Sie ist jung und erfolgreich, als Schwarze Frau hat sie es in den Olymp der Londoner Hochfinanz geschafft. Ihr Freund kommt aus dem alten Empire, aus betuchtem Hause. Doch als sie zu einer Gartenparty bei seiner Familie eingeladen wird, muss sie am eigenen Körper erfahren, dass erlittenes Unrecht tiefere Wurzeln geschlagen hat, als sie dachte. Ein außergewöhnlicher Roman, der die toxische Wirkung der Vergangenheit in unseren Worten und in unserem Besitz nachzeichnet. Natasha Brown macht das Drama der Gegenwart erfahrbar, das sich aus dem jahrhundertalten Erbe von Sexismus, Rassismus, Klassismus und Kolonialismus ergibt.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Rose-Maria Gropp liest die vielen abgebrochenen Sätze in Natasha Browns gefeiertem Debütroman nicht als Hinweis auf mangelndes Erzählvermögen, sondern als Stilmittel für das zerbrochene Selbstverständnis der Protagonistin. Bei dieser handelt es sich um eine junge, erfolgreiche schwarze Frau in England, die mit ihrer Identität und ihrem Anpassungserfolg in der Gesellschaft hadert. Wie intensiv diese sich im Buch selbst beobachtet, wirkt auf Gropp verstörend. Ein Masochismus, den die rassistische, kolonialistische und sexistische Gesellschaft hervorruft, ahnt sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.02.2022Das Märchen
von der Leiter
Natasha Browns Roman „Zusammenkunft“
erzählt von den Schwierigkeiten des sozialen
Aufstiegs im Großbritannien der Gegenwart
VON CARLOS SPOERHASE
Ein Buch, in dem vordergründig nicht viel passiert: ein Vortrag, eine Beförderung, eine Diagnose und ein Besuch auf dem Land. Eine Protagonistin, die namenlos bleibt und mit wenigen biografischen Eckdaten umrissen wird: eine junge britische Frau, deren Eltern vor ihrer Geburt aus der Karibik eingewandert sind und der eine glänzende Karriere im Finanzwesen gelungen ist. Aufgrund ihres Erfolgs hält sie für ihren Arbeitgeber an Schulen Vorträge über Diversität.
Die Zusammenkunft, die dem Roman seinen Titel gibt, spielt sich an einer Londoner Schule ab, wo sie von den sozialen Aufstiegsmöglichkeiten in ihrer Bank berichtet: „Es ist eine Geschichte. Sie handelt von Herausforderungen. Von harter Arbeit. Sich am Riemen reißen. Hochgerollten Hemdsärmeln … Ich trage meine alten Sätze vor wie neue Weisheiten. Klicke zur nächsten Folie. Hinter mir lächeln riesige, diverse Gesichter in grauen Anzügen, zeigen auf Grafiken, schütteln Hände und winken.“ Natürlich bürgt sie in dieser Situation mit ihrer Biografie für das meritokratische Versprechen des gesellschaftlichen Aufstiegs durch individuelle Leistung.
Belügt die Protagonistin ihr junges Publikum? Das ist nicht leicht zu beantworten: Die Anstellung in der Londoner City hat ihr tatsächlich erlaubt, sich einen Weg von der Unterschicht in die Mittelschicht zu erkämpfen. Der Erfolg manifestiert sich in einer smarten Garderobe, einer stilvollen Eigentumswohnung in einem Townhouse. Sie kann sich nun eine private Krankenversicherung leisten, die ihr Besuche in luxuriösen Arztpraxen ermöglicht. Sie lässt ihr Vermögen von einem Berater verwalten und findet auch Anschluss an die britische Oberschicht. Ihr Freund stammt aus einer aristokratischen Familie. Dies alles spielt sich in dem Roman der britischen Debütautorin Natasha Brown ab, die in Cambridge studiert und selbst über viele Jahren im Londoner Finanzsektor gearbeitet hat. In knappen Sätzen und auf kaum mehr als 100 Seiten werden in einer Folge atmosphärisch dichter Vignetten, die Beobachtung und Reflexion kunstvoll verschränken, Alltagsszenen aus dem Leben der Aufsteigerin skizziert: Kollegen, die übergriffig sind und dann beteuern, es sei doch eigentlich gar nichts geschehen; Männer, die so tun, als könnten nur Frauen Kaffeemaschinen bedienen; Mitmenschen, die unterstellen, sie müsse aus Afrika kommen.
