Spätestens seit dem Beginn von Wladimir Putins zunehmend aggressivem Vernichtungskrieg gegen die Ukraine im Februar 2022 ist klar: Eine friedliche Weltordnung MIT Putin ist kaum denkbar. Doch wie kann ein totalitäres Regime beendet werden? Durch wen? Eher von innen oder von außen? Gäbe es überhaupt eine Chance auf einen einigermaßen friedlichen Machtwechsel? Und wer käme dann in Russland an die Macht – und wie würde diese aussehen? Diese drängenden Fragen werden nicht nur von Politikern und Entscheidungsträgern gestellt, sondern im Grunde von allen freiheitsliebenden Menschen in Russland und auf der ganzen Welt. Weit entfernt von jeglicher Besserwisserei, stellt der Autor in Wie man einen Drachen tötet unbequeme Fragen, wie z.B. die nach der Gewaltlosigkeit, und leitet die daraus resultierenden Handlungsoptionen ab. Damit will er keine Patentrezepte liefern, sondern eine längst überfällige Diskussion anstoßen sowie Lösungen für eine Umgestaltung des russischen Staates vorzuschlagen, die künftigen Machtmissbrauch verhindern würde. Das zentrale Argument des Buches ist, dass eine parlamentarische Republik mit einem sorgfältig austarierten System von Kontrollen und Gegengewichten das derzeitige Modell der russischen Staatlichkeit ersetzen muss, welches den Präsidenten mit einer außerordentlichen Fülle an Befugnissen ausstattet – und mit viel zu vielen Möglichkeiten, einseitige Entscheidungen zu treffen.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.02.2023So geht Revolution
Der einstige Oligarch und jetzige Kremlkritiker Michail Chodorkowskij hat eine Anleitung zum Sturz Putins geschrieben
Wie der stolze Bezwinger eines Ungeheuers aus einem Märchen sieht der Mann auf der Bühne des Literaturhauses in München nicht aus. Keine goldene Rüstung, kein Schild, keine Lanze. Er trägt eher die an Steve Jobs angelehnte Tracht jener Superreichen, die lieber in der Ecke der Philosophen gesehen werden möchten, denn in der der Protzer: Kurze graue Haare, randlose Brille, blaue Jeans. Und die Applewatch ragt zwar nicht aus dem Ärmel eines schwarzen Rollkragenpullis, aber aus dem eines sehr dezenten schwarzen Sakkos.
Michail Chodorkowskij, einst nach Schätzungen fast doppelt so reich wie der Apple-Gründer, hat aber ja auch keinen Drachen getötet. Im Gegenteil, er wäre im Kampf mit einem selbst fast umgekommen: Um die Jahrtausendwende geriet der mächtigste aller russischen Oligarchen mit dem mächtigsten aller russischen Politiker aneinander, verschwand in Arbeitslagern, kam zehn Jahre später und entgegen aller Wahrscheinlichkeiten frei. Er verdanke dem Mann im Kreml sein Leben, sagt Chodorkowskij heute, dem Mann, der ihn zuvor einsperren ließ.
Devot geworden ist der seit zehn Jahren in London lebende Chodorkowskij deshalb aber nicht. „Wie man einen Drachen tötet. Handbuch für angehende Revolutionäre“ heißt sein neues Buch, das pünktlich zum Auftakt der Münchner Sicherheitskonferenz erscheint und das er hier am Vorabend vorstellt. Der Drache ist – „guess who?“, fragt die den Abend moderierende Journalistin Katja Gloger – Wladimir Putin.
Auf den Straßen um das Hotel Bayerischer Hof meint man an diesem Abend mehr Russisch als sonst zu hören. Bei früheren Ausgaben der Sicherheitskonferenz hatte mal eher Arabisch, mal eher Persisch Konjunktur – München im Februar ist ein guter Ort, um sich als Machtalternative zu präsentieren oder ein paar alte Kontakte mit neuen Ideen zu versorgen. Fast die gesamte Opposition aus seinem Land sei dieses Jahr hier, sagt Chodorkowskij auf der Bühne – also die demokratische Opposition. Dass es in Russland auch noch Alternativen von rechts gibt, Menschen, die finden, Putin bombardiere die Ukraine nicht genug, will man sich lieber nicht zu genau vorstellen.
