Als bei der Buchhändlerin Jeanne Brustkrebs festgestellt wird, kann ihr Mann nicht mit der Diagnose umgehen und verlässt sie. In ihrem Kampf gegen die Krankheit muss sich die schüchterne Jeanne nun neue Verbündete suchen und findet sie in den ebenfalls an Krebs erkrankten Frauen Assja, Brigitte und Mélody. Die vier geben sich gegenseitig Halt und verlieren nicht ihre Freude am Leben. Als eine von ihnen dringend sehr viel Geld benötigt, beschließen sie, den größten Juwelier in Paris zu überfallen. Sorj Chalandon gelingt ein lebensfroher und lichter Roman über ein angsteinflößendes Thema, einfühlsam gelesen von Jodie Ahlborn.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Niklas Bender wird nicht froh mit Sorj Chalandons Roman. Für einen Krimi ist ihm die Geschichte um eine krebskranke Frau, die sich mit Hilfe einer Bande anderer Frauen zur Juwelendiebin mausert, zu rührselig, für eine ernste Erkundung eines Schicksalsschlages ist sie zu packend erzählt, zumindest stellenweise. Gute Unterhaltung aber kommt laut Bender vor allem nicht durchweg auf, weil sich der Autor einer Sprache bedient, die dem Rezensenten aus Mitleid feuchte Augen macht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.04.2021Der Diebstahl des Heiligen Feuers
Sorj Chalandon versucht sich mit seinem neuen Roman "Wilde Freude" an einer Hybriderzählung aus Krimi und Krankengeschichte.
Ein Krankheitsroman, der zum packenden Krimi wird: "Wilde Freude" beweist das erzählerische Geschick von Sorj Chalandon, muss jedoch mit seinen Schwächen in Psychologie und Sprache leben. Die Geschichte der reservierten Buchhändlerin Jeanne Hervineau, die mit vierzig Jahren durch Brustkrebs aus ihrer ruhigen Existenz gerissen wird, eine Bande frecher Frauen um die Bretonin Brigitte trifft und mit ihnen einen Juwelier ausraubt, ist gut konstruiert und streckenweise rasant erzählt. Zusammen ergeben die Bestandteile eine Emanzipationsgeschichte, das brave Bürgermädchen wird zur starken Frau. Vor allem bedeutet das Unterhaltung, denn dazu dienen Krimis zunächst - und Krankheitsromane offensichtlich auch. Letztere stellen heutzutage ein eigenes, existentiell mitreißendes, aber nicht immer hochliterarisches Genre dar, in Frankreich vor allem bedient durch Delphine de Vigan.
Chalandon, der es mit dem Bergarbeiterroman "Am Tag davor" auf die "Spiegel"-Bestsellerliste geschafft hat, geht in die Vollen: Es wird mutiert, therapiert, geheilt, gestorben. Jeanne geht vorbelastet ins Rennen, fünf Jahre zuvor haben ihr Gatte Matt und sie den siebenjährigen Sohn Jules verloren: "Als unser Kind die Augen schloss, hörten unsere auf zu glänzen." Der Satz hat gegenperformative Kraft, er bringt tränenfeuchtes Leuchten in die Augen der Leser - bei rührseligen aus Mitleid mit der Figur, bei anspruchsvollen aus Mitleid mit der Sprache. Damit wäre geklärt, was Chalandon nicht kann: kitschfrei schreiben. Trotz gelungener Passagen bleibt ein Geheimnis, wie das Urteil in die Welt kam, diese Buch erlaubte sich keine Sentimentalitäten.
Matt hält Jeannes Erkrankung nicht aus und lässt sie fallen wie eine heiße Kartoffel. Freilich muss man angesichts des Ehelebens - er spricht nur von sich, und im Bett sieht Jeanne nur "Matts Rücken. Mein nächtlicher Anblick seit Jules' Tod" - eher von einem Katalysatorereignis sprechen, das den schleichenden Verfall sichtbar macht und beschleunigt: Der Verlust wiegt nur insofern, als er die Isolation vergrößert. Wie zu erwarten, berichtet der Krankenroman vom Kampf mit Symptomen und sozialen Folgen, also Einsamkeit und Stigmatisierung; ihre Arbeit in der Buchhandlung "Livres à Vous" muss Jeanne ruhen lassen. Die Erzählung hat einen bedrückenden biographischen Hintergrund: Im Januar 2018 wurde erst bei Chalandons Frau und elf Tage darauf bei ihm selbst Krebs diagnostiziert, der Roman nimmt beider Erfahrungen auf.
Während der Chemotherapie wird Jeanne von Brigitte angesprochen, einer rockigen Fünfzigjährigen, die eine Crêperie betreibt und mit ihrer Lebensgefährtin Assia eine WG begründet hat. Mit von der Partie ist die ebenfalls krebskranke Mélody, deren Tochter Eva von ihrem russischen Vater nach Wolgograd entführt wurde. Jeanne zieht in die WG, die Damen teilen ihr Schicksal - üble Typen, verlorene Kinder - sowie diverse Flaschen und Joints; man muss Chalandon lassen, dass er den Trotz der Bande mit ruppigem Schnodder darstellt. Als Mélodys Ehemaliger angeblich anbietet, die Tochter für Lösegeld zu überlassen, wird der Überfall auf einen Juwelier an der Place Vendôme geplant, um das Medaillon "Heiliges Feuer" und das Collier "Quetzal impérial" zu rauben.