Mehr noch als diese Vignetten über die Ausgrenzungserfahrungen im Alltag erschüttert bei der Lektüre aber die Reaktionsweise der erfolgreichen Frau: Sie nimmt die diskriminierenden Überschreitungen geduldig hin. Von den ersten Spielplatzbeschimpfungen bis zur Belästigung am Arbeitsplatz hat sie sich antrainieren müssen, sich am besten nichts anmerken zu lassen. Weshalb partout nicht auffallen wollen? Wohl weil das Gefühl überwiegt, nicht wirklich zum Großbritannien der Gegenwart dazuzugehören.
Die in großen Lettern mit „Go Home“ beschrifteten Lieferwagen, die 2013 im Rahmen einer vom britischen Innenministerium verantworteten Kampagne gegen illegale Immigration durch London fuhren, spielen auch in Browns Roman eine Rolle, nähren sie doch in der Protagonistin den Zweifel, nur eine britische Staatsbürgerin auf Widerruf zu sein. Dieser Zweifel artikuliert sich zudem in dem veritablen Rechtfertigungszwang, man sei der britischen Gesellschaft nichts schuldig geblieben: „Ich zahle meine Steuern, jedes Jahr. Alles, was für mich ausgegeben wurde: Bildung, Gesundheitsversorgung, was noch – Straßen? Ich habe alles zurückgezahlt. Und mehr. Ab jetzt ist alles Profit. Ich bin, was wir immer für das Empire waren: purer Scheißprofit.“ Aber kann man jemals heimisch werden, wo man nicht als Staatsbürgerin, sondern bloß als Steuerzahlerin geschätzt wird? Wo aber könnte eine Heimat zu finden sein? Gerade hier unterscheidet sich „Zusammenkunft“ von anderen Romanen, die in jüngerer Zeit den sozialen Aufstieg thematisiert und dabei die Rückkehr an den familiären Herkunftsort der Protagonistinnen und Protagonisten ins Zentrum gestellt haben. „Zusammenkunft“ verbietet sich ein Erzählmodell, das die eigene Wahrheit in persönlichen Ursprüngen findet – und widmet der Herkunft der Familie der Protagonistin wenig mehr als einen distanzierenden Satz: „Ich kenne Jamaika nur aus Erzählungen.“ Geschichten über die eigene Herkunft bieten keinen sicheren Anker für ein mögliches Selbstverständnis.
Auch die Vorstellung einer freien Innerlichkeit, die sich unter allen gesellschaftlichen Zwängen freilegen ließe, wird zurückgewiesen: „Wenn ich für einen Abend alleine bin, in diesem geschmackvollen Zuhause, das ich mir eingerichtet habe, streife ich die Kleidung des Tages ab. Schäle Schichten, Stoffe von meiner Haut, bis nichts mehr darunterliegt. Doch nichts weiter offenbart sich, kein verstecktes Selbst, keine Nacktheit.“
Der Feierabend legt kein unverfälschtes Selbst unter dem Kostüm frei. Und selbst die eigene Liebesbeziehung erscheint ihr kompromittiert. Der reiche Oberschichtssohn strebt, wie die Protagonistin zynisch bemerkt, eine politische Karriere an und möchte sich durch die Liaison mit ihr „eine gewisse liberale Glaubwürdigkeit“ verschaffen – natürlich, ein moderner Aristokrat müsse sich als Brückenbauer „zwischen den Kulturen“ inszenieren.
