Gleich nach dem Ausbruch der Corona-Epidemie reist der Bürgerjournalist Li in das Epizentrum der Katastrophe. "Weil er keine Angst vor Gespenstern hat", so die Stellenanzeige, findet er einen Job im Krematorium. Schnell begreift er, dass die offiziellen Opferzahlen nicht stimmen. Doch der kurze Augenblick, in dem er glaubt, die Wahrheit sagen zu dürfen, vergeht über Nacht: Er wird entdeckt, verfolgt und dokumentiert im Internet live, wie er brutal verhaftet wird. In einem bestürzend aktuellen Dokumentarroman führt uns Liao Yiwu in das Herz der ungelösten Fragen und erzählt die spannende Recherche der Hintergründe einer gewaltigen Vertuschung. Woher stammt das Virus und was geschah in Wuhan? Protokolle verschwinden, und neue Lügen zementieren die Geschichte vom heroischen Sieg der Partei - Propaganda, die die Menschen vergiftet wie das Virus.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Fokke Joel liest gebannt die literarische Dokumentation Liao Yiwus, der den Beginn der Corona Pandemie in Wuhan nachzeichnet. Beginnend mit dem Bericht eines Journalisten, der der Vertuschung der vielen Corona-Toten durch den Staat auf die Schliche kommt, schreitet die Erzählung voran mit der Geschichte des fiktiven Historikers Ai Ding, der kurz nachdem Wuhan und weitere chinesische Großstädte zur Pandemiebekämpfung abgeriegelt wurden, versucht in die Stadt einzureisen und seine Erfahrungen und Beobachtungen schildert. Dem Rezensenten wird schnell klar, welch wichtige Rolle das Internet im autokratisch regierten Land spielt und allmählich ergibt sich ihm ein Eindruck von Chinas "Pandemiealltag", in dem Willkür, Korruption und Gewalt vorherrschen. Mit diesem Buch reihe der Autor sich in das Genre der dokumentarischen Literatur ein, wie Joel feststellt, und entwickelt ein "kunstvolles Patchwork" aus Dokumenten, Zitaten der chinesischen Literaturgeschichte und einer Erzählung, die so zwar nicht belegt ist, aber durchaus wahrhaftig erscheint, schließt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.2022Chinesischer Traum
Liao Yiwu mischt Erzählung, Dokumentation und Spekulation, um dem pandemischen Verhängnis von Wuhan auf die Spur zu kommen.
Seit mehr als zehn Jahren lebt der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu nun schon im Berliner Exil. Seine literarische Stimme ist so unverwechselbar sarkastisch, wütend, traurig, witzig und zärtlich zugleich geblieben wie in seinen großen Werken über den "Bodensatz der chinesischen Gesellschaft", die ihm unter anderem den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels eingetragen haben. In seinem jüngsten Buch, ausgewiesen als "Dokumentarroman", versucht ein Geschichtsdozent namens Ai Ding, der gerade einen Gastaufenthalt in Berlin hinter sich hat, zu Beginn der Corona-Seuche in seine Heimatstadt zurückzukehren, wo Frau und Kind auf ihn warten: Wuhan. Doch diese Stadt ist, nachdem die Behörden die Verbreitung des Virus dort zuerst vertuscht hatten, nun komplett abgeriegelt, und die Heimreise entwickelt sich zu einer wochenlangen Irrfahrt mit immer surrealeren Zügen.
