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© BÜCHERmagazin, Nicole Trötzer
Heimlichkeit über Heimlichkeit: Mit der Geschichte eines Homosexuellen wirft Christoph Hein ein erhellendes Licht auf die Lebensumstände in der DDR.
Als sich das Vierergespann am Silvesterabend 1957 endlich in Leipzig wiedersieht, muss sich Wolfgang den Spott der Ehefrau seines Geliebten gefallen lassen: Zwei Jahre zuvor war der junge Mann zum Kirchenmusikstudium nach West-Berlin gegangen - als Karriereentscheidung verständlich, als Lebensentscheidung schmerzlich, stellte es die Liebe von Wolfgang und Friedeward, ohnedies unter erschwerten Bedingungen, doch vor zusätzliche Probleme. Mit dem Jahreswechsel nun dürfen homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen in der DDR nicht mehr geahndet werden - anders als in der Bundesrepublik, wo Homosexualität erst zwölf Jahre später teilweise legalisiert werden wird. Auch wenn er jetzt im freien Westen lebt: Ein freier Mann könne Wolfgang nur in Leipzig sein.
Die Pointe ist eine der schönsten im neuen, an Erstaunlichem und Bestürzendem so überreichen Roman "Verwirrnis" von Christoph Hein, der eine Geschichte der Entwicklungen und Stimmungen in der DDR aus ungewohnter Perspektive erzählt: anhand der Lebensgeschichte des Friedeward Ringeling, geboren am 1. September 1933, gestorben am 18. Juni 1993 durch eigene Hand, ein Original, ein "edler Mensch", wie er von Christoph Hein gleich auf den ersten Seiten vorgestellt wird, ein gepeinigter Mensch zudem, erst durch den eigenen Vater, dann durch die Zeitläufte und den Versuch, sein Leben mit Anstand zu führen.
Es war Friedewards Heirat mit Jacqueline im Frühjahr 1960, die das schwule und das lesbische Paar, die einander an der Leipziger Universität getroffen und erkannt hatten, schließlich dem Argwohn der Familie und des Kollegenkreises entzogen haben: Friedewards Vater hatte seinen Sohn einst mit dem kaum älteren, gerade strafmündigen Freund erwischt und sich von Wolfgangs Vater nur mit Not von einer Anzeige abbringen lassen - unter der Bedingung, dass Wolfgang kurz vor dem Abitur die Stadt verlässt. Herlinde indes, Jacquelines Freundin, Professorin, ist im Mai 1955 von der Parteisekretärin der Fakultät ihres Verhältnisses beschuldigt worden, verbunden mit der Drohung, die Fakultätsleitung zu informieren, falls sie die Beziehung nicht unverzüglich beende.
Die Angst, ihre Liebe könnte öffentlich werden, treibt die Professorin noch in der Schlussszene des Buches um. Friedeward treibt sie sogar in den Tod - in einen einsamen Tod, den er nach der Entdeckung durch seinen Vater Jahrzehnte zuvor noch ausgeschlossen, als gemeinsamen Schritt mit seinem Wolfgang damals jedoch erträumt hatte. Als Friedeward wenige Monate vor seinem sechzigsten Geburtstag im Juni 1993 erfährt, dass er von der Stasi als IM geführt wurde und seinen guten Ruf nur behalten kann, falls er die Umstände einer lange zurückliegenden Erpressung offenlegt, nimmt er sich das Leben: Im Frühjahr 1982 hatte er zu einem Vortrag zu Ehren seines Doktorvaters, der sich in den Westen abgesetzt hatte, nur unter der Bedingung nach Wien reisen können, dass er von dort einen Bericht abliefert. Der Deal war mit dem giftigen Angebot gewürzt, Friedewards, "nun sagen wir, Besonderheit weiterhin in einen Mantel des Schweigens gehüllt zu lassen". Das abgeschriebene Tagungsprogramm genügte der Kontaktperson - und der Vorgang nach der Wiedervereinigung für die Feststellung der Tätigkeit als IM.