In „Zusammenkunft“ gibt es keine Reservate des richtigen Lebens und keine Auswege aus dem falschen. Das „kompromisslose Streben“ nach akademischem und beruflichem Erfolg hat die Protagonistin voll und ganz in ein falsches Leben hineinsozialisiert, zu dem es nun keine Alternative mehr zu geben scheint. Und woher sollte auch ein anderer Lebensentwurf kommen, sie hat ja rund um die Uhr an ihrem sozialen Aufstieg gearbeitet. Die Alternativlosigkeit ihrer Lage wird an nichts so deutlich erkennbar wie an dem vollständigen Fehlen von Imaginationskraft: Die einzige Alternative, die der Protagonistin zu ihrer karrieristischen Lebensweise einfällt, ist der eigene Tod. Als sie fast parallel zu einer weiteren Beförderung eine Krebsdiagnose erhält, erwägt sie, auf die Behandlung zu verzichten. Die Erkrankung tritt ihr plötzlich als einzige Chance entgegen, den „endlosen Aufstieg zu beenden“. Das ewige Streben nach gesellschaftlichem Erfolg hat die Fähigkeit vernichtet, sich die Welt auch nur ein wenig anders vorzustellen. „Zusammenkunft“ wurde zu Recht dafür gelobt, dass darin auf beeindruckend konzentrierte Weise von vielfältig verschränkten Diskriminierungserfahrungen erzählt und dem mächtigen Märchen von der segensreichen sozialen Mobilität eine Absage erteilt wird. Derartige Lektüren liegen nahe, übersehen aber die subtile Ironie, die in der Erzählung immer wieder aufblitzt. So sieht die Protagonistin mit zunehmender Sorge, wie gut es ihr gelingt, ihre falsche Erwartungen weckende Aufstiegsgeschichte in Schulen weiterzuverbreiten. Soll sie der nächsten Generation also doch reinen Wein einschenken und den illusorischen Charakter der Meritokratie mit scharfen Worten geißeln?
Ihr Freund, der sich gelegentlich als politischer Redenschreiber engagiert, rät davon ab: Sie solle ihr gesellschaftskritisches Anliegen besser in eine Geschichte verpacken, am besten eine, die sich mit ihrem persönlichen Schicksal verbinden lasse – das wirke noch authentischer. Eine ironische Pointe, die das Erzählmodell von „Zusammenkunft“ selbst trifft: In einen „erzählerischen Bogen“ sind die politischen Probleme auch im Roman von Brown eingepasst; auch er folgt dem Schicksal einer Heldin, die sich am Schluss vielleicht doch noch von den gesellschaftlichen Zumutungen emanzipieren und für das Leben entscheiden wird. Ist auch „Zusammenkunft“ also nur eine weitere Episode der großen Erzählung von der Bewältigung des sozialen Aufstiegs? Es zeichnet diesen Roman aus, dass er seiner eigenen Form gegenüber skeptisch bleibt; dass er bis zum Schluss offenhält, ob sich seine Geschichte weit genug von dem gängigen story telling entfernt hat, das die Aufsteigerin bei ihren Schulauftritten so virtuos praktiziert.
Die diskriminierenden
Überschreitungen nimmt
sie geduldig hin
Es zeichnet den Roman aus,
dass er seiner eigenen Form
gegenüber skeptisch bleibt
Natascha Brown:
Zusammenkunft. Roman. Aus dem Englischen von Jackie Thomae. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022.
113 Seiten, 20 Euro.
Es überwiegt das Gefühl, nicht wirklich dazuzugehören: die britische Autorin Natasha Brown.
