Das Leben des letzten deutschen Kaisers Christopher Clark folgt der Karriere des letzten deutschen Kaisers: die schwierige Jugend bei Hof, die Etablierung seiner Macht sowie seine politischen Auseinandersetzungen und Ziele. Mit dem Ersten Weltkrieg und der Niederlage des Deutschen Reichs endet auch die Herrschaft Wilhelms II. Der Kaiser dankt ab und muss den Rest seines Lebens im Exil verbringen. Clarks sorgfältig recherchierte Biografie bietet eine neue, zuweilen durchaus provokative Interpretation des kontroversen Monarchen und seiner dreißig Jahre währenden Regentschaft. Ungekürzte Lesung mit Frank Arnold ca. 12h 52min
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.07.2009Der militärische Dilettant
Christopher Clarks origineller Blick auf Kaiser Wilhelm II.
In den vergangenen 20 Jahren hat auch die deutsche Geschichtswissenschaft die Person als geschichtsmächtigen Faktor wiederentdeckt; aber über den letzten deutschen Kaiser haben sich in erster Linie in Großbritannien lehrende Historiker ausgelassen - vor allem John Röhl mit drei respekteinflößenden dicken Bänden. Den Bedarf nach einer schlankeren Darstellung über Leben und Wirken Wilhelms II. deckt nun Christopher Clark (Cambridge), dessen vor einigen Jahren erschienene Studie endlich in einer ergänzten deutschen Fassung vorliegt.
Clark wählt einen besonders ergiebigen systematischen Zugang, indem er konsequent nach den Strukturen der Herrschaft dieses Kaisers fragt. Um das Kaisertum mit Leben zu erfüllen, standen dem mit 29 Jahren auf den Thron gelangten Wilhelm II. zahlreiche politische, militärische und symbolische Befugnisse zur Verfügung, die aber nicht klar abgegrenzt waren, sondern eher "eine lose Ansammlung von Funktionen" bildeten. Dies hätte einer tatkräftigen und energischen Persönlichkeit auf dem Kaiserthron die Möglichkeit verschafft, durch ihren geschickten und klugen Gebrauch den Monarchen zur politischen Zentralgewalt zu erheben. Wie auch andere Fachleute gelangt Clark zu der Einschätzung, dass Wilhelm II. die günstige Ausgangsposition nicht nutzen konnte. Dabei hält sich der Historiker wohltuend von einer allzu normativ aufgeladenen Beurteilung von Persönlichkeit und Politik des Kaisers zurück.
Für eine psychohistorische Position, die aus der Tatsache, dass Wilhelm II. aufgrund des Geburtsvorgangs einen gelähmten linken Arm davontrug, eine irreparable psychische Schädigung ableitet, vermag er sich nicht zu erwärmen. Clark billigt Wilhelm vielmehr durchaus eine Reihe politischer Talente und Vorhaben zu, die ihn in Einklang mit mächtigen Grundströmungen seiner Zeit brachten. Dazu gehörte vor allem die Propagierung symbolträchtiger nationaler Projekte, die mit seiner Person verbunden werden konnten, wozu in erster Linie der durch den Flottenbau verkörperte Aufbruch zur Weltpolitik zu rechnen ist. Aber auch seine ständige mediale Präsenz bediente unter den Bedingungen der Medienrevolution des späten 19. Jahrhunderts die Erwartungshaltung breiter Volksmassen: Kein europäischer Monarch seiner Zeit dürfte mehr öffentliche Reden gehalten haben als er.
Dennoch musste Wilhelm eine spürbare Auszehrung seiner Macht hinnehmen, die sich während des Weltkriegs zu einem galoppierenden Machtverlust ausweitete. Dafür führt Clark zum einen Gründe ins Feld, die in der Forschung wohlbekannt sind: Wilhelms notorische Unfähigkeit zu systematischem Arbeiten, seine innere Rastlosigkeit und Sprunghaftigkeit, die ihn davon abhielt, klare Positionen zu beziehen und diese gegen Widerstreben durchzuhalten. Zum anderen setzt die Studie von Clark neue Akzente - etwa mit der überzeugend vorgebrachten Argumentationslinie, dass Wilhelm das preußische militärische Ethos nie wirklich internalisiert habe. Als "militärischer Dilettant" hielt sich Wilhelm deswegen die höheren Militärs auf Distanz und pflegte zu ihnen keine engen persönlichen Beziehungen. Diese unmilitärische Ader erklärt denn auch, warum sich der Kaiser im Weltkrieg seine Stellung als "oberster Kriegsherr" verfallen und sich von der III. Obersten Heeresleitung an den Rand drängen ließ.