Einmal sieht sich Ai Ding schon fast am Ziel, als ihn die Polizei mit einem Passierschein und einem Motorrad nebst Fahrer aus der Quarantäne entlässt. Auf dem Weg zum Bahnhof, von wo aus dann der Zug nach Wuhan fahren soll, singt der Chauffeur auf dem Motorrad, hochzufrieden mit dem Wucherpreis für die Fahrt, voll Inbrunst in seinem Heimatdialekt alte Revolutionslieder ("Bruder Aff' wird Rotarmist, Rotarmisten woll'n ihn nicht . . ."), und als kurz vor Changsha, wo der junge Mao im Fluss geschwommen haben soll, eine "in allen Farben des Regenbogens irisierende Wolke" über ihnen erscheint, gerät er ganz aus dem Häuschen: "Wahnsinn! Ein ziemlich dicker Packen 100 Yuan-Scheine da am Himmel! Es ist schon so, Vater und Mutter sind einem nicht so teuer wie der Kopf des Vorsitzenden Mao mitten drauf auf den Geldscheinen . . ." Doch von einem Moment zum anderen wird er plötzlich stocksteif, das Motorrad beginnt zu schlingern, der mitfahrende Geschichtsdozent kann es gerade noch in seine Gewalt bringen. Der Chauffeur aber röchelt nur noch, und ein paar Sekunden später ist er tot. So lässt das Virus eine burleske, mit geschichtlichen Assoziationen gespickte Alltagsszene, wie nur Liao Yiwu sie schildern kann, unvermittelt ins Absurde abkippen: Die brutal illusionslose Perspektive von unten, in der maoistische Folklore mit dem nur allzu kapitalistischen Überlebenskampf der real existierenden chinesischen Proletarier vermengt ist, erfährt durch die Epidemie eine weitere Zuspitzung.
Doch Liao bleibt in seinem neuen Buch nicht bei dieser fiktiven Handlung, er bettet sie vielmehr in ein Kaleidoskop aus Internetfundstücken, Nachrichten, Mutmaßungen und Polemiken rund um die erste Phase der Seuche ein. Das Bindeglied stellen vor allem die Videotelefonate zwischen dem Protagonisten Ai Ding und seinem Freund in Berlin, dem Schriftsteller Zhuang Zigui, her, in dem man nicht nur seines "Glatzkopfs" wegen Züge des Autors selbst erkennen kann. Zhuang ist ein eifriger Rechercheur im Internet, und so sind seine Funde die ständigen Gegenstände ihrer Gespräche. Immer wieder geht es darum, ob das Virus womöglich dem Forschungslabor P4 in Wuhan entsprungen sein könnte - deutet nicht schon die eingangs nacherzählte Episode der Verhaftung des Bürgerjournalisten Kcriss ganz in der Nähe dieses Instituts darauf hin? - oder ob es gar Teil einer "Unrestricted War"-Strategie Chinas sein könnte. Nicht, dass sich der Autor oder auch nur eine seiner Figuren solche Spekulationen zu eigen machten, immer wieder werden auch Gegenargumente genannt, doch weder der Autor noch die beiden Hauptpersonen lassen einen Zweifel daran, dass sie die Kommunistische Partei selbst schon für das Verhängnis des Landes halten.
Auch viele den sozialen Medien entnommene Szenen von verlassenen und im Elend am Virus verendenden Menschen tragen zu der zwischen Groteske und Apokalypse schwankenden Grundstimmung bei. Doch oft wirkt der Versuch, Informationen, Meinungen und Gerüchte in die Handlung zu verweben, unbeholfen. Das liegt nicht nur an der hölzernen Nachrichtensprache, die inmitten des sonst so respektlos anarchischen Tons Liaos wie ein Fremdkörper erscheint. Es liegt auch an der didaktischen Bemühtheit, mit der eine Hintergrundinformation nach der nächsten den Protagonisten in den Mund gelegt wird, etwa wenn "in einem weiteren ihrer Online-Gespräche Zhuang Zigui Ai Ding" erzählte, "dass die Staatsoberhäupter von Europa und Amerika, ganz im Sinne von Chefredakteur Hu, zunächst durchaus optimistisch und gegenüber China voll guten Willens gewesen seien". In solchen Momenten scheinen die Figuren nicht mehr aus sich heraus zu leben, sondern nur Nachrichten und Ideen zu illustrieren. Die Zwitterhaftigkeit bekommt dann auch der inhaltlichen Auseinandersetzung nicht gut. Argumentationen werden da nicht durchgehalten, sondern nur angerissen, suggeriert; als Rollenprosa heben sie sich im Zweifel gegenseitig auf.
