des sechzehnten Jahrhunderts, die unter Hausarrest stand, obwohl sie Anspruch auf den Thron gehabt hätte. In "Archipel" machte sie dies am Beispiel der historischen Zerrissenheit einer Ferieninsel klar: Die Gegensätze findet Inger-Maria Mahlke auch in "Unsereins", wenn sie die Geschichte des Kaiserreichs und biographische Aperçus aus dem Leben Thomas Manns mit fiktiven Figuren und einem Romangeschehen vermischt - bei aller Historie aber schreibt sie immer so, dass das Erzählte zum Naherlebnis wird.
Inger-Maria Mahlke: "Unsereins". Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2023. 496 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schlüsselfertig: Inger-Maria Mahlkes Romanpanorama "Unsereins" über die Lübecker Welt zu Zeiten Thomas Manns.
Von Sandra Kegel
In diesem Jahr sind gleich zwei Romane von Autorinnen erschienen, die sich mit dem Werk von Thomas Mann beschäftigen und daraus je eigene interessante Volten schlagen. Beide Autorinnen verbindet, dass sie in zwei Hauptwerken Manns, dem "Zauberberg" und den "Buddenbrooks", einerseits lustvoll herumwühlen, daraus andererseits aber etwas entstehen lassen, was mehr ist als nur intertextuelle Referenz.
Zuerst kam vor wenigen Monaten "Empusion" von Olga Tokarczuk heraus, der erste Roman der polnischen Schriftstellerin seit der Verleihung des Literaturnobelpreises 2019. "Empusion", eine Wortschöpfung aus Symposion und einer mythologischen Schreckensgestalt, erzählt auf der Folie des "Zauberbergs" von 1924 und in Analogie zum alpinen Kurort von einem Lungensanatorium im schlesischen Görbersdorf. Dort serviert die Autorin Abend für Abend im Speisesaal unter Herren ein deftiges Bankett patriarchaler Ideen.
Anders als Tokarczuk behält Inger-Maria Mahlke in ihrem Roman "Unsereins", dem ersten seit "Archipel", für den sie 2018 den Deutschen Buchpreis erhielt, den Schauplatz Thomas Manns bei - in ihrem Fall den von "Buddenbrooks". "Unsereins" spielt während der vorigen Jahrhundertwende in Lübeck, dem "kleinsten Staat des Deutschen Kaiserreichs", wie es sich selbst nicht ganz korrekt bezeichnet. Und wie bei Mann wird in "Unsereins" der Name Lübeck, dessen Stadtgesellschaft Mahlke in diesem großangelegten Panorama beschreibt, nie genannt.
In fünfzehn Kapiteln setzt sie die Zeit zwischen 1890 und 1906 ins Bild. Sie erzählt im Präsens, was dem Text seine Kraft unmittelbaren Erlebens verleiht. Der Stoff wird entwickelt aus dem Innenleben der Figuren. Zugleich wird der Roman, und das macht die literarische Spannung dieser horizontalen Erzählung aus, spürbar aus der Gegenwart heraus geschrieben, wenn etwa en passant Anspielungen auf Algorithmen oder Drohnen fallen. Die Erzählinstanz zoomt sich wie eine Kamera aus großer Höhe, aus der sie alles überblickt, hinab und geht mitten hinein ins Geschehen der stolzen Hansestadt mit ihren vielen geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen.
Schon in der Schule müssen hier die vielen "einander überlappenden Hierarchien, unübersichtlichen Verflechtungen und sich aus ihnen ergebende Konsequenzen" gelernt sein. Den Primanern sind die feinen Unterschiede zwischen Mittelschicht und unterer Mittelschicht bewusst. Ganz oben stehen die, deren Väter im Klassenbuch als Senator oder Bürgerschaft gekennzeichnet sind. Wer Pech hat, steht unten, so wie auch Ida, das Dienstmädchen der Lindhorsts. Von einer anderen Magd erfährt sie, dass es helfe, sich bei den Kindern der Herrschaft beliebt zu machen. Das könne in späteren Jahren vor der Armut retten. Aber, fragt sich Ida, wie schließt man Freundschaft mit einem Fünfjährigen?
