Wir schreiben das Jahr 1619. Deutschland friert im Jahrhundertwinter. René Descartes und sein Diener Gillot sitzen fest. Lange Spaziergänge, einsame Nächte und Gedankenspiele bestimmen ihre Tage. In hinreißend schönem und lebendigem Ton formt Durs Grünbein ein philosophisches Winterpoem, das die Gedankenwelt Descartes in seinen poetischen Bildern entfaltet und aufgehen lässt. Dieter Mann als Descartes und Udo Schenk als Gillot liefern sich Wortgefechte, die ebenso lebensklug wie komisch, ebenso melancholisch wie heiter sind. Büchnerpreisträger Durs Grünbein mit einer Hommage in Stimmen an den Winter, von ihm selbst fürs Hörspiel bearbeitet (Laufzeit: 2h 59)
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"Grünbein entwirft das Bild eines kalten, kargen Landes. Die Eleganz und die Intelligenz seiner Verse aber wärmen zumindest den Hörer."
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.12.2003Jäger im Schnee
Ein Kabinettstück: Durs Grünbeins Winterbuch der Poesie
Der Philosoph dachte und schrieb in einer Kleinen Eiszeit: keine schlechten Produktionsbedingungen für den Begründer des neuzeitlichen Rationalismus! Um 1560 setzte in Mitteleuropa eine epochale Klimaverschlechterung ein: Die Temperaturen sanken spürbar, die Winter wurden kälter, der Schnee lag länger, Seen und Flüsse vereisten häufiger und dauerhafter, die alpinen Gletscher rückten bis zum Ende des sechzehnten Jahrhunderts markant voran. In den Niederlanden, in denen der Philosoph die besten Jahre seines Lebens verbrachte, war die Durchschnittswintertemperatur, wie die Klimaforschung gezeigt hat, im ersten Viertel des siebzehnten Jahrhunderts besonders niedrig.
Die Kunst reagierte rasch auf diesen Klimawandel. Im Februar 1565 schuf Pieter Bruegel der Ältere mit seinen berühmten "Jägern im Schnee" das erste Gemälde, dessen eigentliches Thema eine Winterlandschaft bildet. In der Nachfolge Bruegels, von dessen noch im selben Jahr entstandener "Winterlandschaft mit Schlittschuhläufern und Vogelfalle" nicht weniger als 127 Kopien entstanden, wurde die Winterlandschaft zu einer höchst populären Gattung in der niederländischen Landschaftsmalerei. René Descartes (1596 bis 1650) war ein Zeitgenosse von Hendrick Avercamp, Jan van Goyen und Aert van der Neer, denen wir viele der schönsten Darstellungen in Schnee und Eis versunkener Landschaften verdanken. Es ist von hohem Reiz, sich Descartes als den idealen Betrachter dieser unter dem Pinsel des Malers eingefrorenen Landschaften vorzustellen.
Der Dichter als Ruisdael
Durs Grünbein erzählt vom Leben und Sterben des René Descartes in Form von 42 Winterbildern, und oft will es dem Leser scheinen, als hätten die Schöpfer der niederländischen Winterlandschaften des siebzehnten Jahrhunderts dem Dichter dabei die Hand geführt. "Ruisdael als Dichter" hat Goethe seinen schönsten Aufsatz zur Landschaftsmalerei betitelt; ein Aufsatz über das neue Buch von Durs Grünbein aber könnte den Titel tragen: Der Dichter als Ruisdael. Dies Buch ist ein Meisterwerk: eine Galerie aus 42 Kabinettstücken, zumeist Interieurs, in die das kalte Licht des Winters fällt, dazwischen Schneelandschaften, durch die sich einsame Spaziergänger ihren Weg bahnen.