Aus "Wilde Freude" wird ein packender Krimi: Das Quartett spioniert das exquisite Geschäft aus, Assia hat ihren großen Auftritt als zickige Saudi-Prinzessin, und Brigitte mimt die serbische Bandenkriminelle, um eine falsche Fährte zu legen. Jeanne blüht auf, wird angesichts der Gefahr endgültig die Rolle des braven Opfers los und denkt mit Genuss an den überwältigten Wachmann: "Die kleine Jeanne, das kleine Frauchen, das kleine Nichts, zur Kriegerin erhoben durch den Kameliengeneral. Ich, die schon als Kind die Augen niederschlug und ihr Herz bezwang, um niemanden zu verletzen, hatte ihn in der Hand. Ich, das Inbild des Sieges." Na, das ist mal wirklich eine Wilde. Chalandon erzählt den Krimi-Teil mit Freude am Detail, der Spannungsbogen gelingt, ebenso die Kehrtwende am Ende (den Kniff kennen Chalandon-Leser aus "Am Tag davor"). Denn Mélody hat gar kein Kind und ist nicht die, die sie zu sein vorgibt; die Frauensolidarität bekommt einen ordentlichen Knacks.
Die Lösung des Ganzen hingegen ist verdruckst, wie insgesamt der Eindruck überwiegt, dass der Roman nicht recht zu wählen weiß. Gute Unterhaltung? Dafür werden zu lang Trauer und teils wehleidige Introspektion betrieben, Handlung und Figuren treten auf der Stelle. Und: Muss Jeanne noch Mann und Sohn verlieren, immer tiefer im Schlamm weiblichen Elends und männlicher Widerwärtigkeit versinken? Eine überzeugende psychologische Studie wird so ebenfalls nicht daraus, zu flach die Figuren, zu innovationsarm die Sprache, zu viele Stereotype allerorten.
Eine Ente charakterisiert die Schwächen treffend. Im Bois de Vincennes folgt sie Schwänen, und Jeanne, die den Schwimmvogel Gavroche getauft hat, nach dem Straßenkind aus Victor Hugos "Die Elenden", identifiziert sich mit ihm: "Allein, übel zugerichtet, tollpatschig und hässlich angesichts der stolzen weißen Vögel, aber lebendig, ohne Hass, ohne Zorn und ohne vor irgendetwas Angst zu haben." Gavroches Apotheose liefert den krönenden Schluss, ein Märchenmotiv, Version vierzigjährige Buchhändlerin im Gangstermodus: nicht ganz daneben, aber auch nicht wirklich gut.
NIKLAS BENDER
Sorj Chalandon: "Wilde Freude". Roman.
Aus dem Französischen von Brigitte Große. dtv, München 2020. 286 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sorj Chalandon versucht sich mit seinem neuen Roman "Wilde Freude" an einer Hybriderzählung aus Krimi und Krankengeschichte.
Ein Krankheitsroman, der zum packenden Krimi wird: "Wilde Freude" beweist das erzählerische Geschick von Sorj Chalandon, muss jedoch mit seinen Schwächen in Psychologie und Sprache leben. Die Geschichte der reservierten Buchhändlerin Jeanne Hervineau, die mit vierzig Jahren durch Brustkrebs aus ihrer ruhigen Existenz gerissen wird, eine Bande frecher Frauen um die Bretonin Brigitte trifft und mit ihnen einen Juwelier ausraubt, ist gut konstruiert und streckenweise rasant erzählt. Zusammen ergeben die Bestandteile eine Emanzipationsgeschichte, das brave Bürgermädchen wird zur starken Frau. Vor allem bedeutet das Unterhaltung, denn dazu dienen Krimis zunächst - und Krankheitsromane offensichtlich auch. Letztere stellen heutzutage ein eigenes, existentiell mitreißendes, aber nicht immer hochliterarisches Genre dar, in Frankreich vor allem bedient durch Delphine de Vigan.
Chalandon, der es mit dem Bergarbeiterroman "Am Tag davor" auf die "Spiegel"-Bestsellerliste geschafft hat, geht in die Vollen: Es wird mutiert, therapiert, geheilt, gestorben. Jeanne geht vorbelastet ins Rennen, fünf Jahre zuvor haben ihr Gatte Matt und sie den siebenjährigen Sohn Jules verloren: "Als unser Kind die Augen schloss, hörten unsere auf zu glänzen." Der Satz hat gegenperformative Kraft, er bringt tränenfeuchtes Leuchten in die Augen der Leser - bei rührseligen aus Mitleid mit der Figur, bei anspruchsvollen aus Mitleid mit der Sprache. Damit wäre geklärt, was Chalandon nicht kann: kitschfrei schreiben. Trotz gelungener Passagen bleibt ein Geheimnis, wie das Urteil in die Welt kam, diese Buch erlaubte sich keine Sentimentalitäten.