Chodorkowskij selbst sieht sich laut seinem Buch eher nicht auf dem Präsidentenstuhl hinter einem der langen Tische im Kreml. Aber er hat für seine oppositionellen Freunde in einem dünnen Band aufgeschrieben, wie aus seiner Sicht ein Machtwechsel nach einer Niederlage Russlands im Krieg gegen die Ukraine gelingen könnte, die sei Grundbedingung.
Revolutionäre in spe, die zehn Euro für die gerade mal 104 Seiten ausgegeben haben, finden im ersten Teil knappe Handreichungen zu klar umrissenen Fragen: „Wie zieht man den Protest heran: Untergrund oder Exil?“ (Exil, wegen der technischen Überwachungsmöglichkeiten im Inland). „The Point of no return: Straße oder Kommandohöhen?“ (Wer eine Revolution anführen will, muss an deren Spitze stehen und darf vor Grausamkeiten nicht zurückschrecken). „Wie unterdrückt man die Konterrevolution: Lustration oder Besserung?“ (Die ganz bösen Buben bestrafen, Güte gegenüber dem Rest).
Im zweiten Teil legt Chodorkowskij dann dar, „wie man es vermeidet, einen neuen Drachen heranzuzüchten“ – und hier klingen seine Ideen zumindest mit dem Blick auf heutige Realitäten dann doch nach einem Märchen, einem so fernen wie schönen. Er beschreibt, wie sich das politische System des Landes in der Folge verändern müsste, „dass Russland keine Bedrohung mehr für seine Nachbarn ist – und auch nicht für sich selbst“: Ausgeprägter Föderalismus könne den Machthunger der Zentrale brechen, strikter Parlamentarismus den eines neuen Mannes im Präsidentenamt.
Interessant ist, wie der einstige Ölmagnat, der sich selbst einmal als „Räuberbaron“ bezeichnete, als er über die Zeit sprach, in der er sein Vermögen zusammentrug, unweigerlich auftretende Frustrationen der Bevölkerung in einer Nachrevolutionszeit abfedern will: durch
Erbschaftsteuern, die Beschlagnahmungen hoher Vermögen nahekommen, durch Bürgerkonten, durch die jeder und jede in Russland von den Erträgen der (wohl verstaatlichten) Rohstoffe profitieren kann. „Kommt eine demokratische Koalition mit linker Tagesordnung nicht zustande, dann sind die Chancen auf einen friedlichen Machtwechsel auf demokratischem Wege gering“, schreibt Chodorkowskij.
Der Abend im Begleitprogramm der eher nicht dezidiert linken Münchner Sicherheitskonferenz endet indes mit einer Referenz an einen Liberalen. Als die Sprache auf die fehlende Aufarbeitung der Gewaltgeschichte in Russland kommt, erzählt Chodorkowskij, dass es Hans-Dietrich Genscher gewesen sei, der seine Freilassung durch aufopferungsvollen Einsatz erreicht habe. Bei einem späteren Treffen habe ihm der FDPler erzählt, dass er sich als Buße für seine Zeit bei der Wehrmacht auferlegt habe, das Leben von zumindest einem Russen zu retten – und er, Chodorkowskij, sei dann dieser Russe gewesen. Drachenbezwinger tragen eben nicht immer goldene Rüstungen. Gelbe Pullunder tun es anscheinend auch.
MORITZ BAUMSTIEGER
Kremlkritiker
Michail Chodorkowskij, 59,
lebt heute in London.
Foto: dpa
Michail Chodorkowski: Wie man einen Drachen tötet. Handbuch für angehende Revolutionäre. Aus dem Russischen von Olaf Kühl. Europa Verlag, München 2023, 104 Seiten, 10 Euro.
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Der einstige Oligarch und jetzige Kremlkritiker Michail Chodorkowskij hat eine Anleitung zum Sturz Putins geschrieben
Wie der stolze Bezwinger eines Ungeheuers aus einem Märchen sieht der Mann auf der Bühne des Literaturhauses in München nicht aus. Keine goldene Rüstung, kein Schild, keine Lanze. Er trägt eher die an Steve Jobs angelehnte Tracht jener Superreichen, die lieber in der Ecke der Philosophen gesehen werden möchten, denn in der der Protzer: Kurze graue Haare, randlose Brille, blaue Jeans. Und die Applewatch ragt zwar nicht aus dem Ärmel eines schwarzen Rollkragenpullis, aber aus dem eines sehr dezenten schwarzen Sakkos.