Die Bilder haben alle dasselbe Format: sieben Strophen mit jeweils zehn alexandrinerähnlichen Versen. In dieses formale Schema wird das Leben des Descartes gebannt und dichterisch damit auf kunstvolle Weise ins Enge gezogen. Seine Welt reduziert sich auf das beleuchtete Zimmer inmitten der Eiswüste einer durch die Schneedecke reduzierten Landschaft, auf das Bett als Schneelandschaft sui generis, auf den kühlen eigenen Kopf. In dem aber hat bekanntlich die ganze Welt Raum. Und so auch in den engen Formaten der Grünbeinschen Kabinettstücke: Genreszenen aus dem Leben eines Philosophen, in denen eine ganze Welt Platz findet: "Momentlang wird ein Mensch im Schnee / Zum Ebenbild, wie er dort stapft und trägt in sich das All, / Bevor ihn Zeit schluckt, Landschaft, und sein Ruf verweht." So werden im poetischen Bild Augenblick und Ewigkeit, Landschaftsausschnitt und All ineinandergeschaltet.
Mit der Virtuosität eines Feinmalers - tatsächlich wird an einer Stelle Gerrit Dou erwähnt - kostet Grünbein als Schöpfer von Winterbildern die Effekte aus, die ihm die Affinität seines dichterischen Verfahrens zu demjenigen eines Malers eröffnet. Das zehnte Bild oder Kapitel trägt den Titel "Landschaft mit Zeichner". Es stellt den jungen Descartes und seinen Diener Gillot zu Ende des Jahres 1619 bei einem Spaziergang durch eine tiefverschneite und bitterkalte Winterlandschaft dar - und siehe da, hierbei erweist sich, wie in unserem eingangs angestellten Gedankenspiel erwogen, Descartes tatsächlich als ein genauer Kenner der zeitgenössischen niederländischen Winterbilder.
"Glühendes Eis, flambierter Schnee": in solchen petrarkistischen Oxymora faßt Descartes den Eindruck einer gleißenden Winterlandschaft zusammen, deren "Zeichner" der Teufel ist. Aber in Wahrheit kennt er diesen "flambierten Schnee" aus der Malerei: "Man sieht ihn manchmal auf Gemälden." So verwandelt sich die Winterlandschaft, die Herr und Knecht durchwandern, vor ihren Augen nun selbst in eine Serie von Bildern, die klar und deutlich von ihnen wahrgenommen werden: "Nur ihre Augen absorbieren weiter Bild um Bild. / Die Leinwand blendet."
Aber so, wie ihnen die Winterlandschaft als Bild erscheint, werden auch sie selbst als Staffage eines Winterbildes vom Leser klar und distinkt wahrgenommen. Und hier nun meldet sich so plötzlich wie unvermutet ein Ich zu Wort, das keine der erzählten Figuren repräsentiert. Es ist das Ich des Autors, das sich hier einmal - und nur an dieser Stelle! - selbst ins Bild setzt. Denn er ist der "Zeichner" dieser Landschaft, der mit seiner Einbildungskraft Zeit und Raum überwindet: "Ich seh sie noch. Was sind schon drei-, vierhundert Jahre? / Im hohen Schnee wird alles Bild. Als Winterlandschaft / Gerahmt, kehrt jede Szene wieder, die einst war." So inszeniert sich der Dichter als Landschaftsmaler in sein eigenes Bild hinein: wie ein Vedutist des siebzehnten oder achtzehnten Jahrhunderts auf seinem Repoussoir.
Durs Grünbeins Buch "Vom Schnee", das in dieser Zeitung vorabgedruckt wurde, gliedert sich auf eine Weise in zwei Teile, die von ferne an Petrarcas "Canzoniere" mit seiner Aufteilung der Gedichte "in vita" und "in morte di Madonna Laura" erinnert. Der 31 Szenen umfassende erste Teil der Verserzählung spielt in jenem Winter 1619/20, den der junge Descartes, der seit 1618 in den Diensten des Statthalters Moritz von Nassau und Tillys stand, im Winterlager bei Ulm verbrachte: in dem entscheidenden Abschnitt seines Lebens also, als sich bei Descartes jene innere Revolution vollzog, die in die Ausbildung der Gewißheit des "cogito ergo sum" und seiner Methode, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, mündete.