Wo er erzählt, ist Liao Yiwu dagegen so markant wie eh und je. Schon in seinem Ton wird die Kraft dieses Autors gegenwärtig, der keinem Schmerz und keinem Schrecken ausweicht und dabei noch Sinn für Situationskomik und ein frappierendes Zartgefühl entwickelt. Einmal gibt er diese Gestalt auch direkt zu erkennen, als sein Alter Ego im Roman den verzweifelten Freund in China übers Internet mit seinem Flötenspiel tröstet und ihm Ratschläge fürs Trinken hochprozentiger Getränke gibt: "Beim Trinken geht es nicht darum, sich zu betäuben, sondern seine Gefühle auf die Reihe zu bekommen." Für seine Literatur gilt womöglich Ähnliches. MARK SIEMONS
Liao Yiwu: "Wuhan".
Dokumentarroman.
Aus dem Chinesischen
von Brigitte Höhenrieder und Hans Peter Hoffmann.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2022. 352 S.,
geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Liao Yiwu mischt Erzählung, Dokumentation und Spekulation, um dem pandemischen Verhängnis von Wuhan auf die Spur zu kommen.
Seit mehr als zehn Jahren lebt der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu nun schon im Berliner Exil. Seine literarische Stimme ist so unverwechselbar sarkastisch, wütend, traurig, witzig und zärtlich zugleich geblieben wie in seinen großen Werken über den "Bodensatz der chinesischen Gesellschaft", die ihm unter anderem den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels eingetragen haben. In seinem jüngsten Buch, ausgewiesen als "Dokumentarroman", versucht ein Geschichtsdozent namens Ai Ding, der gerade einen Gastaufenthalt in Berlin hinter sich hat, zu Beginn der Corona-Seuche in seine Heimatstadt zurückzukehren, wo Frau und Kind auf ihn warten: Wuhan. Doch diese Stadt ist, nachdem die Behörden die Verbreitung des Virus dort zuerst vertuscht hatten, nun komplett abgeriegelt, und die Heimreise entwickelt sich zu einer wochenlangen Irrfahrt mit immer surrealeren Zügen.
Einmal sieht sich Ai Ding schon fast am Ziel, als ihn die Polizei mit einem Passierschein und einem Motorrad nebst Fahrer aus der Quarantäne entlässt. Auf dem Weg zum Bahnhof, von wo aus dann der Zug nach Wuhan fahren soll, singt der Chauffeur auf dem Motorrad, hochzufrieden mit dem Wucherpreis für die Fahrt, voll Inbrunst in seinem Heimatdialekt alte Revolutionslieder ("Bruder Aff' wird Rotarmist, Rotarmisten woll'n ihn nicht . . ."), und als kurz vor Changsha, wo der junge Mao im Fluss geschwommen haben soll, eine "in allen Farben des Regenbogens irisierende Wolke" über ihnen erscheint, gerät er ganz aus dem Häuschen: "Wahnsinn! Ein ziemlich dicker Packen 100 Yuan-Scheine da am Himmel! Es ist schon so, Vater und Mutter sind einem nicht so teuer wie der Kopf des Vorsitzenden Mao mitten drauf auf den Geldscheinen . . ." Doch von einem Moment zum anderen wird er plötzlich stocksteif, das Motorrad beginnt zu schlingern, der mitfahrende Geschichtsdozent kann es gerade noch in seine Gewalt bringen. Der Chauffeur aber röchelt nur noch, und ein paar Sekunden später ist er tot. So lässt das Virus eine burleske, mit geschichtlichen Assoziationen gespickte Alltagsszene, wie nur Liao Yiwu sie schildern kann, unvermittelt ins Absurde abkippen: Die brutal illusionslose Perspektive von unten, in der maoistische Folklore mit dem nur allzu kapitalistischen Überlebenskampf der real existierenden chinesischen Proletarier vermengt ist, erfährt durch die Epidemie eine weitere Zuspitzung.