Michail Chodorkowskij, einst nach Schätzungen fast doppelt so reich wie der Apple-Gründer, hat aber ja auch keinen Drachen getötet. Im Gegenteil, er wäre im Kampf mit einem selbst fast umgekommen: Um die Jahrtausendwende geriet der mächtigste aller russischen Oligarchen mit dem mächtigsten aller russischen Politiker aneinander, verschwand in Arbeitslagern, kam zehn Jahre später und entgegen aller Wahrscheinlichkeiten frei. Er verdanke dem Mann im Kreml sein Leben, sagt Chodorkowskij heute, dem Mann, der ihn zuvor einsperren ließ.
Devot geworden ist der seit zehn Jahren in London lebende Chodorkowskij deshalb aber nicht. „Wie man einen Drachen tötet. Handbuch für angehende Revolutionäre“ heißt sein neues Buch, das pünktlich zum Auftakt der Münchner Sicherheitskonferenz erscheint und das er hier am Vorabend vorstellt. Der Drache ist – „guess who?“, fragt die den Abend moderierende Journalistin Katja Gloger – Wladimir Putin.
Auf den Straßen um das Hotel Bayerischer Hof meint man an diesem Abend mehr Russisch als sonst zu hören. Bei früheren Ausgaben der Sicherheitskonferenz hatte mal eher Arabisch, mal eher Persisch Konjunktur – München im Februar ist ein guter Ort, um sich als Machtalternative zu präsentieren oder ein paar alte Kontakte mit neuen Ideen zu versorgen. Fast die gesamte Opposition aus seinem Land sei dieses Jahr hier, sagt Chodorkowskij auf der Bühne – also die demokratische Opposition. Dass es in Russland auch noch Alternativen von rechts gibt, Menschen, die finden, Putin bombardiere die Ukraine nicht genug, will man sich lieber nicht zu genau vorstellen.
Chodorkowskij selbst sieht sich laut seinem Buch eher nicht auf dem Präsidentenstuhl hinter einem der langen Tische im Kreml. Aber er hat für seine oppositionellen Freunde in einem dünnen Band aufgeschrieben, wie aus seiner Sicht ein Machtwechsel nach einer Niederlage Russlands im Krieg gegen die Ukraine gelingen könnte, die sei Grundbedingung.
Revolutionäre in spe, die zehn Euro für die gerade mal 104 Seiten ausgegeben haben, finden im ersten Teil knappe Handreichungen zu klar umrissenen Fragen: „Wie zieht man den Protest heran: Untergrund oder Exil?“ (Exil, wegen der technischen Überwachungsmöglichkeiten im Inland). „The Point of no return: Straße oder Kommandohöhen?“ (Wer eine Revolution anführen will, muss an deren Spitze stehen und darf vor Grausamkeiten nicht zurückschrecken). „Wie unterdrückt man die Konterrevolution: Lustration oder Besserung?“ (Die ganz bösen Buben bestrafen, Güte gegenüber dem Rest).
Im zweiten Teil legt Chodorkowskij dann dar, „wie man es vermeidet, einen neuen Drachen heranzuzüchten“ – und hier klingen seine Ideen zumindest mit dem Blick auf heutige Realitäten dann doch nach einem Märchen, einem so fernen wie schönen. Er beschreibt, wie sich das politische System des Landes in der Folge verändern müsste, „dass Russland keine Bedrohung mehr für seine Nachbarn ist – und auch nicht für sich selbst“: Ausgeprägter Föderalismus könne den Machthunger der Zentrale brechen, strikter Parlamentarismus den eines neuen Mannes im Präsidentenamt.