Man könnte fürchten, eine zusätzliche Folie der Heimlichkeit, Verletzlichkeit, Erpressbarkeit, wie sie das Leben Homosexueller in beiden Teilen Deutschlands so lange mitbestimmt hat, würde der Darstellung eines von Repression und Distanz bis Dissidenz geprägten Lebens in der DDR Schärfe nehmen. Tatsächlich aber gelingt Christoph Hein mit dieser Perspektive eine Art Stereo-Effekt: Manche Umstände, Ängste, Zwänge zeigen sich in "Verwirrnis" in selten gelesener Dringlichkeit. Dabei interessiert sich der Autor für die familiären Zwänge nicht etwa nur, wenn sie die gesellschaftlichen oder politischen Umstände zusätzlich erhellen. Im Gegenteil: Er verankert beispielsweise die Motivation von Friedewards Vater mit einer Sorgfalt im Biographischen, dass der Leser schon überrascht ist, nach den beiden ersten, der Hauptfigur gewidmeten Seiten über sieben Seiten so gründlich in die Lebensgeschichte des Pius Ringeling eingeführt zu werden: Sogar das Département der Kleinstadt findet Erwähnung, in deren Nähe Pius im Frühjahr 1918 eine Senfgasvergiftung durch die eigene Truppe erlitten hatte, die ihn für den Zweiten Weltkrieg kampfunfähig machte.
Die Szene allerdings, mit der Christoph Hein danach den Fokus wieder weitet und den jungen Friedeward vorstellt, ist ein wohlgesetzter Tiefschlag: Pius, zutiefst überzeugt, dass körperliche Züchtigung ein unverzichtbares pädagogisches Mittel sei, pflegte seine Söhne mit dem Siebenstriemer, einer ledernen Riemenpeitsche, zu strafen, um sie schließlich zu fragen, wen diese Strafe am meisten geschmerzt habe. Die erwartete, erzwungene Antwort: "Dich, lieber Vater, dich."
Es ist dieselbe Antwort, die Friedeward am Tag der Scheinhochzeit seinem so überaus erleichterten Vater auf dessen eigentlich rhetorische Frage gibt, der glaubt, sein Glück über diese Entwicklung mit seinem Sohn zu teilen: "Wer will schon als Sünder durch die Welt gehen, verachtet von den anderen? Und wen könnte man mehr verabscheuen als jemanden, der in Sünde lebt?"
Fünf Jahre zuvor war Friedeward mit seiner frisch Verlobten für ein paar Tage daheim in Heiligenstadt gewesen, und Jacqueline hatte es sich nicht nehmen lassen, den künftigen Schwiegervater auf den Siebenstriemer anzusprechen. Nicht nur der Rest der Familie am Tisch, auch der Leser erwartet eine Entgleisung. Stattdessen wahrt Pius selbst dann noch Fassung, als Jacqueline die Züchtigung "unmenschlich" nennt. Die Familiengeschichte der Peitsche, mit der schließlich schon sein Großvater erzogen wurde, gefolgt von der Erklärung, was er selbst dem Siebenstriemer verdanke, gehört zu den schmerzlichsten Passagen des Buches. Nur wenn es sich nicht habe vermeiden lassen, habe er vor seinen Kindern nach ihr gegriffen, "um ihnen die Verirrungen der Jugend auszutreiben". Es war wohlgetan, könne er heute sagen, schließt Pius, er habe seine Pflicht erfüllt, seine Aufgabe gemeistert. Friedeward bleibt die erwartete Zustimmung schuldig.
Von den Verdächtigungen, denen die jungen Männer auf dem Zeltplatz an der Ostsee ausgesetzt sind, bis zum Druck, unter dem die universitären Institute erst in der Zeit sozialistischer Erwartungen, dann in der struktureller Angleichung an den Westen standen, legt Christoph Hein Zeugnis ab über das Leben einer fiktiven, dabei so plastisch auserzählten Figur, dass sich der Leser dabei ertappt, in der wirklichen Geschichte auf Spurensuche nach Friedward Ringeling zu gehen. Dass der Ton der Erzählung vom gewohnt Spröden des DDR-Realismus zwei, drei Mal ins Hölzerne fast von Arbeitszeugnissen abgleitet (etwa wenn es heißt, Friedeward habe seine Sicht "stets durchdacht und präzise zu begründen" vermocht), tut der Eindringlichkeit des Romans keinen Abbruch.
FRIDTJOF KÜCHEMANN
Christoph Hein: "Verwirrnis". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 303 S., geb., 22,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
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