Doch Liao bleibt in seinem neuen Buch nicht bei dieser fiktiven Handlung, er bettet sie vielmehr in ein Kaleidoskop aus Internetfundstücken, Nachrichten, Mutmaßungen und Polemiken rund um die erste Phase der Seuche ein. Das Bindeglied stellen vor allem die Videotelefonate zwischen dem Protagonisten Ai Ding und seinem Freund in Berlin, dem Schriftsteller Zhuang Zigui, her, in dem man nicht nur seines "Glatzkopfs" wegen Züge des Autors selbst erkennen kann. Zhuang ist ein eifriger Rechercheur im Internet, und so sind seine Funde die ständigen Gegenstände ihrer Gespräche. Immer wieder geht es darum, ob das Virus womöglich dem Forschungslabor P4 in Wuhan entsprungen sein könnte - deutet nicht schon die eingangs nacherzählte Episode der Verhaftung des Bürgerjournalisten Kcriss ganz in der Nähe dieses Instituts darauf hin? - oder ob es gar Teil einer "Unrestricted War"-Strategie Chinas sein könnte. Nicht, dass sich der Autor oder auch nur eine seiner Figuren solche Spekulationen zu eigen machten, immer wieder werden auch Gegenargumente genannt, doch weder der Autor noch die beiden Hauptpersonen lassen einen Zweifel daran, dass sie die Kommunistische Partei selbst schon für das Verhängnis des Landes halten.
Auch viele den sozialen Medien entnommene Szenen von verlassenen und im Elend am Virus verendenden Menschen tragen zu der zwischen Groteske und Apokalypse schwankenden Grundstimmung bei. Doch oft wirkt der Versuch, Informationen, Meinungen und Gerüchte in die Handlung zu verweben, unbeholfen. Das liegt nicht nur an der hölzernen Nachrichtensprache, die inmitten des sonst so respektlos anarchischen Tons Liaos wie ein Fremdkörper erscheint. Es liegt auch an der didaktischen Bemühtheit, mit der eine Hintergrundinformation nach der nächsten den Protagonisten in den Mund gelegt wird, etwa wenn "in einem weiteren ihrer Online-Gespräche Zhuang Zigui Ai Ding" erzählte, "dass die Staatsoberhäupter von Europa und Amerika, ganz im Sinne von Chefredakteur Hu, zunächst durchaus optimistisch und gegenüber China voll guten Willens gewesen seien". In solchen Momenten scheinen die Figuren nicht mehr aus sich heraus zu leben, sondern nur Nachrichten und Ideen zu illustrieren. Die Zwitterhaftigkeit bekommt dann auch der inhaltlichen Auseinandersetzung nicht gut. Argumentationen werden da nicht durchgehalten, sondern nur angerissen, suggeriert; als Rollenprosa heben sie sich im Zweifel gegenseitig auf.
Wo er erzählt, ist Liao Yiwu dagegen so markant wie eh und je. Schon in seinem Ton wird die Kraft dieses Autors gegenwärtig, der keinem Schmerz und keinem Schrecken ausweicht und dabei noch Sinn für Situationskomik und ein frappierendes Zartgefühl entwickelt. Einmal gibt er diese Gestalt auch direkt zu erkennen, als sein Alter Ego im Roman den verzweifelten Freund in China übers Internet mit seinem Flötenspiel tröstet und ihm Ratschläge fürs Trinken hochprozentiger Getränke gibt: "Beim Trinken geht es nicht darum, sich zu betäuben, sondern seine Gefühle auf die Reihe zu bekommen." Für seine Literatur gilt womöglich Ähnliches. MARK SIEMONS
Liao Yiwu: "Wuhan".
Dokumentarroman.