Die Kaufmannsfamilie Lindhorst - Friedrich und seine Frau und ihre acht Kinder - steht im Zentrum des Romans. Da sie jüdische Vorfahren haben, stoßen sie immer wieder an die Grenzen der Gesellschaft. Über sie hinaus erzählt "Unsereins" zugleich von vielen anderen Menschen, die ebenfalls nicht dazugehören, mitunter ist es hilfreich, das Personenverzeichnis vorn im Buch zu konsultieren.
Inger-Maria Mahlke stammt wie Thomas Mann aus Lübeck. Die Geschichten, die diese Stadt seit Erscheinen der "Buddenbrooks" 1901 untrennbar mit der Literatur verbindet - klagende Familienmitglieder, herumgereichte Listen, welche Herrschaften in dem Schlüsselroman Vorbild waren für welche Figuren -, sind der Autorin bestens bekannt. So hört man eine gewisse diebische Freude heraus, wenn sie den leicht blasierten Schüler Tommy auftauchen lässt, den alle hier nur "Pfau" nennen" und der stets in Begleitung seines Freundes Otto erscheint. Auch er ist eine historisch verbürgte Figur, dem wir in den "Buddenbrooks" wiederum als Kai begegnen - und der wiederum seinem Jugendfreund Thomas Mann treu ergeben ist. Dass ihn mit diesem eine "ungesunde Obsession" verbinde, wird ihm bescheinigt.
Später im Roman wird Mann, der die Schule ohne Abitur verlassen hat und schließlich in München als nahezu Unbekannter sein 1000-Seiten-Werk über den "Verfall einer Familie" schreiben und in voller Länge im Verlag S. Fischer veröffentlichen wird, für einen Vortrag nach Lübeck zurückkehren. Das Gerede und die Aufregung der Lübecker Familien hat sich bis dahin noch immer nicht gelegt.
Indem Mahlke nicht nur eine Familie, sondern eine ganze Gesellschaft und dabei insbesondere die unteren Stände in den Blick nimmt, die Dienerschaft, die Lohnarbeiter und Entwicklungen wie das Entstehen der Sozialdemokratie sowie den latenten Antisemitismus der damaligen Zeit beschreibt, weitet sie ihren Roman über Fragen der Ähnlichkeit zu Wahrheit und Dichtung Thomas Manns zu einem Werk aus eigener Kraft.
Auf fast fünfhundert Seiten entfaltet sie ihr detailliertes Panorama vom Leben Ende des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Ein ums andere Mal wird deutlich, wie nah sich die unterschiedlichen Klassen, die so sehr um gesellschaftlichen Abstand bemüht sind, räumlich tatsächlich sind. Oftmals trennen die Senatoren nur wenige Meter von den Bediensteten und Armen. Und während die einen gefangen sind im starren Reglement ihrer Schicht, sind die anderen gänzlich unfrei. Über ihre Zeit können diese nicht bestimmen, und die Mühsal, die es kostet, die Böden anderer Leute zu schrubben, zeigt eine Welt, in der längst nicht jedes Individuum zählt.
Macht und Ohnmacht, Sicherheit und Unsicherheit - in diesem Spannungsfeld bewegen sich die Romane von Inger-Maria Mahlke seit jeher. In "Rechnung offen" (2010) erzählte sie dies anhand der Bewohner eines Neuköllner Mietshauses, in "Wie Ihr wollt" (2015) anhand einer kleinwüchsigen Adligen im England des sechzehnten Jahrhunderts, die unter Hausarrest stand, obwohl sie Anspruch auf den Thron gehabt hätte. In "Archipel" machte sie dies am Beispiel der historischen Zerrissenheit einer Ferieninsel klar: Die Gegensätze findet Inger-Maria Mahlke auch in "Unsereins", wenn sie die Geschichte des Kaiserreichs und biographische Aperçus aus dem Leben Thomas Manns mit fiktiven Figuren und einem Romangeschehen vermischt - bei aller Historie aber schreibt sie immer so, dass das Erzählte zum Naherlebnis wird.