Der zweite, mit elf Kapiteln sehr viel kürzere Teil erzählt vom Tod des alternden Philosophen im kalten Winter 1649/50, den er am Hof der Königin Christine in Stockholm verbrachte. Vita et mors, Leben und Tod: auf diese beiden Pole konzentriert Grünbein seine Erzählung - dazwischen aber erstreckt sich die weite Todeslandschaft des Dreißigjährigen Krieges, der in Erwartung und Erinnerung des skeptischen Rationalisten beständig gegenwärtig ist. Von der riskanten Welt dieser europäischen Eiszeit, in der der Schnee vom Krieg "flambiert" wurde, spricht Durs Grünbein wie ein Andreas Gryphius des 21. Jahrhunderts: "Die Wette gilt - der nächste Tag zertritt wie Gras / Die heile Welt von gestern, die das Kindchen wiegt. / Was einmal jung war und begehrt, wird schließlich Aas. / Träg ist der Leib, Not macht erfinderisch. Der Krieg / Tritt rasch ins Haus - so ungebeten wie die Pest. / Das Epos Leben zehrt davon, daß keiner sich recht freut. / Hier reift ein Held heran, da ein Verrat, dort ein Abszeß, / Nach dem Prinzip der isolierten Bilder - täglich neu."
Es macht die Größe dieses philosophischen Winterbuchs als Poesie aus, daß es nie die Gedankenwelt des Descartes referiert, sondern sie ganz und gar aufgehen läßt im poetischen Bild: in den Träumen des Denkers, in seinen Empfindungen und Wahrnehmungen, im Wechselspiel von Figur und Landschaft, in den Dialogen des jungen Herrn mit seinem Faktotum Gillot. Darin erinnert Grünbeins dichterisches Verfahren an dasjenige des herrlichsten philosophischen Sommerbuchs, Diderots "Jacques le fataliste", in dem aller Ernst der Philosophie aufgehoben wird in der schwerelosen Heiterkeit der Erzählung. Grünbeins Erzählung aber ist von schwerelosem Ernst - und dies nicht allein deshalb, weil sie, anders als diejenige Diderots, grundiert ist von der Allgegenwart des Krieges und weil sie schließlich in den Tod mündet, während Diderots Roman mit komödiantischer Verehelichung schließt. Sondern dieser Ernst resultiert auch daraus, daß Grünbeins Erzählung, ihrem Gegenstand gemäß, immer in den Grenzen des einsam denkenden Ich verbleibt.
"Ich war nur Kopf und Handschrift": so beschreibt Descartes in dem 21. Kapitel, das die Mitte des Buches bildet, seine Situation in dem verschneiten süddeutschen Dorf in jenem Augenblick der Inspiration, da ihm die erlösende Gewißheit zuteil wurde: "Ich war erlöst. Ich war ein neuer Mensch. Erst jetzt / War ich mir sicher: ja, René - du bist, du bist." Aber die Wiedergewinnung der Gewißheit, in die der bis an seine äußerste Grenze geführte Skeptizismus umschlägt, hebt die Einsamkeit des Ich nicht auf, sondern bestätigt sie: "Ich seh ihn noch, die Stirn gesenkt, / Den jungen Mann im Zimmer: mich. Der Winter hält / Den Tag mit Eisenpranken. Und ein Menschlein überdenkt / Die große Unbekannte draußen - jene Glitzerwelt. / ,Tabula rasa' murmelt er, der dort noch immer sitzt. / Er atmet ruhig. Er scheint weit weg. Er lacht verschmitzt." Die vom Schnee in ihrem Formenreichtum reduzierte Naturszenerie ist nicht allein die Spielfläche der analytischen Geometrie und einer Vernunft, für die die Welt berechenbar wurde - "Schnee abstrahiert. Nehmt an, er hat das Bett gemacht / Für die Vernunft." -, sondern sie ist in Grünbeins Buch zugleich eine allegorische Landschaft, in der sich die Situation des denkenden Ich im Zeitalter des neuzeitlichen Rationalismus poetisch vergegenwärtigt. Die Welt als Tabula rasa, ihr Zentrum: das einsam denkende Ich.
