Gewinner und Verlierer im Ungleichland - eine schonungslose Analyse der sozialen Ungerechtigkeit in Deutschland... Journalistin und Autorin Julia Friedrichs hinterfragt mit ihrem beeindruckenden und aufrüttelnden Sachbuch "Working Class: Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können" die Wohlstandsillusion. In Zeiten der prekären Arbeitsverhältnisse und des Lohndumpings ist der Vermögensaufbau aus eigener Kraft für die meisten Bundesbürger unmöglich. Soziale Durchlässigkeit für die Mitglieder der Working Class und damit ein Aufstieg in höhere Gesellschaftsschichten hat sich ebenfalls deutlich erschwert. Der reiche Teil der Bevölkerung hält an einem Großteil des Vermögens fest und hat Mittel und Wege, diesen Reichtum schnell und einfach zu vervielfachen. Ärmeren Gesellschaftsschichten bleibt währenddessen gerade noch genug zum Leben. "Ihr werdet es einmal schlechter haben!" Die Generation nach den Babyboomern ist die erste nach dem Zweiten Weltkrieg, die ihre Eltern mehrheitlich nicht wirtschaftlich übertreffen wird. Obwohl die Wirtschaft ein Jahrzehnt lang wuchs, besitzt die Mehrheit in diesem Land kaum Kapital, kein Vermögen. Doch sich Wohlstand aus eigener Kraft zu erarbeiten ist schwieriger geworden, insbesondere für die, die heute unter 45 sind. Die Hälfte von ihnen fürchtet, im Alter arm zu sein. Julia Friedrichs zeichnet ein sehr düsteres Bild von einem Land und einer Welt, in der eine blühende Mittelschicht und soziale Gerechtigkeit eher eine vage Erinnerung als eine zeitgemäße Realität sind. Trotz ihrer ernüchternden Erkenntnisse entwirft sie einige inhaltsreiche Ideen, die aus dieser Krise hinausführen könnten. Die verschwundene Mittelschicht - wie das Leben der modernen Arbeiterklasse wirklich aussieht Julia Friedrichs interviewt Experten aus der Wissenschaft und Politiker. Sie fokussiert sich aber auch auf Menschen, die jeden Tag putzen, unterrichten und ins Büro gehen, um ihr Überleben zu sichern, und dabei nicht genug für die Rente oder den Vermögensaufbau verdienen. Der Wunsch nach gesellschaftlichen Umwälzungen ist bei dieser Lektüre vorprogrammiert. Nominiert für den Deutschen Wirtschaftsbuchpreis 2021 "Menschennah, aber kitschfrei, präzise und durch Daten, Fakten und Analysen von Ökonomen gestützt, erzählt Friedrichs vom wachsenden Reichtum weniger auf Kosten vieler, wie und seit wann Kapital Arbeit schlägt." -- Corinna Nohn - Handelsblatt
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.03.2021„Die Reichen heben ab“
Autorin Julia Friedrichs über die Nöte der riesigen neuen „Working Class“
Die Generationen nach den Babyboomern, also all die, die nach 1964 geboren wurden, sind die ersten nach dem Zweiten Weltkrieg, die nicht mehr mehrheitlich ihre Eltern wirtschaftlich übertreffen werden. Sich Wohlstand aus eigener Kraft zu erarbeiten, ist schwieriger geworden, vielen Menschen droht später die Altersarmut. Was sind die Ursachen dafür? Julia Friedrichs hat für ihr Buch „Working Class”, Menschen begleitet, die dachten, dass Arbeit sie durchs Leben trägt, die reinigen, unterrichten, jeden Tag ins Büro gehen und feststellen, dass es trotzdem nicht reicht. Und sie hat mit Expertinnen und Politikern gesprochen, um herauszufinden, was falsch gelaufen ist.
SZ: Frau Friedrichs, wie definieren Sie eigentlich die „Working Class“, die arbeitende Klasse?
Julia Friedrichs: Dazu gehören für mich alle Menschen, die allein mit ihrer Arbeit ihr Leben finanzieren müssen, ohne Vermögen, Rücklagen, Eigentum oder Fonds. Nach dieser Definition sind in Deutschland ungefähr die Hälfte der Menschen Teil der Working Class.
Viele dürften bei dem Begriff eher an den Arbeiter am Fließband denken.