Inger-Maria Mahlke: "Unsereins". Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2023. 496 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Gegenstück zu den "Buddenbrooks" aus heutiger Perspektive ... Und ein großer Spaß. Denis Scheck WDR 3 "Mosaik" 20231127
Als der Pfau noch auf der Schulbank saß
Schlüsselfertig: Inger-Maria Mahlkes Romanpanorama "Unsereins" über die Lübecker Welt zu Zeiten Thomas Manns.
Von Sandra Kegel
In diesem Jahr sind gleich zwei Romane von Autorinnen erschienen, die sich mit dem Werk von Thomas Mann beschäftigen und daraus je eigene interessante Volten schlagen. Beide Autorinnen verbindet, dass sie in zwei Hauptwerken Manns, dem "Zauberberg" und den "Buddenbrooks", einerseits lustvoll herumwühlen, daraus andererseits aber etwas entstehen lassen, was mehr ist als nur intertextuelle Referenz.
Zuerst kam vor wenigen Monaten "Empusion" von Olga Tokarczuk heraus, der erste Roman der polnischen Schriftstellerin seit der Verleihung des Literaturnobelpreises 2019. "Empusion", eine Wortschöpfung aus Symposion und einer mythologischen Schreckensgestalt, erzählt auf der Folie des "Zauberbergs" von 1924 und in Analogie zum alpinen Kurort von einem Lungensanatorium im schlesischen Görbersdorf. Dort serviert die Autorin Abend für Abend im Speisesaal unter Herren ein deftiges Bankett patriarchaler Ideen.
Anders als Tokarczuk behält Inger-Maria Mahlke in ihrem Roman "Unsereins", dem ersten seit "Archipel", für den sie 2018 den Deutschen Buchpreis erhielt, den Schauplatz Thomas Manns bei - in ihrem Fall den von "Buddenbrooks". "Unsereins" spielt während der vorigen Jahrhundertwende in Lübeck, dem "kleinsten Staat des Deutschen Kaiserreichs", wie es sich selbst nicht ganz korrekt bezeichnet. Und wie bei Mann wird in "Unsereins" der Name Lübeck, dessen Stadtgesellschaft Mahlke in diesem großangelegten Panorama beschreibt, nie genannt.
In fünfzehn Kapiteln setzt sie die Zeit zwischen 1890 und 1906 ins Bild. Sie erzählt im Präsens, was dem Text seine Kraft unmittelbaren Erlebens verleiht. Der Stoff wird entwickelt aus dem Innenleben der Figuren. Zugleich wird der Roman, und das macht die literarische Spannung dieser horizontalen Erzählung aus, spürbar aus der Gegenwart heraus geschrieben, wenn etwa en passant Anspielungen auf Algorithmen oder Drohnen fallen. Die Erzählinstanz zoomt sich wie eine Kamera aus großer Höhe, aus der sie alles überblickt, hinab und geht mitten hinein ins Geschehen der stolzen Hansestadt mit ihren vielen geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen.
Schon in der Schule müssen hier die vielen "einander überlappenden Hierarchien, unübersichtlichen Verflechtungen und sich aus ihnen ergebende Konsequenzen" gelernt sein. Den Primanern sind die feinen Unterschiede zwischen Mittelschicht und unterer Mittelschicht bewusst. Ganz oben stehen die, deren Väter im Klassenbuch als Senator oder Bürgerschaft gekennzeichnet sind. Wer Pech hat, steht unten, so wie auch Ida, das Dienstmädchen der Lindhorsts. Von einer anderen Magd erfährt sie, dass es helfe, sich bei den Kindern der Herrschaft beliebt zu machen. Das könne in späteren Jahren vor der Armut retten. Aber, fragt sich Ida, wie schließt man Freundschaft mit einem Fünfjährigen?
Die Kaufmannsfamilie Lindhorst - Friedrich und seine Frau und ihre acht Kinder - steht im Zentrum des Romans. Da sie jüdische Vorfahren haben, stoßen sie immer wieder an die Grenzen der Gesellschaft. Über sie hinaus erzählt "Unsereins" zugleich von vielen anderen Menschen, die ebenfalls nicht dazugehören, mitunter ist es hilfreich, das Personenverzeichnis vorn im Buch zu konsultieren.