Interessant ist, wie der einstige Ölmagnat, der sich selbst einmal als „Räuberbaron“ bezeichnete, als er über die Zeit sprach, in der er sein Vermögen zusammentrug, unweigerlich auftretende Frustrationen der Bevölkerung in einer Nachrevolutionszeit abfedern will: durch
Erbschaftsteuern, die Beschlagnahmungen hoher Vermögen nahekommen, durch Bürgerkonten, durch die jeder und jede in Russland von den Erträgen der (wohl verstaatlichten) Rohstoffe profitieren kann. „Kommt eine demokratische Koalition mit linker Tagesordnung nicht zustande, dann sind die Chancen auf einen friedlichen Machtwechsel auf demokratischem Wege gering“, schreibt Chodorkowskij.
Der Abend im Begleitprogramm der eher nicht dezidiert linken Münchner Sicherheitskonferenz endet indes mit einer Referenz an einen Liberalen. Als die Sprache auf die fehlende Aufarbeitung der Gewaltgeschichte in Russland kommt, erzählt Chodorkowskij, dass es Hans-Dietrich Genscher gewesen sei, der seine Freilassung durch aufopferungsvollen Einsatz erreicht habe. Bei einem späteren Treffen habe ihm der FDPler erzählt, dass er sich als Buße für seine Zeit bei der Wehrmacht auferlegt habe, das Leben von zumindest einem Russen zu retten – und er, Chodorkowskij, sei dann dieser Russe gewesen. Drachenbezwinger tragen eben nicht immer goldene Rüstungen. Gelbe Pullunder tun es anscheinend auch.
MORITZ BAUMSTIEGER
Kremlkritiker
Michail Chodorkowskij, 59,
lebt heute in London.
Foto: dpa
Michail Chodorkowski: Wie man einen Drachen tötet. Handbuch für angehende Revolutionäre. Aus dem Russischen von Olaf Kühl. Europa Verlag, München 2023, 104 Seiten, 10 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Thomas Zaugg bleibt skeptisch angesichts von Michail Chodorkowskis Vision eines Russland nach Putin. Schön, dass der ehemalige Oligarch sich in vielem geläutert zeigt, findet Zaugg. Aber die Schlussfolgerungen, die der Autor aus seiner Analyse der russischen Geschichte und des Teufelskreises, der immer wieder in die Stagnation und Repression zurückführte, zieht, scheinen Zaugg nicht zu überzeugen. Zu sehr bezieht sich der Autor auf ein urbanes, polyglottes Russland, findet er. Chodorkowskis Russland der Zukunft ist ein eklektizistisch zusammengebasteltes Idyll, mokiert sich Zaugg.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Drachentöter ist weit mehr als "nur" ein weiteres Buch über die Geschichte Russlands. Manche mögen es als politikwissenschaftliche Abhandlung betrachten, andere als ein Manifest für wahre russische Demokraten. In gewisser Weise ist es beides. Vor allem aber würde ich es als ein Werk der praktischen Philosophie bezeichnen. Und warum? Den entscheidenden Hinweis gibt die Überschrift des letzten Kapitels: »Eine Frage der Moral: Gerechtigkeit oder Barmherzigkeit?« Darin heißt es: Ich bin fest davon überzeugt, dass eine Revolution in Russland unvermeidlich und dringend notwendig ist. Das ändert nichts an meiner extremen Abneigung gegen Revolutionen im Prinzip und an meinem tiefen Bedauern darüber, dass Russland so tief in eine historische Sackgasse geraten ist, dass der einzig mögliche Ausweg daraus eine Revolution ist. Jede Revolution ist eine Prüfung für eine Gesellschaft, auch wenn sie letztlich eine wunderbare Zukunft mit sich bringt. Gleichzeitig bedeutet eine Revolution nicht unbedingt blutige Straßenschlachten und das Erstürmen von Gebäuden. Solche Ereignisse sind Zeichen eines Aufstands, nicht einer Revolution. Sie mögen eine Revolution begleiten, aber sie sind nicht ihr Hauptbestandteil und letztlich unwesentlich. HolyBooks.com »Wie man einen Drachen tötet ein wirklich gutes Buch das Michail Chodorkowski zur nach Putin Zeit gelungen ist.« (ab Minute 2:15 bis 15:30) ZDF, 01.03.2023 »Michail Chodorkowski stürzt in seinem neuen Buch das Putin-Regime. Er sieht die Schweiz als Vorbild für das neue Russland. Der Kreml-Kritiker fordert ein neues Russland mit stärkeren Regionen statt Zentralmacht.« Neue Züricher Zeitung, 3.3.2023