Sich bei der Definition auf Ausbildungsgänge oder bestimmte Berufe zu beschränken, finde ich veraltet. Die Musikschullehrerin mit Examen, die auf Honorarbasis arbeitet, gehört genauso zur Working Class, wie der ungelernte U-Bahn-Reiniger.
Die Musikschullehrerin Alexandra, der U-Bahn-Reiniger Sait oder Christian, der bei einer Marktforschungsfirma angestellt war – all diese Menschen haben Sie mehr als ein Jahr lang begleitet. Wie kam denn die Auswahl ihrer Protagonisten zustande?
Ich wollte, dass die Vielfalt sichtbar wird. Mir war aber auch wichtig, dass diese Menschen eine Geschichte haben, die über ihre Werktätigkeit hinausgeht, weil ich wollte, dass man ihnen lange zuhört und bereit ist, sich auf ihre Leben einzulassen.
Ist es ein typisches Symptom der modernen Working Class, dass die Menschen ausbrennen, weil sie beruflich nicht vorwärts kommen?
Ich glaube schon. Früher konnte man bei den meisten Unternehmen eine klassische Laufbahn machen: Man hat unten angefangen und sich hochgearbeitet, bis man nach 45 Dienstjahren mit einem dicken Blumenstrauß verabschiedet wurde. Die Arbeitsbeziehung war als lebenslange Ehe angelegt. Bis heute gibt es Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die sich mit Haut und Haaren einem Unternehmen hingeben, aber die Beziehung ist von der anderen Seite eher als Affäre geplant: So lange es geht, geht’s, dann ist Schluss.
Sie haben auch mit einem Vermögensverwalter gesprochen, der sehr reiche Kunden hat, was erschien Ihnen da die wesentliche Erkenntnis?
Dass es da gut läuft. Das Vermögen der unteren Hälfte wächst nicht, während die Reichen abheben. Ich war in einem Büro, das sich um die Pflege des Vermögens von sehr reichen Menschen kümmert und für sie überlegt: Kaufen wir damit Wald? Immobilien? In welchen Hedgefonds gehen wir?
Ungleichheit kann ja auch Ansporn sein.
Klar, beim Monopoly ist es auch ein Ansporn, wenn einer mit drei Straßen mehr gestartet ist, weil man ihn noch einholen kann. Aber wenn er jedes Mal, wenn er über „Los“ geht, das Zehnfache von dem einstreicht, ist das kein Wettbewerb mehr. In den USA kann man bereits messen, dass die Arbeitsmotivation der unteren Mittelschicht nachlässt. Wenn du immer machst und tust und es haut trotzdem nicht hin, dann hörst du auf lange Sicht auf, zu machen und zu tun. Das ist natürlich fatal.
Wer heute Teil der Working Class ist, hat häufig noch mitbekommen, wie Eltern oder Großeltern sich durch ihre Arbeit ein gewisses Vermögen aufbauen konnten. Was macht das mit den Jüngeren?
Es macht es schwerer zu erkennen, warum es heute anders ist. Ich habe bei Veranstaltungen erlebt, dass Menschen, die in der alten Bundesrepublik groß geworden sind, immer noch davon ausgehen, dass für jemanden, der sich anstrengt, alles möglich ist, und das auch so weitergeben. Aber sie erzählen von einem anderen Land. Von denen, die nach 1980 geboren wurden, schafft es nur noch die Hälfte, mehr Wohlstand aufzubauen als die eigenen Eltern. Vor allem gelingt es denen nicht mehr, bei denen es wichtig wäre, weil es ihren Familien nicht so gut geht.
Die älteren Westdeutschen, also die, die zwischen 1946 und 1964 geboren wurden, nennen Sie die „goldene Generation“.
Sie sind Glückskinder und waren immer zur richtigen Zeit im richtigen Alter: als das Bildungssystem ausgebaut wurde, sind sie zur Schule und an die Unis gegangen, als es hohe Zinsen gab, konnten sie sparen und Immobilien erwerben, jetzt sind sie alt und bestens versorgt.
Allerdings sind auch heute schon fast 17 Prozent der Senioren und Seniorinnen von Altersarmut betroffen.
Das stimmt. Es gibt auch unter älteren Menschen Armut und natürlich ist das schlimm, das will ich gar nicht kleinreden. Aber unter dem Strich ist keine Generation so wohlhabend wie die aktuell ältere.