Matt hält Jeannes Erkrankung nicht aus und lässt sie fallen wie eine heiße Kartoffel. Freilich muss man angesichts des Ehelebens - er spricht nur von sich, und im Bett sieht Jeanne nur "Matts Rücken. Mein nächtlicher Anblick seit Jules' Tod" - eher von einem Katalysatorereignis sprechen, das den schleichenden Verfall sichtbar macht und beschleunigt: Der Verlust wiegt nur insofern, als er die Isolation vergrößert. Wie zu erwarten, berichtet der Krankenroman vom Kampf mit Symptomen und sozialen Folgen, also Einsamkeit und Stigmatisierung; ihre Arbeit in der Buchhandlung "Livres à Vous" muss Jeanne ruhen lassen. Die Erzählung hat einen bedrückenden biographischen Hintergrund: Im Januar 2018 wurde erst bei Chalandons Frau und elf Tage darauf bei ihm selbst Krebs diagnostiziert, der Roman nimmt beider Erfahrungen auf.
Während der Chemotherapie wird Jeanne von Brigitte angesprochen, einer rockigen Fünfzigjährigen, die eine Crêperie betreibt und mit ihrer Lebensgefährtin Assia eine WG begründet hat. Mit von der Partie ist die ebenfalls krebskranke Mélody, deren Tochter Eva von ihrem russischen Vater nach Wolgograd entführt wurde. Jeanne zieht in die WG, die Damen teilen ihr Schicksal - üble Typen, verlorene Kinder - sowie diverse Flaschen und Joints; man muss Chalandon lassen, dass er den Trotz der Bande mit ruppigem Schnodder darstellt. Als Mélodys Ehemaliger angeblich anbietet, die Tochter für Lösegeld zu überlassen, wird der Überfall auf einen Juwelier an der Place Vendôme geplant, um das Medaillon "Heiliges Feuer" und das Collier "Quetzal impérial" zu rauben.
Aus "Wilde Freude" wird ein packender Krimi: Das Quartett spioniert das exquisite Geschäft aus, Assia hat ihren großen Auftritt als zickige Saudi-Prinzessin, und Brigitte mimt die serbische Bandenkriminelle, um eine falsche Fährte zu legen. Jeanne blüht auf, wird angesichts der Gefahr endgültig die Rolle des braven Opfers los und denkt mit Genuss an den überwältigten Wachmann: "Die kleine Jeanne, das kleine Frauchen, das kleine Nichts, zur Kriegerin erhoben durch den Kameliengeneral. Ich, die schon als Kind die Augen niederschlug und ihr Herz bezwang, um niemanden zu verletzen, hatte ihn in der Hand. Ich, das Inbild des Sieges." Na, das ist mal wirklich eine Wilde. Chalandon erzählt den Krimi-Teil mit Freude am Detail, der Spannungsbogen gelingt, ebenso die Kehrtwende am Ende (den Kniff kennen Chalandon-Leser aus "Am Tag davor"). Denn Mélody hat gar kein Kind und ist nicht die, die sie zu sein vorgibt; die Frauensolidarität bekommt einen ordentlichen Knacks.
Die Lösung des Ganzen hingegen ist verdruckst, wie insgesamt der Eindruck überwiegt, dass der Roman nicht recht zu wählen weiß. Gute Unterhaltung? Dafür werden zu lang Trauer und teils wehleidige Introspektion betrieben, Handlung und Figuren treten auf der Stelle. Und: Muss Jeanne noch Mann und Sohn verlieren, immer tiefer im Schlamm weiblichen Elends und männlicher Widerwärtigkeit versinken? Eine überzeugende psychologische Studie wird so ebenfalls nicht daraus, zu flach die Figuren, zu innovationsarm die Sprache, zu viele Stereotype allerorten.
Eine Ente charakterisiert die Schwächen treffend. Im Bois de Vincennes folgt sie Schwänen, und Jeanne, die den Schwimmvogel Gavroche getauft hat, nach dem Straßenkind aus Victor Hugos "Die Elenden", identifiziert sich mit ihm: "Allein, übel zugerichtet, tollpatschig und hässlich angesichts der stolzen weißen Vögel, aber lebendig, ohne Hass, ohne Zorn und ohne vor irgendetwas Angst zu haben." Gavroches Apotheose liefert den krönenden Schluss, ein Märchenmotiv, Version vierzigjährige Buchhändlerin im Gangstermodus: nicht ganz daneben, aber auch nicht wirklich gut.
NIKLAS BENDER
Sorj Chalandon: "Wilde Freude". Roman.
Aus dem Französischen von Brigitte Große. dtv, München 2020. 286 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dem französischen Schriftsteller Sorj Chalandon ist ein Kunststück gelungen: als Mann ein durch und durch einfühlsames Buch über Frauen mit Krebs zu schreiben. Die Presse 20201129