Aus dem Chinesischen
von Brigitte Höhenrieder und Hans Peter Hoffmann.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2022. 352 S.,
geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Unterfüttert mit Zitaten aus Videos, Blogs und wissenschaftlichen Zeitschriften, bietet dieser "Dokumentarroman" einen atemberaubenden Einblick in eine wenig bekannte Gesellschaft im Moment höchster Krise. Kristin Breitenfellner Falter 20220511
Dem Virus auf der Spur
„Wuhan“: der neue Roman des chinesischen Exilschriftstellers Liao Yiwu
Murnau – Draußen Sonne, das Murnauer Moos, weiß glitzernde Gipfel, Idylle pur. Drinnen im Saal des Murnauer Alpenhofs ist Vorleser Stephan Knies gerade bei der Verfolgungsjagd angekommen, die sich der chinesische Bürgerjournalist Kcriss Li im Januar 2020 mit der Polizei liefert. Stundenlang harrt er in tiefster Dunkelheit in seinem Hotelzimmer aus, lauscht den an die Tür klopfenden Polizisten der „Nationalen Sicherheit“, versucht, seine Panik zu beherrschen. Die Angst lähmt ihn, auch das Publikum im Saal, gebannt von der Szene aus dem neuen Dokumentarroman „Wuhan“ des chinesischen Exilschriftsteller Liao Yiwu, hält den Atem an. Entspannung erst, als der Dichter zur Flöte greift und gleichermaßen kraftvoll wie schlicht mit dem Geiger Fabian Voigtschild musiziert.
Schon im Juni 2019 hatte der chinesische Autor mit Hilfe des Dramaturgen Stephan Knies Murnau als Ort gewählt, um mit der Rezitation seines berühmten Gedichts „Massaker“ anlässlich des 30. Jahrestags an das Blutbad auf dem Tiananmen Platz zu erinnern. Damals wünschte er sich landschaftlich den größtmöglichen Kontrast zum chinesischen Foltergefängnis, in dem er vier Jahre seines Lebens saß als Folge jenes Gedichts, das er schreiend und flüsternd auf einer Tonbandkassette verewigt hatte. Liao Yiwu gelang erst 2011 die Flucht nach Deutschland, seither lebt und schreibt er in Berlin.
Mit dem grandiosen Dokumentarroman „Wuhan“ (Fischer Verlag) begehrt der 63-jährige Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels erneut gegen das Vergessen auf. Er zeichnet darin die Stimmungslage seines Landes in den ersten Wochen der Pandemie nach, verbindet reale mit fiktiven Figuren. Ein Protagonist ist der bereits erwähnte Kcriss Li, der 2020 seine Karriere beim chinesischen Staatsfernsehen in Peking aufgab und begann, in Wuhan zu recherchieren und zu filmen. Dabei kam er vermutlich dem P4-Hochsicherheitslabor zu nahe. Wie nah Liao Yiwu trotz aller literarischen Verdichtung an der Realität bleibt, lässt sich auf Youtube in Kcriss Lis Videos nachvollziehen, die er bis zu seiner Verhaftung live streamte. Viele seiner Landsleute hätten versuchten, den Ursprung des Virus oder die wirkliche Anzahl der Toten zu ergründen, berichtet Liao in Murnau. Da ihm bewusst war, dass nur dezentrales Speichern diese Informationen vor der Löschung durch Netzpolizisten rette, habe er sich im Januar 2020 täglich nachmittags an den Computer gesetzt und bis 6 Uhr früh Daten gesichert, einschließlich der Posts und Kommentare. Er musste nicht lange warten, bis ihn Hacker angriffen und begannen, den Inhalt seines Computers zu löschen. „Das heißt, man wusste in China, was Liao Yiwu in Berlin macht“, sagte Hans Balmes vom Fischer Verlag. Die Überwachung habe eindeutig eine neue Stufe erreicht. Neben dem realen Thriller läuft ein zweiter fiktiver Erzählstrang, aus dem Liao Yiwu selbst vorlas: Der Historiker Ai Ding, der als Stipendiat gerade in Berlin weilt, will zum chinesischen Neujahrsfest zu Frau und Tochter nach Wuhan heimkehren. Er erreicht sein Ziel, aber erst Wochen später, nach schrecklichen Irrfahrten, Quarantänen und Schikanen. Manchmal hat er einfach bloß Pech, oft kippt die Verzweiflung in Komik. Die Zeit des Herumsitzes vertreibt er sich zum einen durch Chats mit seinem Freund, einem in Berlin lebenden, exilierten Autor namens Zhuang Zigui – einem „schreibenden Glatzkopf“, also Liao Yiwu nicht unähnlich. Zum anderen schreibt er nach dem Vorbild der Autorin Fang Fang ein Lockdown-Tagebuch, denkt darin über vieles nach, etwa über den chinesischen Umgang mit Sars 2003, die menschenleeren Orte, die nationalen Gesetze über „Gerüchteverbreitung“ oder die Frage, ob das Virus von den Fledermäusen oder aus dem P4-Labor stammt.