Foto: Suhrkamp Verlag
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
von der Leiter
Natasha Browns Roman „Zusammenkunft“
erzählt von den Schwierigkeiten des sozialen
Aufstiegs im Großbritannien der Gegenwart
VON CARLOS SPOERHASE
Ein Buch, in dem vordergründig nicht viel passiert: ein Vortrag, eine Beförderung, eine Diagnose und ein Besuch auf dem Land. Eine Protagonistin, die namenlos bleibt und mit wenigen biografischen Eckdaten umrissen wird: eine junge britische Frau, deren Eltern vor ihrer Geburt aus der Karibik eingewandert sind und der eine glänzende Karriere im Finanzwesen gelungen ist. Aufgrund ihres Erfolgs hält sie für ihren Arbeitgeber an Schulen Vorträge über Diversität.
Die Zusammenkunft, die dem Roman seinen Titel gibt, spielt sich an einer Londoner Schule ab, wo sie von den sozialen Aufstiegsmöglichkeiten in ihrer Bank berichtet: „Es ist eine Geschichte. Sie handelt von Herausforderungen. Von harter Arbeit. Sich am Riemen reißen. Hochgerollten Hemdsärmeln … Ich trage meine alten Sätze vor wie neue Weisheiten. Klicke zur nächsten Folie. Hinter mir lächeln riesige, diverse Gesichter in grauen Anzügen, zeigen auf Grafiken, schütteln Hände und winken.“ Natürlich bürgt sie in dieser Situation mit ihrer Biografie für das meritokratische Versprechen des gesellschaftlichen Aufstiegs durch individuelle Leistung.
Belügt die Protagonistin ihr junges Publikum? Das ist nicht leicht zu beantworten: Die Anstellung in der Londoner City hat ihr tatsächlich erlaubt, sich einen Weg von der Unterschicht in die Mittelschicht zu erkämpfen. Der Erfolg manifestiert sich in einer smarten Garderobe, einer stilvollen Eigentumswohnung in einem Townhouse. Sie kann sich nun eine private Krankenversicherung leisten, die ihr Besuche in luxuriösen Arztpraxen ermöglicht. Sie lässt ihr Vermögen von einem Berater verwalten und findet auch Anschluss an die britische Oberschicht. Ihr Freund stammt aus einer aristokratischen Familie. Dies alles spielt sich in dem Roman der britischen Debütautorin Natasha Brown ab, die in Cambridge studiert und selbst über viele Jahren im Londoner Finanzsektor gearbeitet hat. In knappen Sätzen und auf kaum mehr als 100 Seiten werden in einer Folge atmosphärisch dichter Vignetten, die Beobachtung und Reflexion kunstvoll verschränken, Alltagsszenen aus dem Leben der Aufsteigerin skizziert: Kollegen, die übergriffig sind und dann beteuern, es sei doch eigentlich gar nichts geschehen; Männer, die so tun, als könnten nur Frauen Kaffeemaschinen bedienen; Mitmenschen, die unterstellen, sie müsse aus Afrika kommen.
Mehr noch als diese Vignetten über die Ausgrenzungserfahrungen im Alltag erschüttert bei der Lektüre aber die Reaktionsweise der erfolgreichen Frau: Sie nimmt die diskriminierenden Überschreitungen geduldig hin. Von den ersten Spielplatzbeschimpfungen bis zur Belästigung am Arbeitsplatz hat sie sich antrainieren müssen, sich am besten nichts anmerken zu lassen. Weshalb partout nicht auffallen wollen? Wohl weil das Gefühl überwiegt, nicht wirklich zum Großbritannien der Gegenwart dazuzugehören.