Inger-Maria Mahlke stammt wie Thomas Mann aus Lübeck. Die Geschichten, die diese Stadt seit Erscheinen der "Buddenbrooks" 1901 untrennbar mit der Literatur verbindet - klagende Familienmitglieder, herumgereichte Listen, welche Herrschaften in dem Schlüsselroman Vorbild waren für welche Figuren -, sind der Autorin bestens bekannt. So hört man eine gewisse diebische Freude heraus, wenn sie den leicht blasierten Schüler Tommy auftauchen lässt, den alle hier nur "Pfau" nennen" und der stets in Begleitung seines Freundes Otto erscheint. Auch er ist eine historisch verbürgte Figur, dem wir in den "Buddenbrooks" wiederum als Kai begegnen - und der wiederum seinem Jugendfreund Thomas Mann treu ergeben ist. Dass ihn mit diesem eine "ungesunde Obsession" verbinde, wird ihm bescheinigt.
Später im Roman wird Mann, der die Schule ohne Abitur verlassen hat und schließlich in München als nahezu Unbekannter sein 1000-Seiten-Werk über den "Verfall einer Familie" schreiben und in voller Länge im Verlag S. Fischer veröffentlichen wird, für einen Vortrag nach Lübeck zurückkehren. Das Gerede und die Aufregung der Lübecker Familien hat sich bis dahin noch immer nicht gelegt.
Indem Mahlke nicht nur eine Familie, sondern eine ganze Gesellschaft und dabei insbesondere die unteren Stände in den Blick nimmt, die Dienerschaft, die Lohnarbeiter und Entwicklungen wie das Entstehen der Sozialdemokratie sowie den latenten Antisemitismus der damaligen Zeit beschreibt, weitet sie ihren Roman über Fragen der Ähnlichkeit zu Wahrheit und Dichtung Thomas Manns zu einem Werk aus eigener Kraft.
Auf fast fünfhundert Seiten entfaltet sie ihr detailliertes Panorama vom Leben Ende des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Ein ums andere Mal wird deutlich, wie nah sich die unterschiedlichen Klassen, die so sehr um gesellschaftlichen Abstand bemüht sind, räumlich tatsächlich sind. Oftmals trennen die Senatoren nur wenige Meter von den Bediensteten und Armen. Und während die einen gefangen sind im starren Reglement ihrer Schicht, sind die anderen gänzlich unfrei. Über ihre Zeit können diese nicht bestimmen, und die Mühsal, die es kostet, die Böden anderer Leute zu schrubben, zeigt eine Welt, in der längst nicht jedes Individuum zählt.
Macht und Ohnmacht, Sicherheit und Unsicherheit - in diesem Spannungsfeld bewegen sich die Romane von Inger-Maria Mahlke seit jeher. In "Rechnung offen" (2010) erzählte sie dies anhand der Bewohner eines Neuköllner Mietshauses, in "Wie Ihr wollt" (2015) anhand einer kleinwüchsigen Adligen im England des sechzehnten Jahrhunderts, die unter Hausarrest stand, obwohl sie Anspruch auf den Thron gehabt hätte. In "Archipel" machte sie dies am Beispiel der historischen Zerrissenheit einer Ferieninsel klar: Die Gegensätze findet Inger-Maria Mahlke auch in "Unsereins", wenn sie die Geschichte des Kaiserreichs und biographische Aperçus aus dem Leben Thomas Manns mit fiktiven Figuren und einem Romangeschehen vermischt - bei aller Historie aber schreibt sie immer so, dass das Erzählte zum Naherlebnis wird.
Inger-Maria Mahlke: "Unsereins". Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2023. 496 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schlüsselfertig: Inger-Maria Mahlkes Romanpanorama "Unsereins" über die Lübecker Welt zu Zeiten Thomas Manns.