Kann man der „goldenen Generation“ vorwerfen, auf Kosten der nachfolgenden Generationen zu leben und gelebt zu haben?
Ich finde schon. Viele wussten, dass die Rechnung nicht aufgeht und dem System mehr entnommen als hineingegeben wurde. Das ist analog zur Klimakrise: Auch unserer Generation wird man zurecht vorwerfen, dass wir davon wussten und nicht gehandelt haben. Aber auch wir neigen dazu, zu sagen: „Puh, gut, dass wir noch davonkommen sind.“
Sie haben für Ihre Recherche auch deutsche Familienserien aus den Achtzigern angeschaut, etwa die „Lindenstraße“ und die „Schwarzwaldklinik“. Warum?
Ich habe versucht, in die westdeutschen Achtziger zurück zu reisen, weil mir viele Ökonominnen gesagt haben, dass es danach zum Bruch kam. Und Serien wie die „Lindenstraße“ hatten den Anspruch, den Alltag nachzuerzählen. Es gibt Szenen, in denen Hans Beimer minutiös seine Ausgaben protokolliert. Offensichtlich konnte damals ein Sozialarbeiter mit drei Kindern als Alleinverdiener mitten in München leben. Gleichzeitig war ich total erschüttert, wie schrecklich das Familienbild in diesen Serien war, wie mies die Frauen behandelt und wie die Männer hofiert wurden. Das hat sehr geholfen, um nicht zu denken: „Ich will dahin zurück.“ Das will ich keine Sekunde. Ich finde, wir sollten über etwas Neues nachdenken. Etwas Besseres.
INTERVIEW: NADJA SCHLÜTER
„Ungefähr die Hälfte ist Teil der Working Class“, sagt Friedrich.
Foto: Andreas Hornoff
Julia Friedrichs: Working Class - Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können. Berlin Verlag, Berlin 2021. 320 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Autorin Julia Friedrichs über die Nöte der riesigen neuen „Working Class“
Die Generationen nach den Babyboomern, also all die, die nach 1964 geboren wurden, sind die ersten nach dem Zweiten Weltkrieg, die nicht mehr mehrheitlich ihre Eltern wirtschaftlich übertreffen werden. Sich Wohlstand aus eigener Kraft zu erarbeiten, ist schwieriger geworden, vielen Menschen droht später die Altersarmut. Was sind die Ursachen dafür? Julia Friedrichs hat für ihr Buch „Working Class”, Menschen begleitet, die dachten, dass Arbeit sie durchs Leben trägt, die reinigen, unterrichten, jeden Tag ins Büro gehen und feststellen, dass es trotzdem nicht reicht. Und sie hat mit Expertinnen und Politikern gesprochen, um herauszufinden, was falsch gelaufen ist.
SZ: Frau Friedrichs, wie definieren Sie eigentlich die „Working Class“, die arbeitende Klasse?
Julia Friedrichs: Dazu gehören für mich alle Menschen, die allein mit ihrer Arbeit ihr Leben finanzieren müssen, ohne Vermögen, Rücklagen, Eigentum oder Fonds. Nach dieser Definition sind in Deutschland ungefähr die Hälfte der Menschen Teil der Working Class.
Viele dürften bei dem Begriff eher an den Arbeiter am Fließband denken.
Sich bei der Definition auf Ausbildungsgänge oder bestimmte Berufe zu beschränken, finde ich veraltet. Die Musikschullehrerin mit Examen, die auf Honorarbasis arbeitet, gehört genauso zur Working Class, wie der ungelernte U-Bahn-Reiniger.
Die Musikschullehrerin Alexandra, der U-Bahn-Reiniger Sait oder Christian, der bei einer Marktforschungsfirma angestellt war – all diese Menschen haben Sie mehr als ein Jahr lang begleitet. Wie kam denn die Auswahl ihrer Protagonisten zustande?
Ich wollte, dass die Vielfalt sichtbar wird. Mir war aber auch wichtig, dass diese Menschen eine Geschichte haben, die über ihre Werktätigkeit hinausgeht, weil ich wollte, dass man ihnen lange zuhört und bereit ist, sich auf ihre Leben einzulassen.
Ist es ein typisches Symptom der modernen Working Class, dass die Menschen ausbrennen, weil sie beruflich nicht vorwärts kommen?