„Solange es Menschen gibt wie ihn und er in Deutschland Bücher schreiben darf, gibt es Hoffnung“, sagte der taiwanesische Diplomat Jhy-Wey Shieh in seiner Begrüßung. Nur in Taiwan dürfen Liao Yiwus Romane in Originalsprache erscheinen, nachvollziehbar, dass er sich diesem Land verbunden fühlt. Margarete Bause, die Grüne Sprecherin für Menschenrechte, wies dagegen auf den Carlsen-Verlag hin, den das chinesische Generalkonsulat im Vorjahr aufgefordert hatte, das Kinderbuch „Ein Corona-Regenbogen für Anna und Moritz“ zu überarbeiten, verärgert über den Satz, das „Virus kommt aus China und hat sich von dort aus auf der ganzen Welt ausgebreitet“. Carlsen machte das tatsächlich. „So etwas darf in Europa nicht passieren“, sagte Bause und wünschte sich, Deutschland würde sich zum diplomatischen Boykott der Olympischen Spiele entschließen.
Kcriss Li ist übrigens wie andere Bürgerjournalisten seit der Verhaftung im Februar 2020 verschwunden. Nur einmal tauchte er im April noch in einem Video auf, voll des Lobs über faire Behandlung durch die Polizei.
SABINE REITHMAIER
Er schildert die Stimmung
seiner Landsleute in den
ersten Wochen der Pandemie
Der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu bei der Vorstellung seines Romans „Wuhan“ in Murnau.
Foto: Foto: Thomas Reche
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
„Wuhan“: der neue Roman des chinesischen Exilschriftstellers Liao Yiwu
Murnau – Draußen Sonne, das Murnauer Moos, weiß glitzernde Gipfel, Idylle pur. Drinnen im Saal des Murnauer Alpenhofs ist Vorleser Stephan Knies gerade bei der Verfolgungsjagd angekommen, die sich der chinesische Bürgerjournalist Kcriss Li im Januar 2020 mit der Polizei liefert. Stundenlang harrt er in tiefster Dunkelheit in seinem Hotelzimmer aus, lauscht den an die Tür klopfenden Polizisten der „Nationalen Sicherheit“, versucht, seine Panik zu beherrschen. Die Angst lähmt ihn, auch das Publikum im Saal, gebannt von der Szene aus dem neuen Dokumentarroman „Wuhan“ des chinesischen Exilschriftsteller Liao Yiwu, hält den Atem an. Entspannung erst, als der Dichter zur Flöte greift und gleichermaßen kraftvoll wie schlicht mit dem Geiger Fabian Voigtschild musiziert.
Schon im Juni 2019 hatte der chinesische Autor mit Hilfe des Dramaturgen Stephan Knies Murnau als Ort gewählt, um mit der Rezitation seines berühmten Gedichts „Massaker“ anlässlich des 30. Jahrestags an das Blutbad auf dem Tiananmen Platz zu erinnern. Damals wünschte er sich landschaftlich den größtmöglichen Kontrast zum chinesischen Foltergefängnis, in dem er vier Jahre seines Lebens saß als Folge jenes Gedichts, das er schreiend und flüsternd auf einer Tonbandkassette verewigt hatte. Liao Yiwu gelang erst 2011 die Flucht nach Deutschland, seither lebt und schreibt er in Berlin.