Kleine Eiszeit des Denkers
Daß dieses ernste Poem in jedem seiner Verse dennoch nahezu schwerelos erscheint, dafür sorgt eine Sprache von solcher Biegsamkeit, solcher Geschmeidigkeit und solchem Variationsreichtum, wie sie in der deutschen Gegenwartsliteratur ohne Beispiel sein dürften. Das historische Versepos hat seine letzte große Blüte in der deutschen Literatur während der Biedermeierzeit erfahren: in "Die Schlacht im Loener Bruch" der Droste etwa oder in Lenaus "Albigensern"-Texten. An diese Tradition läßt sich nicht mehr anschließen. Der historisierende Duktus, in den Grünbein seinen Text kleidet, wird denn auch auf virtuose Weise ironisch gebrochen durch eine Vielfalt von Stilzitaten, die sich vom Balladenton ("Bei Lützen wars") über das Geschichtsdrama bis zum historischen Roman erstrecken, und manchmal klingt, willentlich oder unwillentlich, auch ein wenig Wilhelm Busch hervor: "Ein Thermometer mißt zum ersten Male hohes Fieber. / Der Logarithmentafel folgt der Rechenschieber." Dies alles aber fügt sich einem poetischen Duktus ein, der vor allem durch eines charakterisiert wird: durch jene Entspanntheit und Unangestrengtheit eines dichterischen Zugriffs, die allein Meisterschaft gewährt. So formt sich dem Dichter als Landschaftsmaler das Bild des Denkers in der Kleinen Eiszeit aus der Präzision der Wahrnehmung, des künstlerischen Gedankens und der sprachlichen Vergegenwärtigung zu einer Winterlandschaft, in deren Unwirtlichkeit auch der Betrachter des 21. Jahrhunderts sich zu spiegeln vermag.
Durs Grünbein: "Vom Schnee oder Descartes in Deutschland". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 144 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Kabinettstück: Durs Grünbeins Winterbuch der Poesie
Der Philosoph dachte und schrieb in einer Kleinen Eiszeit: keine schlechten Produktionsbedingungen für den Begründer des neuzeitlichen Rationalismus! Um 1560 setzte in Mitteleuropa eine epochale Klimaverschlechterung ein: Die Temperaturen sanken spürbar, die Winter wurden kälter, der Schnee lag länger, Seen und Flüsse vereisten häufiger und dauerhafter, die alpinen Gletscher rückten bis zum Ende des sechzehnten Jahrhunderts markant voran. In den Niederlanden, in denen der Philosoph die besten Jahre seines Lebens verbrachte, war die Durchschnittswintertemperatur, wie die Klimaforschung gezeigt hat, im ersten Viertel des siebzehnten Jahrhunderts besonders niedrig.
Die Kunst reagierte rasch auf diesen Klimawandel. Im Februar 1565 schuf Pieter Bruegel der Ältere mit seinen berühmten "Jägern im Schnee" das erste Gemälde, dessen eigentliches Thema eine Winterlandschaft bildet. In der Nachfolge Bruegels, von dessen noch im selben Jahr entstandener "Winterlandschaft mit Schlittschuhläufern und Vogelfalle" nicht weniger als 127 Kopien entstanden, wurde die Winterlandschaft zu einer höchst populären Gattung in der niederländischen Landschaftsmalerei. René Descartes (1596 bis 1650) war ein Zeitgenosse von Hendrick Avercamp, Jan van Goyen und Aert van der Neer, denen wir viele der schönsten Darstellungen in Schnee und Eis versunkener Landschaften verdanken. Es ist von hohem Reiz, sich Descartes als den idealen Betrachter dieser unter dem Pinsel des Malers eingefrorenen Landschaften vorzustellen.