Ich glaube schon. Früher konnte man bei den meisten Unternehmen eine klassische Laufbahn machen: Man hat unten angefangen und sich hochgearbeitet, bis man nach 45 Dienstjahren mit einem dicken Blumenstrauß verabschiedet wurde. Die Arbeitsbeziehung war als lebenslange Ehe angelegt. Bis heute gibt es Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die sich mit Haut und Haaren einem Unternehmen hingeben, aber die Beziehung ist von der anderen Seite eher als Affäre geplant: So lange es geht, geht’s, dann ist Schluss.
Sie haben auch mit einem Vermögensverwalter gesprochen, der sehr reiche Kunden hat, was erschien Ihnen da die wesentliche Erkenntnis?
Dass es da gut läuft. Das Vermögen der unteren Hälfte wächst nicht, während die Reichen abheben. Ich war in einem Büro, das sich um die Pflege des Vermögens von sehr reichen Menschen kümmert und für sie überlegt: Kaufen wir damit Wald? Immobilien? In welchen Hedgefonds gehen wir?
Ungleichheit kann ja auch Ansporn sein.
Klar, beim Monopoly ist es auch ein Ansporn, wenn einer mit drei Straßen mehr gestartet ist, weil man ihn noch einholen kann. Aber wenn er jedes Mal, wenn er über „Los“ geht, das Zehnfache von dem einstreicht, ist das kein Wettbewerb mehr. In den USA kann man bereits messen, dass die Arbeitsmotivation der unteren Mittelschicht nachlässt. Wenn du immer machst und tust und es haut trotzdem nicht hin, dann hörst du auf lange Sicht auf, zu machen und zu tun. Das ist natürlich fatal.
Wer heute Teil der Working Class ist, hat häufig noch mitbekommen, wie Eltern oder Großeltern sich durch ihre Arbeit ein gewisses Vermögen aufbauen konnten. Was macht das mit den Jüngeren?
Es macht es schwerer zu erkennen, warum es heute anders ist. Ich habe bei Veranstaltungen erlebt, dass Menschen, die in der alten Bundesrepublik groß geworden sind, immer noch davon ausgehen, dass für jemanden, der sich anstrengt, alles möglich ist, und das auch so weitergeben. Aber sie erzählen von einem anderen Land. Von denen, die nach 1980 geboren wurden, schafft es nur noch die Hälfte, mehr Wohlstand aufzubauen als die eigenen Eltern. Vor allem gelingt es denen nicht mehr, bei denen es wichtig wäre, weil es ihren Familien nicht so gut geht.
Die älteren Westdeutschen, also die, die zwischen 1946 und 1964 geboren wurden, nennen Sie die „goldene Generation“.
Sie sind Glückskinder und waren immer zur richtigen Zeit im richtigen Alter: als das Bildungssystem ausgebaut wurde, sind sie zur Schule und an die Unis gegangen, als es hohe Zinsen gab, konnten sie sparen und Immobilien erwerben, jetzt sind sie alt und bestens versorgt.
Allerdings sind auch heute schon fast 17 Prozent der Senioren und Seniorinnen von Altersarmut betroffen.
Das stimmt. Es gibt auch unter älteren Menschen Armut und natürlich ist das schlimm, das will ich gar nicht kleinreden. Aber unter dem Strich ist keine Generation so wohlhabend wie die aktuell ältere.
Kann man der „goldenen Generation“ vorwerfen, auf Kosten der nachfolgenden Generationen zu leben und gelebt zu haben?
Ich finde schon. Viele wussten, dass die Rechnung nicht aufgeht und dem System mehr entnommen als hineingegeben wurde. Das ist analog zur Klimakrise: Auch unserer Generation wird man zurecht vorwerfen, dass wir davon wussten und nicht gehandelt haben. Aber auch wir neigen dazu, zu sagen: „Puh, gut, dass wir noch davonkommen sind.“
Sie haben für Ihre Recherche auch deutsche Familienserien aus den Achtzigern angeschaut, etwa die „Lindenstraße“ und die „Schwarzwaldklinik“. Warum?