Die in großen Lettern mit „Go Home“ beschrifteten Lieferwagen, die 2013 im Rahmen einer vom britischen Innenministerium verantworteten Kampagne gegen illegale Immigration durch London fuhren, spielen auch in Browns Roman eine Rolle, nähren sie doch in der Protagonistin den Zweifel, nur eine britische Staatsbürgerin auf Widerruf zu sein. Dieser Zweifel artikuliert sich zudem in dem veritablen Rechtfertigungszwang, man sei der britischen Gesellschaft nichts schuldig geblieben: „Ich zahle meine Steuern, jedes Jahr. Alles, was für mich ausgegeben wurde: Bildung, Gesundheitsversorgung, was noch – Straßen? Ich habe alles zurückgezahlt. Und mehr. Ab jetzt ist alles Profit. Ich bin, was wir immer für das Empire waren: purer Scheißprofit.“ Aber kann man jemals heimisch werden, wo man nicht als Staatsbürgerin, sondern bloß als Steuerzahlerin geschätzt wird? Wo aber könnte eine Heimat zu finden sein? Gerade hier unterscheidet sich „Zusammenkunft“ von anderen Romanen, die in jüngerer Zeit den sozialen Aufstieg thematisiert und dabei die Rückkehr an den familiären Herkunftsort der Protagonistinnen und Protagonisten ins Zentrum gestellt haben. „Zusammenkunft“ verbietet sich ein Erzählmodell, das die eigene Wahrheit in persönlichen Ursprüngen findet – und widmet der Herkunft der Familie der Protagonistin wenig mehr als einen distanzierenden Satz: „Ich kenne Jamaika nur aus Erzählungen.“ Geschichten über die eigene Herkunft bieten keinen sicheren Anker für ein mögliches Selbstverständnis.
Auch die Vorstellung einer freien Innerlichkeit, die sich unter allen gesellschaftlichen Zwängen freilegen ließe, wird zurückgewiesen: „Wenn ich für einen Abend alleine bin, in diesem geschmackvollen Zuhause, das ich mir eingerichtet habe, streife ich die Kleidung des Tages ab. Schäle Schichten, Stoffe von meiner Haut, bis nichts mehr darunterliegt. Doch nichts weiter offenbart sich, kein verstecktes Selbst, keine Nacktheit.“
Der Feierabend legt kein unverfälschtes Selbst unter dem Kostüm frei. Und selbst die eigene Liebesbeziehung erscheint ihr kompromittiert. Der reiche Oberschichtssohn strebt, wie die Protagonistin zynisch bemerkt, eine politische Karriere an und möchte sich durch die Liaison mit ihr „eine gewisse liberale Glaubwürdigkeit“ verschaffen – natürlich, ein moderner Aristokrat müsse sich als Brückenbauer „zwischen den Kulturen“ inszenieren.
In „Zusammenkunft“ gibt es keine Reservate des richtigen Lebens und keine Auswege aus dem falschen. Das „kompromisslose Streben“ nach akademischem und beruflichem Erfolg hat die Protagonistin voll und ganz in ein falsches Leben hineinsozialisiert, zu dem es nun keine Alternative mehr zu geben scheint. Und woher sollte auch ein anderer Lebensentwurf kommen, sie hat ja rund um die Uhr an ihrem sozialen Aufstieg gearbeitet. Die Alternativlosigkeit ihrer Lage wird an nichts so deutlich erkennbar wie an dem vollständigen Fehlen von Imaginationskraft: Die einzige Alternative, die der Protagonistin zu ihrer karrieristischen Lebensweise einfällt, ist der eigene Tod. Als sie fast parallel zu einer weiteren Beförderung eine Krebsdiagnose erhält, erwägt sie, auf die Behandlung zu verzichten. Die Erkrankung tritt ihr plötzlich als einzige Chance entgegen, den „endlosen Aufstieg zu beenden“. Das ewige Streben nach gesellschaftlichem Erfolg hat die Fähigkeit vernichtet, sich die Welt auch nur ein wenig anders vorzustellen. „Zusammenkunft“ wurde zu Recht dafür gelobt, dass darin auf beeindruckend konzentrierte Weise von vielfältig verschränkten Diskriminierungserfahrungen erzählt und dem mächtigen Märchen von der segensreichen sozialen Mobilität eine Absage erteilt wird. Derartige Lektüren liegen nahe, übersehen aber die subtile Ironie, die in der Erzählung immer wieder aufblitzt. So sieht die Protagonistin mit zunehmender Sorge, wie gut es ihr gelingt, ihre falsche Erwartungen weckende Aufstiegsgeschichte in Schulen weiterzuverbreiten. Soll sie der nächsten Generation also doch reinen Wein einschenken und den illusorischen Charakter der Meritokratie mit scharfen Worten geißeln?