Der Dichter als Ruisdael
Durs Grünbein erzählt vom Leben und Sterben des René Descartes in Form von 42 Winterbildern, und oft will es dem Leser scheinen, als hätten die Schöpfer der niederländischen Winterlandschaften des siebzehnten Jahrhunderts dem Dichter dabei die Hand geführt. "Ruisdael als Dichter" hat Goethe seinen schönsten Aufsatz zur Landschaftsmalerei betitelt; ein Aufsatz über das neue Buch von Durs Grünbein aber könnte den Titel tragen: Der Dichter als Ruisdael. Dies Buch ist ein Meisterwerk: eine Galerie aus 42 Kabinettstücken, zumeist Interieurs, in die das kalte Licht des Winters fällt, dazwischen Schneelandschaften, durch die sich einsame Spaziergänger ihren Weg bahnen.
Die Bilder haben alle dasselbe Format: sieben Strophen mit jeweils zehn alexandrinerähnlichen Versen. In dieses formale Schema wird das Leben des Descartes gebannt und dichterisch damit auf kunstvolle Weise ins Enge gezogen. Seine Welt reduziert sich auf das beleuchtete Zimmer inmitten der Eiswüste einer durch die Schneedecke reduzierten Landschaft, auf das Bett als Schneelandschaft sui generis, auf den kühlen eigenen Kopf. In dem aber hat bekanntlich die ganze Welt Raum. Und so auch in den engen Formaten der Grünbeinschen Kabinettstücke: Genreszenen aus dem Leben eines Philosophen, in denen eine ganze Welt Platz findet: "Momentlang wird ein Mensch im Schnee / Zum Ebenbild, wie er dort stapft und trägt in sich das All, / Bevor ihn Zeit schluckt, Landschaft, und sein Ruf verweht." So werden im poetischen Bild Augenblick und Ewigkeit, Landschaftsausschnitt und All ineinandergeschaltet.
Mit der Virtuosität eines Feinmalers - tatsächlich wird an einer Stelle Gerrit Dou erwähnt - kostet Grünbein als Schöpfer von Winterbildern die Effekte aus, die ihm die Affinität seines dichterischen Verfahrens zu demjenigen eines Malers eröffnet. Das zehnte Bild oder Kapitel trägt den Titel "Landschaft mit Zeichner". Es stellt den jungen Descartes und seinen Diener Gillot zu Ende des Jahres 1619 bei einem Spaziergang durch eine tiefverschneite und bitterkalte Winterlandschaft dar - und siehe da, hierbei erweist sich, wie in unserem eingangs angestellten Gedankenspiel erwogen, Descartes tatsächlich als ein genauer Kenner der zeitgenössischen niederländischen Winterbilder.
"Glühendes Eis, flambierter Schnee": in solchen petrarkistischen Oxymora faßt Descartes den Eindruck einer gleißenden Winterlandschaft zusammen, deren "Zeichner" der Teufel ist. Aber in Wahrheit kennt er diesen "flambierten Schnee" aus der Malerei: "Man sieht ihn manchmal auf Gemälden." So verwandelt sich die Winterlandschaft, die Herr und Knecht durchwandern, vor ihren Augen nun selbst in eine Serie von Bildern, die klar und deutlich von ihnen wahrgenommen werden: "Nur ihre Augen absorbieren weiter Bild um Bild. / Die Leinwand blendet."
Aber so, wie ihnen die Winterlandschaft als Bild erscheint, werden auch sie selbst als Staffage eines Winterbildes vom Leser klar und distinkt wahrgenommen. Und hier nun meldet sich so plötzlich wie unvermutet ein Ich zu Wort, das keine der erzählten Figuren repräsentiert. Es ist das Ich des Autors, das sich hier einmal - und nur an dieser Stelle! - selbst ins Bild setzt. Denn er ist der "Zeichner" dieser Landschaft, der mit seiner Einbildungskraft Zeit und Raum überwindet: "Ich seh sie noch. Was sind schon drei-, vierhundert Jahre? / Im hohen Schnee wird alles Bild. Als Winterlandschaft / Gerahmt, kehrt jede Szene wieder, die einst war." So inszeniert sich der Dichter als Landschaftsmaler in sein eigenes Bild hinein: wie ein Vedutist des siebzehnten oder achtzehnten Jahrhunderts auf seinem Repoussoir.