Ich habe versucht, in die westdeutschen Achtziger zurück zu reisen, weil mir viele Ökonominnen gesagt haben, dass es danach zum Bruch kam. Und Serien wie die „Lindenstraße“ hatten den Anspruch, den Alltag nachzuerzählen. Es gibt Szenen, in denen Hans Beimer minutiös seine Ausgaben protokolliert. Offensichtlich konnte damals ein Sozialarbeiter mit drei Kindern als Alleinverdiener mitten in München leben. Gleichzeitig war ich total erschüttert, wie schrecklich das Familienbild in diesen Serien war, wie mies die Frauen behandelt und wie die Männer hofiert wurden. Das hat sehr geholfen, um nicht zu denken: „Ich will dahin zurück.“ Das will ich keine Sekunde. Ich finde, wir sollten über etwas Neues nachdenken. Etwas Besseres.
INTERVIEW: NADJA SCHLÜTER
„Ungefähr die Hälfte ist Teil der Working Class“, sagt Friedrich.
Foto: Andreas Hornoff
Julia Friedrichs: Working Class - Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können. Berlin Verlag, Berlin 2021. 320 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensentin Marlen Hobrack hat aus diesem ihrer Meinung nach gründlich mit Interviews, Analysen und Daten unterfütterten Buch gelernt, warum die Arbeiterklasse gerade nicht lautstark für sich eintritt, obwohl es ihr vor allem seit der Corona-Pandemie nachweislich immer schlechter geht und sie vermutlich auch den Großteil der Kosten wird tragen müssen: Ihre Angehörigen gehen so verschiedenen Arbeitsformen nach, dass sie sich nicht mehr als Klasse begreifen und solidarisieren können, fasst die Kritikerin zusammen. Das Fazit, das die Autorin zieht, erscheint Hobrack so deprimierend wie treffend: Es brauche eine Politik der kleinen Schritte, da die Vermögenden nach wie vor größtenteils unangetastet bleiben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Friedrichs gelingt es, ein mit Zahlen und Fakten gesättigtes Buch verständlich zu gestalten, indem sie reportagehafte Passagen, Interviews und Analysen verknüpft.« die tageszeitung 20210313
„Die Reichen heben ab“
Autorin Julia Friedrichs über die Nöte der riesigen neuen „Working Class“
Die Generationen nach den Babyboomern, also all die, die nach 1964 geboren wurden, sind die ersten nach dem Zweiten Weltkrieg, die nicht mehr mehrheitlich ihre Eltern wirtschaftlich übertreffen werden. Sich Wohlstand aus eigener Kraft zu erarbeiten, ist schwieriger geworden, vielen Menschen droht später die Altersarmut. Was sind die Ursachen dafür? Julia Friedrichs hat für ihr Buch „Working Class”, Menschen begleitet, die dachten, dass Arbeit sie durchs Leben trägt, die reinigen, unterrichten, jeden Tag ins Büro gehen und feststellen, dass es trotzdem nicht reicht. Und sie hat mit Expertinnen und Politikern gesprochen, um herauszufinden, was falsch gelaufen ist.
SZ: Frau Friedrichs, wie definieren Sie eigentlich die „Working Class“, die arbeitende Klasse?
Julia Friedrichs: Dazu gehören für mich alle Menschen, die allein mit ihrer Arbeit ihr Leben finanzieren müssen, ohne Vermögen, Rücklagen, Eigentum oder Fonds. Nach dieser Definition sind in Deutschland ungefähr die Hälfte der Menschen Teil der Working Class.
Viele dürften bei dem Begriff eher an den Arbeiter am Fließband denken.
Sich bei der Definition auf Ausbildungsgänge oder bestimmte Berufe zu beschränken, finde ich veraltet. Die Musikschullehrerin mit Examen, die auf Honorarbasis arbeitet, gehört genauso zur Working Class, wie der ungelernte U-Bahn-Reiniger.
Die Musikschullehrerin Alexandra, der U-Bahn-Reiniger Sait oder Christian, der bei einer Marktforschungsfirma angestellt war – all diese Menschen haben Sie mehr als ein Jahr lang begleitet. Wie kam denn die Auswahl ihrer Protagonisten zustande?
Ich wollte, dass die Vielfalt sichtbar wird. Mir war aber auch wichtig, dass diese Menschen eine Geschichte haben, die über ihre Werktätigkeit hinausgeht, weil ich wollte, dass man ihnen lange zuhört und bereit ist, sich auf ihre Leben einzulassen.