Ihr Freund, der sich gelegentlich als politischer Redenschreiber engagiert, rät davon ab: Sie solle ihr gesellschaftskritisches Anliegen besser in eine Geschichte verpacken, am besten eine, die sich mit ihrem persönlichen Schicksal verbinden lasse – das wirke noch authentischer. Eine ironische Pointe, die das Erzählmodell von „Zusammenkunft“ selbst trifft: In einen „erzählerischen Bogen“ sind die politischen Probleme auch im Roman von Brown eingepasst; auch er folgt dem Schicksal einer Heldin, die sich am Schluss vielleicht doch noch von den gesellschaftlichen Zumutungen emanzipieren und für das Leben entscheiden wird. Ist auch „Zusammenkunft“ also nur eine weitere Episode der großen Erzählung von der Bewältigung des sozialen Aufstiegs? Es zeichnet diesen Roman aus, dass er seiner eigenen Form gegenüber skeptisch bleibt; dass er bis zum Schluss offenhält, ob sich seine Geschichte weit genug von dem gängigen story telling entfernt hat, das die Aufsteigerin bei ihren Schulauftritten so virtuos praktiziert.
Die diskriminierenden
Überschreitungen nimmt
sie geduldig hin
Es zeichnet den Roman aus,
dass er seiner eigenen Form
gegenüber skeptisch bleibt
Natascha Brown:
Zusammenkunft. Roman. Aus dem Englischen von Jackie Thomae. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022.
113 Seiten, 20 Euro.
Es überwiegt das Gefühl, nicht wirklich dazuzugehören: die britische Autorin Natasha Brown.
Foto: Suhrkamp Verlag
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.05.2022Sie kam nicht aus Afrika
Kurz und schmerzhaft: Natasha Browns Roman "Zusammenkunft" stellt der britischen Klassengesellschaft eine harte Diagnose.
Unter dem Titel "Assembly" erschien dieser schmale Roman im vorigen Jahr in London und wurde zum durchschlagenden Erfolg. Er ist das literarische Debüt von Natasha Brown, deren frühere Karriere im Londoner Finanzwesen ungefähr der ihrer Protagonistin entsprochen hat. Dabei kalkuliert Brown sehr genau, wie sie mit Klassismus und Rassismus, Kolonialismus, Diversität und Sexismus ins Mark der britischen Gesellschaft trifft. Die Besprechungen fielen positiv bis hymnisch aus.
Die Ich-Erzählerin ist namenlos. Sie ist eine junge und attraktive schwarze Frau in England, Angehörige der zweiten Generation von Einwanderern. Immer wieder wird sie mit der Vermutung konfrontiert, sie käme "aus Afrika". Nur am Rand wird klar, dass die Herkunft ihrer Vorfahren Jamaika ist, die ehemalige britische Kolonie. Jamaikas Geschichte war, noch davor, von der Verschleppung afrikanischer Sklaven gezeichnet. Aber in ihren Ursprüngen kann und will sie keinen Teil ihrer Identität ausmachen. Sie hat an einer Eliteuniversität Mathematik studiert und avancierte hoch in der Bankenwelt. Darüber berichtet sie vor Schulklassen, zur Motivation Jugendlicher. Doch auch ihr sozialer Aufstieg, ihre brillante Performance und damit verbunden finanzielle Unabhängigkeit geben ihr keinen Halt. Es ist nur einer der Schläge ins Gesicht, die sie, mehr oder weniger offen, auszuhalten hat; sie müsse doch zugeben, dass ihr nicht nur ihr Geschlecht, sondern ihre schwarze Hautfarbe dabei hilfreich sei.