Durs Grünbeins Buch "Vom Schnee", das in dieser Zeitung vorabgedruckt wurde, gliedert sich auf eine Weise in zwei Teile, die von ferne an Petrarcas "Canzoniere" mit seiner Aufteilung der Gedichte "in vita" und "in morte di Madonna Laura" erinnert. Der 31 Szenen umfassende erste Teil der Verserzählung spielt in jenem Winter 1619/20, den der junge Descartes, der seit 1618 in den Diensten des Statthalters Moritz von Nassau und Tillys stand, im Winterlager bei Ulm verbrachte: in dem entscheidenden Abschnitt seines Lebens also, als sich bei Descartes jene innere Revolution vollzog, die in die Ausbildung der Gewißheit des "cogito ergo sum" und seiner Methode, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, mündete.
Der zweite, mit elf Kapiteln sehr viel kürzere Teil erzählt vom Tod des alternden Philosophen im kalten Winter 1649/50, den er am Hof der Königin Christine in Stockholm verbrachte. Vita et mors, Leben und Tod: auf diese beiden Pole konzentriert Grünbein seine Erzählung - dazwischen aber erstreckt sich die weite Todeslandschaft des Dreißigjährigen Krieges, der in Erwartung und Erinnerung des skeptischen Rationalisten beständig gegenwärtig ist. Von der riskanten Welt dieser europäischen Eiszeit, in der der Schnee vom Krieg "flambiert" wurde, spricht Durs Grünbein wie ein Andreas Gryphius des 21. Jahrhunderts: "Die Wette gilt - der nächste Tag zertritt wie Gras / Die heile Welt von gestern, die das Kindchen wiegt. / Was einmal jung war und begehrt, wird schließlich Aas. / Träg ist der Leib, Not macht erfinderisch. Der Krieg / Tritt rasch ins Haus - so ungebeten wie die Pest. / Das Epos Leben zehrt davon, daß keiner sich recht freut. / Hier reift ein Held heran, da ein Verrat, dort ein Abszeß, / Nach dem Prinzip der isolierten Bilder - täglich neu."
Es macht die Größe dieses philosophischen Winterbuchs als Poesie aus, daß es nie die Gedankenwelt des Descartes referiert, sondern sie ganz und gar aufgehen läßt im poetischen Bild: in den Träumen des Denkers, in seinen Empfindungen und Wahrnehmungen, im Wechselspiel von Figur und Landschaft, in den Dialogen des jungen Herrn mit seinem Faktotum Gillot. Darin erinnert Grünbeins dichterisches Verfahren an dasjenige des herrlichsten philosophischen Sommerbuchs, Diderots "Jacques le fataliste", in dem aller Ernst der Philosophie aufgehoben wird in der schwerelosen Heiterkeit der Erzählung. Grünbeins Erzählung aber ist von schwerelosem Ernst - und dies nicht allein deshalb, weil sie, anders als diejenige Diderots, grundiert ist von der Allgegenwart des Krieges und weil sie schließlich in den Tod mündet, während Diderots Roman mit komödiantischer Verehelichung schließt. Sondern dieser Ernst resultiert auch daraus, daß Grünbeins Erzählung, ihrem Gegenstand gemäß, immer in den Grenzen des einsam denkenden Ich verbleibt.