Ist es ein typisches Symptom der modernen Working Class, dass die Menschen ausbrennen, weil sie beruflich nicht vorwärts kommen?
Ich glaube schon. Früher konnte man bei den meisten Unternehmen eine klassische Laufbahn machen: Man hat unten angefangen und sich hochgearbeitet, bis man nach 45 Dienstjahren mit einem dicken Blumenstrauß verabschiedet wurde. Die Arbeitsbeziehung war als lebenslange Ehe angelegt. Bis heute gibt es Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die sich mit Haut und Haaren einem Unternehmen hingeben, aber die Beziehung ist von der anderen Seite eher als Affäre geplant: So lange es geht, geht’s, dann ist Schluss.
Sie haben auch mit einem Vermögensverwalter gesprochen, der sehr reiche Kunden hat, was erschien Ihnen da die wesentliche Erkenntnis?
Dass es da gut läuft. Das Vermögen der unteren Hälfte wächst nicht, während die Reichen abheben. Ich war in einem Büro, das sich um die Pflege des Vermögens von sehr reichen Menschen kümmert und für sie überlegt: Kaufen wir damit Wald? Immobilien? In welchen Hedgefonds gehen wir?
Ungleichheit kann ja auch Ansporn sein.
Klar, beim Monopoly ist es auch ein Ansporn, wenn einer mit drei Straßen mehr gestartet ist, weil man ihn noch einholen kann. Aber wenn er jedes Mal, wenn er über „Los“ geht, das Zehnfache von dem einstreicht, ist das kein Wettbewerb mehr. In den USA kann man bereits messen, dass die Arbeitsmotivation der unteren Mittelschicht nachlässt. Wenn du immer machst und tust und es haut trotzdem nicht hin, dann hörst du auf lange Sicht auf, zu machen und zu tun. Das ist natürlich fatal.
Wer heute Teil der Working Class ist, hat häufig noch mitbekommen, wie Eltern oder Großeltern sich durch ihre Arbeit ein gewisses Vermögen aufbauen konnten. Was macht das mit den Jüngeren?
Es macht es schwerer zu erkennen, warum es heute anders ist. Ich habe bei Veranstaltungen erlebt, dass Menschen, die in der alten Bundesrepublik groß geworden sind, immer noch davon ausgehen, dass für jemanden, der sich anstrengt, alles möglich ist, und das auch so weitergeben. Aber sie erzählen von einem anderen Land. Von denen, die nach 1980 geboren wurden, schafft es nur noch die Hälfte, mehr Wohlstand aufzubauen als die eigenen Eltern. Vor allem gelingt es denen nicht mehr, bei denen es wichtig wäre, weil es ihren Familien nicht so gut geht.
Die älteren Westdeutschen, also die, die zwischen 1946 und 1964 geboren wurden, nennen Sie die „goldene Generation“.
Sie sind Glückskinder und waren immer zur richtigen Zeit im richtigen Alter: als das Bildungssystem ausgebaut wurde, sind sie zur Schule und an die Unis gegangen, als es hohe Zinsen gab, konnten sie sparen und Immobilien erwerben, jetzt sind sie alt und bestens versorgt.
Allerdings sind auch heute schon fast 17 Prozent der Senioren und Seniorinnen von Altersarmut betroffen.
Das stimmt. Es gibt auch unter älteren Menschen Armut und natürlich ist das schlimm, das will ich gar nicht kleinreden. Aber unter dem Strich ist keine Generation so wohlhabend wie die aktuell ältere.
Kann man der „goldenen Generation“ vorwerfen, auf Kosten der nachfolgenden Generationen zu leben und gelebt zu haben?
Ich finde schon. Viele wussten, dass die Rechnung nicht aufgeht und dem System mehr entnommen als hineingegeben wurde. Das ist analog zur Klimakrise: Auch unserer Generation wird man zurecht vorwerfen, dass wir davon wussten und nicht gehandelt haben. Aber auch wir neigen dazu, zu sagen: „Puh, gut, dass wir noch davonkommen sind.“
Sie haben für Ihre Recherche auch deutsche Familienserien aus den Achtzigern angeschaut, etwa die „Lindenstraße“ und die „Schwarzwaldklinik“. Warum?