Clark hebt in Einklang mit der Forschung den Befund hervor, dass die Impulsivität des Kaisers vor allem in der Außenpolitik schweren Schaden anrichtete, der dann mit diplomatischen Mitteln notdürftig behoben werden musste. Nach der desaströsen "Daily Telegraph"-Affäre im November 1908 wurde Wilhelm gewissermaßen unter Aufsicht gestellt; jeder Kanzler seit Bernhard von Bülow musste die unfreiwillige Rolle einer nicht zu aufdringlichen Gouvernante spielen. Damit relativiert sich aber zugleich Wilhelms Anteil an den außenpolitischen Fehlentwicklungen, die das Deutsche Reich am Vorabend des Ersten Weltkriegs in die außenpolitische Isolation getrieben hatten.
Der Verfasser billigt dem Deutschen Reich durchaus eine legitime Machtentfaltung zu und zeigt sich mehr als einmal verwundert darüber, dass in der deutschen Historiographie den Briten ein Maß an imperialer Ausdehnung zugestanden werde, welches dem wilhelminischen Reich verwehrt werde. Immer wieder ermahnt er manche Historikerkollegen, der Versuchung zu widerstehen, aus dem Zusammenhang gerissene Äußerungen eines so wetterwendischen Mannes wie Wilhelm II. als Belege für konzise Konzepte des Kaisers, gar als Schlüsseldokumente für vermeintliche Kriegspläne auszugeben. Er wartet dabei mit Lehrstücken an subtiler Quellenkritik auf.
Die Studie hat überdies noch viele Leckerbissen für Feinschmecker historischer Kost zu bieten. Clark ist ein Meister des feinsinnigen Beobachtens, dem in wenigen Sätzen glänzende Charakterskizzen von engen politischen Weggefährten des Kaisers gelingen. Ob solcher Miniaturen darf allerdings nicht das Hauptverdienst seiner Studie aus dem Blick geraten: Clark hat auf überschaubarem Raum eine kraftvolle Synthese vorgelegt, die das schwierige Problem der Proportionierung zwischen personellen und strukturellen Faktoren vorbildlich löst und der Forschung originelle Einsichten beschert.
WOLFRAM PYTA.
Christopher Clark: Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2008. 414 S., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Christopher Clarks origineller Blick auf Kaiser Wilhelm II.
In den vergangenen 20 Jahren hat auch die deutsche Geschichtswissenschaft die Person als geschichtsmächtigen Faktor wiederentdeckt; aber über den letzten deutschen Kaiser haben sich in erster Linie in Großbritannien lehrende Historiker ausgelassen - vor allem John Röhl mit drei respekteinflößenden dicken Bänden. Den Bedarf nach einer schlankeren Darstellung über Leben und Wirken Wilhelms II. deckt nun Christopher Clark (Cambridge), dessen vor einigen Jahren erschienene Studie endlich in einer ergänzten deutschen Fassung vorliegt.
Clark wählt einen besonders ergiebigen systematischen Zugang, indem er konsequent nach den Strukturen der Herrschaft dieses Kaisers fragt. Um das Kaisertum mit Leben zu erfüllen, standen dem mit 29 Jahren auf den Thron gelangten Wilhelm II. zahlreiche politische, militärische und symbolische Befugnisse zur Verfügung, die aber nicht klar abgegrenzt waren, sondern eher "eine lose Ansammlung von Funktionen" bildeten. Dies hätte einer tatkräftigen und energischen Persönlichkeit auf dem Kaiserthron die Möglichkeit verschafft, durch ihren geschickten und klugen Gebrauch den Monarchen zur politischen Zentralgewalt zu erheben. Wie auch andere Fachleute gelangt Clark zu der Einschätzung, dass Wilhelm II. die günstige Ausgangsposition nicht nutzen konnte. Dabei hält sich der Historiker wohltuend von einer allzu normativ aufgeladenen Beurteilung von Persönlichkeit und Politik des Kaisers zurück.