Mit dem grandiosen Dokumentarroman „Wuhan“ (Fischer Verlag) begehrt der 63-jährige Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels erneut gegen das Vergessen auf. Er zeichnet darin die Stimmungslage seines Landes in den ersten Wochen der Pandemie nach, verbindet reale mit fiktiven Figuren. Ein Protagonist ist der bereits erwähnte Kcriss Li, der 2020 seine Karriere beim chinesischen Staatsfernsehen in Peking aufgab und begann, in Wuhan zu recherchieren und zu filmen. Dabei kam er vermutlich dem P4-Hochsicherheitslabor zu nahe. Wie nah Liao Yiwu trotz aller literarischen Verdichtung an der Realität bleibt, lässt sich auf Youtube in Kcriss Lis Videos nachvollziehen, die er bis zu seiner Verhaftung live streamte. Viele seiner Landsleute hätten versuchten, den Ursprung des Virus oder die wirkliche Anzahl der Toten zu ergründen, berichtet Liao in Murnau. Da ihm bewusst war, dass nur dezentrales Speichern diese Informationen vor der Löschung durch Netzpolizisten rette, habe er sich im Januar 2020 täglich nachmittags an den Computer gesetzt und bis 6 Uhr früh Daten gesichert, einschließlich der Posts und Kommentare. Er musste nicht lange warten, bis ihn Hacker angriffen und begannen, den Inhalt seines Computers zu löschen. „Das heißt, man wusste in China, was Liao Yiwu in Berlin macht“, sagte Hans Balmes vom Fischer Verlag. Die Überwachung habe eindeutig eine neue Stufe erreicht. Neben dem realen Thriller läuft ein zweiter fiktiver Erzählstrang, aus dem Liao Yiwu selbst vorlas: Der Historiker Ai Ding, der als Stipendiat gerade in Berlin weilt, will zum chinesischen Neujahrsfest zu Frau und Tochter nach Wuhan heimkehren. Er erreicht sein Ziel, aber erst Wochen später, nach schrecklichen Irrfahrten, Quarantänen und Schikanen. Manchmal hat er einfach bloß Pech, oft kippt die Verzweiflung in Komik. Die Zeit des Herumsitzes vertreibt er sich zum einen durch Chats mit seinem Freund, einem in Berlin lebenden, exilierten Autor namens Zhuang Zigui – einem „schreibenden Glatzkopf“, also Liao Yiwu nicht unähnlich. Zum anderen schreibt er nach dem Vorbild der Autorin Fang Fang ein Lockdown-Tagebuch, denkt darin über vieles nach, etwa über den chinesischen Umgang mit Sars 2003, die menschenleeren Orte, die nationalen Gesetze über „Gerüchteverbreitung“ oder die Frage, ob das Virus von den Fledermäusen oder aus dem P4-Labor stammt.
„Solange es Menschen gibt wie ihn und er in Deutschland Bücher schreiben darf, gibt es Hoffnung“, sagte der taiwanesische Diplomat Jhy-Wey Shieh in seiner Begrüßung. Nur in Taiwan dürfen Liao Yiwus Romane in Originalsprache erscheinen, nachvollziehbar, dass er sich diesem Land verbunden fühlt. Margarete Bause, die Grüne Sprecherin für Menschenrechte, wies dagegen auf den Carlsen-Verlag hin, den das chinesische Generalkonsulat im Vorjahr aufgefordert hatte, das Kinderbuch „Ein Corona-Regenbogen für Anna und Moritz“ zu überarbeiten, verärgert über den Satz, das „Virus kommt aus China und hat sich von dort aus auf der ganzen Welt ausgebreitet“. Carlsen machte das tatsächlich. „So etwas darf in Europa nicht passieren“, sagte Bause und wünschte sich, Deutschland würde sich zum diplomatischen Boykott der Olympischen Spiele entschließen.
Kcriss Li ist übrigens wie andere Bürgerjournalisten seit der Verhaftung im Februar 2020 verschwunden. Nur einmal tauchte er im April noch in einem Video auf, voll des Lobs über faire Behandlung durch die Polizei.
SABINE REITHMAIER
Er schildert die Stimmung
seiner Landsleute in den
ersten Wochen der Pandemie
Der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu bei der Vorstellung seines Romans „Wuhan“ in Murnau.
Foto: Foto: Thomas Reche
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