Ich habe versucht, in die westdeutschen Achtziger zurück zu reisen, weil mir viele Ökonominnen gesagt haben, dass es danach zum Bruch kam. Und Serien wie die „Lindenstraße“ hatten den Anspruch, den Alltag nachzuerzählen. Es gibt Szenen, in denen Hans Beimer minutiös seine Ausgaben protokolliert. Offensichtlich konnte damals ein Sozialarbeiter mit drei Kindern als Alleinverdiener mitten in München leben. Gleichzeitig war ich total erschüttert, wie schrecklich das Familienbild in diesen Serien war, wie mies die Frauen behandelt und wie die Männer hofiert wurden. Das hat sehr geholfen, um nicht zu denken: „Ich will dahin zurück.“ Das will ich keine Sekunde. Ich finde, wir sollten über etwas Neues nachdenken. Etwas Besseres.
INTERVIEW: NADJA SCHLÜTER
„Ungefähr die Hälfte ist Teil der Working Class“, sagt Friedrich.
Foto: Andreas Hornoff
Julia Friedrichs: Working Class - Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können. Berlin Verlag, Berlin 2021. 320 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Autorin Julia Friedrichs über die Nöte der riesigen neuen „Working Class“
Die Generationen nach den Babyboomern, also all die, die nach 1964 geboren wurden, sind die ersten nach dem Zweiten Weltkrieg, die nicht mehr mehrheitlich ihre Eltern wirtschaftlich übertreffen werden. Sich Wohlstand aus eigener Kraft zu erarbeiten, ist schwieriger geworden, vielen Menschen droht später die Altersarmut. Was sind die Ursachen dafür? Julia Friedrichs hat für ihr Buch „Working Class”, Menschen begleitet, die dachten, dass Arbeit sie durchs Leben trägt, die reinigen, unterrichten, jeden Tag ins Büro gehen und feststellen, dass es trotzdem nicht reicht. Und sie hat mit Expertinnen und Politikern gesprochen, um herauszufinden, was falsch gelaufen ist.
SZ: Frau Friedrichs, wie definieren Sie eigentlich die „Working Class“, die arbeitende Klasse?
Julia Friedrichs: Dazu gehören für mich alle Menschen, die allein mit ihrer Arbeit ihr Leben finanzieren müssen, ohne Vermögen, Rücklagen, Eigentum oder Fonds. Nach dieser Definition sind in Deutschland ungefähr die Hälfte der Menschen Teil der Working Class.
Viele dürften bei dem Begriff eher an den Arbeiter am Fließband denken.
Sich bei der Definition auf Ausbildungsgänge oder bestimmte Berufe zu beschränken, finde ich veraltet. Die Musikschullehrerin mit Examen, die auf Honorarbasis arbeitet, gehört genauso zur Working Class, wie der ungelernte U-Bahn-Reiniger.
Die Musikschullehrerin Alexandra, der U-Bahn-Reiniger Sait oder Christian, der bei einer Marktforschungsfirma angestellt war – all diese Menschen haben Sie mehr als ein Jahr lang begleitet. Wie kam denn die Auswahl ihrer Protagonisten zustande?
Ich wollte, dass die Vielfalt sichtbar wird. Mir war aber auch wichtig, dass diese Menschen eine Geschichte haben, die über ihre Werktätigkeit hinausgeht, weil ich wollte, dass man ihnen lange zuhört und bereit ist, sich auf ihre Leben einzulassen.
Ist es ein typisches Symptom der modernen Working Class, dass die Menschen ausbrennen, weil sie beruflich nicht vorwärts kommen?
Ich glaube schon. Früher konnte man bei den meisten Unternehmen eine klassische Laufbahn machen: Man hat unten angefangen und sich hochgearbeitet, bis man nach 45 Dienstjahren mit einem dicken Blumenstrauß verabschiedet wurde. Die Arbeitsbeziehung war als lebenslange Ehe angelegt. Bis heute gibt es Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die sich mit Haut und Haaren einem Unternehmen hingeben, aber die Beziehung ist von der anderen Seite eher als Affäre geplant: So lange es geht, geht’s, dann ist Schluss.
Sie haben auch mit einem Vermögensverwalter gesprochen, der sehr reiche Kunden hat, was erschien Ihnen da die wesentliche Erkenntnis?
Dass es da gut läuft. Das Vermögen der unteren Hälfte wächst nicht, während die Reichen abheben. Ich war in einem Büro, das sich um die Pflege des Vermögens von sehr reichen Menschen kümmert und für sie überlegt: Kaufen wir damit Wald? Immobilien? In welchen Hedgefonds gehen wir?