Von Sandra Kegel
In diesem Jahr sind gleich zwei Romane von Autorinnen erschienen, die sich mit dem Werk von Thomas Mann beschäftigen und daraus je eigene interessante Volten schlagen. Beide Autorinnen verbindet, dass sie in zwei Hauptwerken Manns, dem "Zauberberg" und den "Buddenbrooks", einerseits lustvoll herumwühlen, daraus andererseits aber etwas entstehen lassen, was mehr ist als nur intertextuelle Referenz.
Zuerst kam vor wenigen Monaten "Empusion" von Olga Tokarczuk heraus, der erste Roman der polnischen Schriftstellerin seit der Verleihung des Literaturnobelpreises 2019. "Empusion", eine Wortschöpfung aus Symposion und einer mythologischen Schreckensgestalt, erzählt auf der Folie des "Zauberbergs" von 1924 und in Analogie zum alpinen Kurort von einem Lungensanatorium im schlesischen Görbersdorf. Dort serviert die Autorin Abend für Abend im Speisesaal unter Herren ein deftiges Bankett patriarchaler Ideen.
Anders als Tokarczuk behält Inger-Maria Mahlke in ihrem Roman "Unsereins", dem ersten seit "Archipel", für den sie 2018 den Deutschen Buchpreis erhielt, den Schauplatz Thomas Manns bei - in ihrem Fall den von "Buddenbrooks". "Unsereins" spielt während der vorigen Jahrhundertwende in Lübeck, dem "kleinsten Staat des Deutschen Kaiserreichs", wie es sich selbst nicht ganz korrekt bezeichnet. Und wie bei Mann wird in "Unsereins" der Name Lübeck, dessen Stadtgesellschaft Mahlke in diesem großangelegten Panorama beschreibt, nie genannt.
In fünfzehn Kapiteln setzt sie die Zeit zwischen 1890 und 1906 ins Bild. Sie erzählt im Präsens, was dem Text seine Kraft unmittelbaren Erlebens verleiht. Der Stoff wird entwickelt aus dem Innenleben der Figuren. Zugleich wird der Roman, und das macht die literarische Spannung dieser horizontalen Erzählung aus, spürbar aus der Gegenwart heraus geschrieben, wenn etwa en passant Anspielungen auf Algorithmen oder Drohnen fallen. Die Erzählinstanz zoomt sich wie eine Kamera aus großer Höhe, aus der sie alles überblickt, hinab und geht mitten hinein ins Geschehen der stolzen Hansestadt mit ihren vielen geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen.
Schon in der Schule müssen hier die vielen "einander überlappenden Hierarchien, unübersichtlichen Verflechtungen und sich aus ihnen ergebende Konsequenzen" gelernt sein. Den Primanern sind die feinen Unterschiede zwischen Mittelschicht und unterer Mittelschicht bewusst. Ganz oben stehen die, deren Väter im Klassenbuch als Senator oder Bürgerschaft gekennzeichnet sind. Wer Pech hat, steht unten, so wie auch Ida, das Dienstmädchen der Lindhorsts. Von einer anderen Magd erfährt sie, dass es helfe, sich bei den Kindern der Herrschaft beliebt zu machen. Das könne in späteren Jahren vor der Armut retten. Aber, fragt sich Ida, wie schließt man Freundschaft mit einem Fünfjährigen?
Die Kaufmannsfamilie Lindhorst - Friedrich und seine Frau und ihre acht Kinder - steht im Zentrum des Romans. Da sie jüdische Vorfahren haben, stoßen sie immer wieder an die Grenzen der Gesellschaft. Über sie hinaus erzählt "Unsereins" zugleich von vielen anderen Menschen, die ebenfalls nicht dazugehören, mitunter ist es hilfreich, das Personenverzeichnis vorn im Buch zu konsultieren.