Sie ist liiert mit einem jungen wohlhabenden Politikberater, er zählt zur englischen Oberschicht, es wäre eine perfekte Allianz. Unbeschwert kann indessen auch ihr Freund nicht sein; einmal heißt es, dass er morgens seine Citalopram schluckt, ein Mittel gegen Depressionen und Angststörungen. Auf ihm lastet die Tradition, der angeborene Anspruch seiner Familie in paternalistischer Tradition, denn vom souverän auftretenden Vater stammen die Titel und das Erbe. Die Mutter ihres Freunds hatte "eingeheiratet": "Die Zwiespältigkeit der Mutter war traditioneller. Einmal hat sie mich mit dem peinlichen Spruch ,die aktuelle Herzdame unseres Jüngsten' vorgestellt und dabei die Bekannte, die gefragt hatte, wissend angelächelt." Sie kommt zu dem Schluss: "Unter der Feindseligkeit der Mutter lag eine Unsicherheit, mit der ich mich fast identifizierte." Das geschah, bevor sie jetzt zu einer Party auf dem Landsitz der Eltern geladen ist, die ihren Hochzeitstag feiern.
Was die eigentliche Schlagkraft von Natasha Browns Roman ausmacht und ihn verstörend sein lässt, ist die Intensität ihrer Selbstbefragung, bis hin zur Selbstquälerei. Der Masochismus in ihr ist Manie, er ist ihr subkutan eingeschrieben: "Generationen der Aufopferung; harte Arbeit, noch härteres Leben. So viel gelitten, so viel aufgegeben - für diese Chance. Für mein Leben. Und ich habe es versucht, habe versucht dem gerecht zu werden. Aber nach Jahren des Abmühens, des Abkämpfens gegen die Strömung, bin ich so weit, meine Arme sinken zu lassen. Mit dem Strampeln aufzuhören. Das Wasser einzuatmen. Ich bin erschöpft. Vielleicht ist es Zeit, diese Geschichte zu beenden." Sie kann nicht Heimat finden in einer noch so multikulturellen, diversen Umgebung, nicht heimatlich werden in sich selbst. Ihre Kollegin und Freundin Rach, "klein, verzogen, energiegeladen" und, auch ohne dass es gesagt würde, wohl weißer Hautfarbe, sieht das so: ",Es ist das Prinzip', hat Rach früher an diesem Tag zu mir gesagt. 'Scheiß auf den Sexismus - mach ihn dir zu Nutze!'" Diese rüde Pragmatik steht der Ich-Erzählerin nicht zur Verfügung, der die Überwindung der ethnischen Kategorien zunehmend unmöglich erscheint: "Aber mir war schlecht vom Erreichen, vom Durchhalten. Vom Aufstieg."
In einem georgianischen Townhouse eines eleganten Londoner Viertels hat sie eine Wohnung gekauft und angemessen ausgestattet: "Wenn ich für einen Abend allein bin, in diesem geschmackvollen Zuhause, das ich mir eingerichtet habe, streife ich die Kleidung des Tages ab. Schäle Schichten, Stoffe von meiner Haut bis nichts mehr darunterliegt. Doch, nichts weiter offenbart sich, kein verstecktes Selbst, keine Nacktheit. Kein exotisches, ungeschütztes Anderes. Nichts." Sie bleibt sich selbst eine Fremde. Diese Entfremdung auch vom eigenen Körper findet eine Entsprechung in der ihr gestellten Krebsdiagnose, die sie ihrem Freund verschweigt, und in ihrem - vielleicht - Entschluss, die lebensrettende Therapie abzulehnen. Ob die Alternative der Nichtbehandlung, damit die Option des Sterbens ein Ausweg ist, muss dahingestellt bleiben.
Browns Protagonistin ist eine ständige Beobachterin ihrer selbst, als flöge eine Drohne über die Felder ihrer professionellen wie privaten Existenz. Das eine ist mit dem anderen untrennbar verknüpft, für sie als schwarze Frau noch stärker als ohnehin. Einmal, als sie vor dem Beginn des herrschaftlichen Fests über das Gelände des Anwesens, das den Eltern ihres Freunds gehört, geht, steht in einer Anmerkung, die zum Romantext gehört: "Es ist bemerkenswert. Sogar in der scheinbaren Privatsphäre meiner eigenen Gedanken fühle ich mich (immer noch) gezwungen zu beschränken, was ich sage."