Ungleichheit kann ja auch Ansporn sein.
Klar, beim Monopoly ist es auch ein Ansporn, wenn einer mit drei Straßen mehr gestartet ist, weil man ihn noch einholen kann. Aber wenn er jedes Mal, wenn er über „Los“ geht, das Zehnfache von dem einstreicht, ist das kein Wettbewerb mehr. In den USA kann man bereits messen, dass die Arbeitsmotivation der unteren Mittelschicht nachlässt. Wenn du immer machst und tust und es haut trotzdem nicht hin, dann hörst du auf lange Sicht auf, zu machen und zu tun. Das ist natürlich fatal.
Wer heute Teil der Working Class ist, hat häufig noch mitbekommen, wie Eltern oder Großeltern sich durch ihre Arbeit ein gewisses Vermögen aufbauen konnten. Was macht das mit den Jüngeren?
Es macht es schwerer zu erkennen, warum es heute anders ist. Ich habe bei Veranstaltungen erlebt, dass Menschen, die in der alten Bundesrepublik groß geworden sind, immer noch davon ausgehen, dass für jemanden, der sich anstrengt, alles möglich ist, und das auch so weitergeben. Aber sie erzählen von einem anderen Land. Von denen, die nach 1980 geboren wurden, schafft es nur noch die Hälfte, mehr Wohlstand aufzubauen als die eigenen Eltern. Vor allem gelingt es denen nicht mehr, bei denen es wichtig wäre, weil es ihren Familien nicht so gut geht.
Die älteren Westdeutschen, also die, die zwischen 1946 und 1964 geboren wurden, nennen Sie die „goldene Generation“.
Sie sind Glückskinder und waren immer zur richtigen Zeit im richtigen Alter: als das Bildungssystem ausgebaut wurde, sind sie zur Schule und an die Unis gegangen, als es hohe Zinsen gab, konnten sie sparen und Immobilien erwerben, jetzt sind sie alt und bestens versorgt.
Allerdings sind auch heute schon fast 17 Prozent der Senioren und Seniorinnen von Altersarmut betroffen.
Das stimmt. Es gibt auch unter älteren Menschen Armut und natürlich ist das schlimm, das will ich gar nicht kleinreden. Aber unter dem Strich ist keine Generation so wohlhabend wie die aktuell ältere.
Kann man der „goldenen Generation“ vorwerfen, auf Kosten der nachfolgenden Generationen zu leben und gelebt zu haben?
Ich finde schon. Viele wussten, dass die Rechnung nicht aufgeht und dem System mehr entnommen als hineingegeben wurde. Das ist analog zur Klimakrise: Auch unserer Generation wird man zurecht vorwerfen, dass wir davon wussten und nicht gehandelt haben. Aber auch wir neigen dazu, zu sagen: „Puh, gut, dass wir noch davonkommen sind.“
Sie haben für Ihre Recherche auch deutsche Familienserien aus den Achtzigern angeschaut, etwa die „Lindenstraße“ und die „Schwarzwaldklinik“. Warum?
Ich habe versucht, in die westdeutschen Achtziger zurück zu reisen, weil mir viele Ökonominnen gesagt haben, dass es danach zum Bruch kam. Und Serien wie die „Lindenstraße“ hatten den Anspruch, den Alltag nachzuerzählen. Es gibt Szenen, in denen Hans Beimer minutiös seine Ausgaben protokolliert. Offensichtlich konnte damals ein Sozialarbeiter mit drei Kindern als Alleinverdiener mitten in München leben. Gleichzeitig war ich total erschüttert, wie schrecklich das Familienbild in diesen Serien war, wie mies die Frauen behandelt und wie die Männer hofiert wurden. Das hat sehr geholfen, um nicht zu denken: „Ich will dahin zurück.“ Das will ich keine Sekunde. Ich finde, wir sollten über etwas Neues nachdenken. Etwas Besseres.
INTERVIEW: NADJA SCHLÜTER
„Ungefähr die Hälfte ist Teil der Working Class“, sagt Friedrich.
Foto: Andreas Hornoff
Julia Friedrichs: Working Class - Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können. Berlin Verlag, Berlin 2021. 320 Seiten, 22 Euro.
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