Inger-Maria Mahlke stammt wie Thomas Mann aus Lübeck. Die Geschichten, die diese Stadt seit Erscheinen der "Buddenbrooks" 1901 untrennbar mit der Literatur verbindet - klagende Familienmitglieder, herumgereichte Listen, welche Herrschaften in dem Schlüsselroman Vorbild waren für welche Figuren -, sind der Autorin bestens bekannt. So hört man eine gewisse diebische Freude heraus, wenn sie den leicht blasierten Schüler Tommy auftauchen lässt, den alle hier nur "Pfau" nennen" und der stets in Begleitung seines Freundes Otto erscheint. Auch er ist eine historisch verbürgte Figur, dem wir in den "Buddenbrooks" wiederum als Kai begegnen - und der wiederum seinem Jugendfreund Thomas Mann treu ergeben ist. Dass ihn mit diesem eine "ungesunde Obsession" verbinde, wird ihm bescheinigt.
Später im Roman wird Mann, der die Schule ohne Abitur verlassen hat und schließlich in München als nahezu Unbekannter sein 1000-Seiten-Werk über den "Verfall einer Familie" schreiben und in voller Länge im Verlag S. Fischer veröffentlichen wird, für einen Vortrag nach Lübeck zurückkehren. Das Gerede und die Aufregung der Lübecker Familien hat sich bis dahin noch immer nicht gelegt.
Indem Mahlke nicht nur eine Familie, sondern eine ganze Gesellschaft und dabei insbesondere die unteren Stände in den Blick nimmt, die Dienerschaft, die Lohnarbeiter und Entwicklungen wie das Entstehen der Sozialdemokratie sowie den latenten Antisemitismus der damaligen Zeit beschreibt, weitet sie ihren Roman über Fragen der Ähnlichkeit zu Wahrheit und Dichtung Thomas Manns zu einem Werk aus eigener Kraft.
Auf fast fünfhundert Seiten entfaltet sie ihr detailliertes Panorama vom Leben Ende des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Ein ums andere Mal wird deutlich, wie nah sich die unterschiedlichen Klassen, die so sehr um gesellschaftlichen Abstand bemüht sind, räumlich tatsächlich sind. Oftmals trennen die Senatoren nur wenige Meter von den Bediensteten und Armen. Und während die einen gefangen sind im starren Reglement ihrer Schicht, sind die anderen gänzlich unfrei. Über ihre Zeit können diese nicht bestimmen, und die Mühsal, die es kostet, die Böden anderer Leute zu schrubben, zeigt eine Welt, in der längst nicht jedes Individuum zählt.
Macht und Ohnmacht, Sicherheit und Unsicherheit - in diesem Spannungsfeld bewegen sich die Romane von Inger-Maria Mahlke seit jeher. In "Rechnung offen" (2010) erzählte sie dies anhand der Bewohner eines Neuköllner Mietshauses, in "Wie Ihr wollt" (2015) anhand einer kleinwüchsigen Adligen im England des sechzehnten Jahrhunderts, die unter Hausarrest stand, obwohl sie Anspruch auf den Thron gehabt hätte. In "Archipel" machte sie dies am Beispiel der historischen Zerrissenheit einer Ferieninsel klar: Die Gegensätze findet Inger-Maria Mahlke auch in "Unsereins", wenn sie die Geschichte des Kaiserreichs und biographische Aperçus aus dem Leben Thomas Manns mit fiktiven Figuren und einem Romangeschehen vermischt - bei aller Historie aber schreibt sie immer so, dass das Erzählte zum Naherlebnis wird.
Inger-Maria Mahlke: "Unsereins". Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2023. 496 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hellauf begeistert ist Rezensent Paul Jandl von Inger-Maria Mahlkes "Gegengeschichte zu Thomas Manns Schlüsselroman": Sie beleuchtet darin das Leben des Dienstpersonals der Buddenbrooks, wobei die Verweise auf Mann nur einen Teil des Spaßes ausmachen, den er bei der Lektüre hat, versichert er. Gerne liest Jandl von der Familie Lindhorst, die von den "weltgeschichtlichen Zentrifugalkräften" zwischen 1890 und 1906 zwar erfasst wird, doch der Fokus liegt auf dem privaten Zusammenleben, das von Syphillis bis beruflichem Misserfolg immer wieder untergraben wird. Besonderer Gewinn liegt für ihn auch darin, dass die Autorin vor dem Urbild Buddenbrooks trotzdem ihre eigene Sprache und Geschichte findet, resümiert er.
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