WIR WAREN AUS UNSEREM UNIVERSUM HINAUSKATAPULTIERT WORDEN. DIE ZEIT, WIE WIR SIE KANNTEN, EXISTIERTE NICHT MEHR. (SEITE 19)
„Und ich schau wieder auf die Uhr: du bist immer noch nicht da
Keine Ahnung wo du bleibst, es ist wahr:
Mir ist langweilig […]“*
Nachdem ich „Wir sind dann wohl die
Angehörigen“ von Johann Scheerer in der vergangenen Woche gelesen hatte, hat sich der Sinngehalt des…mehrWIR WAREN AUS UNSEREM UNIVERSUM HINAUSKATAPULTIERT WORDEN. DIE ZEIT, WIE WIR SIE KANNTEN, EXISTIERTE NICHT MEHR. (SEITE 19)
„Und ich schau wieder auf die Uhr: du bist immer noch nicht da
Keine Ahnung wo du bleibst, es ist wahr:
Mir ist langweilig […]“*
Nachdem ich „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ von Johann Scheerer in der vergangenen Woche gelesen hatte, hat sich der Sinngehalt des Liedes *“Langweilig“ von den Ärzten für mich grundlegend geändert. In dem autobiografischen Bericht des Hamburger Musikproduzenten ist Langeweile ein zentrales Motiv, denn vor 22 Jahren konnte Johann Scheerer 33 Tage lang nichts anderes tun, als im Nichtstun zu verharren und zu warten: Am 25. März 1996 wurde sein Vater, Literatur- und Sozialwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma, entführt und erst 33 Tage später wieder freigelassen.
Was tut man, wenn der normale Alltag, bestehend aus Schule, Tests und Treffen mit Freunden in den Hintergrund rückt und wochenlang von Sorgen, Unsicherheit und eben Langeweile ersetzt wird? Wenn die Welt, wie man sie kennt, auf ein einziges, erschreckendes und unbegreifliches Ereignis zusammenschrumpft? Johann Scheerer findet sich plötzlich in einer anderen Welt, in einer anderen Galaxie, wieder. Alles verschiebt sich, alles von dem er glaubte, es sei normal, bleibt ihm plötzlich verschlossen. Stattdessen öffnet sich ein großes schwarzes Loch, das alles Normale verschluckt und seine Welt aus den Angeln hebt. Er glaubt nicht, dass er seinen Vater lebend wiedersehen wird.
In einem Lebensabschnitt, in dem Johann Scheerer damit beginnt, sich von seinen Eltern zu distanzieren, durchdringen und beengen auf einmal Verwandte, Freunde, Polizei und Helfer sein Zuhause und sein Leben. Sie arbeiten und wohnen auf engstem Raum zusammen, und dennoch steht jeder für sich, mit seinen individuellen Sorgen und Nöten. Denn teilen lässt sich die Wahrnehmung dieser Entführung nicht, jeder empfindet sie anders, geht anders damit um.
Johann Scheerer empfindet vor allem Langeweile. Er schaut Fernsehen, Videos, hört Musik. Geht ins Kino, kauft sich eine Gitarre. Einzig die Neuigkeiten der Entführer durchbrechen diese neuen Abläufe. Nicht alles erfährt Johann Scheerer unmittelbar, er hält sich heraus und wird herausgehalten, erfährt viele, teils erschreckende Details erst später. Seiner Mutter möchte er keine zusätzliche Last sein, er zieht sich zurück. Das Gefühl von Machtlosigkeit und eine zunehmende Isolation machen ihm zu schaffen, doch mit wem kann er reden? Wem kann er sich anvertrauen? Zu mächtig und unwirklich erscheint die Situation, als dass er sie (mit-)teilen könnte, und so schlagen einzelne Versuche, in den gewohnten Alltag zurückzufinden, fehl.
Sensibel und persönlich, aber stets mit einer gewissen Nüchternheit erzählt Johann Scheerer von diesen 33 Tagen, in denen er sich des Todes seines Vaters gewiss wähnte. Dabei überlässt er seinem jüngeren Ich das Wort, blickt nicht mit heutigem Wissen und Erfahrungsschatz auf diese Zeit zurück, sondert erinnert sich an kleine Details, an Ausflüge, Gespräche der Erwachsenen, Momentaufnahmen und seine Gedanken und Empfindungen als Dreizehnjähriger. Umso zerbrechlicher und verletzlicher wirkt der Bericht insgesamt. Man spürt, wie wenig Johann Scheerer teils vielleicht auch heute noch die Zeit der Entführung mit seinem „normalen“ Leben in Einklang oder gar in Verbindung bringen kann. Sie steht für sich, kann beschrieben, aber nicht emotional erfasst werden. Ein schwarzes Loch eben.
Fazit
„Wir sind dann wohl die Angehörigen“ von Johann Scheerer ist eine berührend persönliche und präzise Beschreibung der Entführung Jan Philipp Reemtsma’s aus Sicht des damals dreizehnjährigen Sohnes. Es geht nicht um bahnbrechende Erkenntnisse und nicht darum, am Erlebten zu wachsen, sondern um 33 Tage voller Langeweile und Warten, Unsicherheit und Ängste und darum, wie es ist, wenn ein Ausnahmezustand zum Normalzustand wird.