"Ich war nur Kopf und Handschrift": so beschreibt Descartes in dem 21. Kapitel, das die Mitte des Buches bildet, seine Situation in dem verschneiten süddeutschen Dorf in jenem Augenblick der Inspiration, da ihm die erlösende Gewißheit zuteil wurde: "Ich war erlöst. Ich war ein neuer Mensch. Erst jetzt / War ich mir sicher: ja, René - du bist, du bist." Aber die Wiedergewinnung der Gewißheit, in die der bis an seine äußerste Grenze geführte Skeptizismus umschlägt, hebt die Einsamkeit des Ich nicht auf, sondern bestätigt sie: "Ich seh ihn noch, die Stirn gesenkt, / Den jungen Mann im Zimmer: mich. Der Winter hält / Den Tag mit Eisenpranken. Und ein Menschlein überdenkt / Die große Unbekannte draußen - jene Glitzerwelt. / ,Tabula rasa' murmelt er, der dort noch immer sitzt. / Er atmet ruhig. Er scheint weit weg. Er lacht verschmitzt." Die vom Schnee in ihrem Formenreichtum reduzierte Naturszenerie ist nicht allein die Spielfläche der analytischen Geometrie und einer Vernunft, für die die Welt berechenbar wurde - "Schnee abstrahiert. Nehmt an, er hat das Bett gemacht / Für die Vernunft." -, sondern sie ist in Grünbeins Buch zugleich eine allegorische Landschaft, in der sich die Situation des denkenden Ich im Zeitalter des neuzeitlichen Rationalismus poetisch vergegenwärtigt. Die Welt als Tabula rasa, ihr Zentrum: das einsam denkende Ich.
Kleine Eiszeit des Denkers
Daß dieses ernste Poem in jedem seiner Verse dennoch nahezu schwerelos erscheint, dafür sorgt eine Sprache von solcher Biegsamkeit, solcher Geschmeidigkeit und solchem Variationsreichtum, wie sie in der deutschen Gegenwartsliteratur ohne Beispiel sein dürften. Das historische Versepos hat seine letzte große Blüte in der deutschen Literatur während der Biedermeierzeit erfahren: in "Die Schlacht im Loener Bruch" der Droste etwa oder in Lenaus "Albigensern"-Texten. An diese Tradition läßt sich nicht mehr anschließen. Der historisierende Duktus, in den Grünbein seinen Text kleidet, wird denn auch auf virtuose Weise ironisch gebrochen durch eine Vielfalt von Stilzitaten, die sich vom Balladenton ("Bei Lützen wars") über das Geschichtsdrama bis zum historischen Roman erstrecken, und manchmal klingt, willentlich oder unwillentlich, auch ein wenig Wilhelm Busch hervor: "Ein Thermometer mißt zum ersten Male hohes Fieber. / Der Logarithmentafel folgt der Rechenschieber." Dies alles aber fügt sich einem poetischen Duktus ein, der vor allem durch eines charakterisiert wird: durch jene Entspanntheit und Unangestrengtheit eines dichterischen Zugriffs, die allein Meisterschaft gewährt. So formt sich dem Dichter als Landschaftsmaler das Bild des Denkers in der Kleinen Eiszeit aus der Präzision der Wahrnehmung, des künstlerischen Gedankens und der sprachlichen Vergegenwärtigung zu einer Winterlandschaft, in deren Unwirtlichkeit auch der Betrachter des 21. Jahrhunderts sich zu spiegeln vermag.
Durs Grünbein: "Vom Schnee oder Descartes in Deutschland". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 144 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Ernst Osterkamp ist einfach hingerissen von Durs Grünbeins 42 Winterbildern zu Rene Descartes, die alle dasselbe Format haben: sieben Strophen mit jeweils zehn "alexandrinerähnlichen" Versen. In dieses formale Schema fand der Rezensent das Leben, Denken und Sterben Descartes' gebannt, ohne zu referieren, sondern ganz "im poetischen Bild" aufgehend. Wobei die Nähe zur Malerei gewollt ist: Descartes betrachtet die winterliche Landschaft mit Augen, die an den Bildern der flämischen Maler geschult sind und wird dabei selbst zum Bild für die Leser, so Osterkamp, der Beobachtungsgabe und Präzision des Denkens bei Descartes und Grünbein gleichermaßen findet. Selbst ironische Brechungen kann Grünbein mit leichter Hand einfügen, ohne seinen Gegenstand zu verkleinern. Meisterlich, rühmt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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