Für eine psychohistorische Position, die aus der Tatsache, dass Wilhelm II. aufgrund des Geburtsvorgangs einen gelähmten linken Arm davontrug, eine irreparable psychische Schädigung ableitet, vermag er sich nicht zu erwärmen. Clark billigt Wilhelm vielmehr durchaus eine Reihe politischer Talente und Vorhaben zu, die ihn in Einklang mit mächtigen Grundströmungen seiner Zeit brachten. Dazu gehörte vor allem die Propagierung symbolträchtiger nationaler Projekte, die mit seiner Person verbunden werden konnten, wozu in erster Linie der durch den Flottenbau verkörperte Aufbruch zur Weltpolitik zu rechnen ist. Aber auch seine ständige mediale Präsenz bediente unter den Bedingungen der Medienrevolution des späten 19. Jahrhunderts die Erwartungshaltung breiter Volksmassen: Kein europäischer Monarch seiner Zeit dürfte mehr öffentliche Reden gehalten haben als er.
Dennoch musste Wilhelm eine spürbare Auszehrung seiner Macht hinnehmen, die sich während des Weltkriegs zu einem galoppierenden Machtverlust ausweitete. Dafür führt Clark zum einen Gründe ins Feld, die in der Forschung wohlbekannt sind: Wilhelms notorische Unfähigkeit zu systematischem Arbeiten, seine innere Rastlosigkeit und Sprunghaftigkeit, die ihn davon abhielt, klare Positionen zu beziehen und diese gegen Widerstreben durchzuhalten. Zum anderen setzt die Studie von Clark neue Akzente - etwa mit der überzeugend vorgebrachten Argumentationslinie, dass Wilhelm das preußische militärische Ethos nie wirklich internalisiert habe. Als "militärischer Dilettant" hielt sich Wilhelm deswegen die höheren Militärs auf Distanz und pflegte zu ihnen keine engen persönlichen Beziehungen. Diese unmilitärische Ader erklärt denn auch, warum sich der Kaiser im Weltkrieg seine Stellung als "oberster Kriegsherr" verfallen und sich von der III. Obersten Heeresleitung an den Rand drängen ließ.
Clark hebt in Einklang mit der Forschung den Befund hervor, dass die Impulsivität des Kaisers vor allem in der Außenpolitik schweren Schaden anrichtete, der dann mit diplomatischen Mitteln notdürftig behoben werden musste. Nach der desaströsen "Daily Telegraph"-Affäre im November 1908 wurde Wilhelm gewissermaßen unter Aufsicht gestellt; jeder Kanzler seit Bernhard von Bülow musste die unfreiwillige Rolle einer nicht zu aufdringlichen Gouvernante spielen. Damit relativiert sich aber zugleich Wilhelms Anteil an den außenpolitischen Fehlentwicklungen, die das Deutsche Reich am Vorabend des Ersten Weltkriegs in die außenpolitische Isolation getrieben hatten.
Der Verfasser billigt dem Deutschen Reich durchaus eine legitime Machtentfaltung zu und zeigt sich mehr als einmal verwundert darüber, dass in der deutschen Historiographie den Briten ein Maß an imperialer Ausdehnung zugestanden werde, welches dem wilhelminischen Reich verwehrt werde. Immer wieder ermahnt er manche Historikerkollegen, der Versuchung zu widerstehen, aus dem Zusammenhang gerissene Äußerungen eines so wetterwendischen Mannes wie Wilhelm II. als Belege für konzise Konzepte des Kaisers, gar als Schlüsseldokumente für vermeintliche Kriegspläne auszugeben. Er wartet dabei mit Lehrstücken an subtiler Quellenkritik auf.
Die Studie hat überdies noch viele Leckerbissen für Feinschmecker historischer Kost zu bieten. Clark ist ein Meister des feinsinnigen Beobachtens, dem in wenigen Sätzen glänzende Charakterskizzen von engen politischen Weggefährten des Kaisers gelingen. Ob solcher Miniaturen darf allerdings nicht das Hauptverdienst seiner Studie aus dem Blick geraten: Clark hat auf überschaubarem Raum eine kraftvolle Synthese vorgelegt, die das schwierige Problem der Proportionierung zwischen personellen und strukturellen Faktoren vorbildlich löst und der Forschung originelle Einsichten beschert.
WOLFRAM PYTA.
Christopher Clark: Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2008. 414 S., 24,95 [Euro].
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"Die beste Biografie." Berliner Zeitung