Es sind nur 113 Seiten, gedruckt mit viel Raum dazwischen. Das gibt Luft zum Durchatmen angesichts der scharfkantigen Sätze, die Jackie Thomae in die deutsche Übersetzung geholt hat. Die ständigen Abbrüche und Neuansätze im Buch könnten den Eindruck entstehen lassen, dass Brown kein kontinuierliches Erzählen gelinge. Sie lassen sich aber besser als ein Stilmittel verstehen für das zerbrochene Selbstverständnis ihrer Protagonistin, der kein Vertrauen in eine eigene Erzählung, keine Legitimation für das Dasein in dieser großen Nation und ihrer verfestigten Gesellschaftsordnung zur Verfügung steht. Dennoch bleibt der Schluss offen: "Plötzlich, so unsicher" ist noch keine finale Entscheidung gegen die Chance einer "Zusammenkunft". ROSE-MARIA GROPP
Natasha Brown: "Zusammenkunft".
Roman.
Aus dem Englischen von Jackie Thomae. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 113 S., geb., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kurz und schmerzhaft: Natasha Browns Roman "Zusammenkunft" stellt der britischen Klassengesellschaft eine harte Diagnose.
Unter dem Titel "Assembly" erschien dieser schmale Roman im vorigen Jahr in London und wurde zum durchschlagenden Erfolg. Er ist das literarische Debüt von Natasha Brown, deren frühere Karriere im Londoner Finanzwesen ungefähr der ihrer Protagonistin entsprochen hat. Dabei kalkuliert Brown sehr genau, wie sie mit Klassismus und Rassismus, Kolonialismus, Diversität und Sexismus ins Mark der britischen Gesellschaft trifft. Die Besprechungen fielen positiv bis hymnisch aus.
Die Ich-Erzählerin ist namenlos. Sie ist eine junge und attraktive schwarze Frau in England, Angehörige der zweiten Generation von Einwanderern. Immer wieder wird sie mit der Vermutung konfrontiert, sie käme "aus Afrika". Nur am Rand wird klar, dass die Herkunft ihrer Vorfahren Jamaika ist, die ehemalige britische Kolonie. Jamaikas Geschichte war, noch davor, von der Verschleppung afrikanischer Sklaven gezeichnet. Aber in ihren Ursprüngen kann und will sie keinen Teil ihrer Identität ausmachen. Sie hat an einer Eliteuniversität Mathematik studiert und avancierte hoch in der Bankenwelt. Darüber berichtet sie vor Schulklassen, zur Motivation Jugendlicher. Doch auch ihr sozialer Aufstieg, ihre brillante Performance und damit verbunden finanzielle Unabhängigkeit geben ihr keinen Halt. Es ist nur einer der Schläge ins Gesicht, die sie, mehr oder weniger offen, auszuhalten hat; sie müsse doch zugeben, dass ihr nicht nur ihr Geschlecht, sondern ihre schwarze Hautfarbe dabei hilfreich sei.
Sie ist liiert mit einem jungen wohlhabenden Politikberater, er zählt zur englischen Oberschicht, es wäre eine perfekte Allianz. Unbeschwert kann indessen auch ihr Freund nicht sein; einmal heißt es, dass er morgens seine Citalopram schluckt, ein Mittel gegen Depressionen und Angststörungen. Auf ihm lastet die Tradition, der angeborene Anspruch seiner Familie in paternalistischer Tradition, denn vom souverän auftretenden Vater stammen die Titel und das Erbe. Die Mutter ihres Freunds hatte "eingeheiratet": "Die Zwiespältigkeit der Mutter war traditioneller. Einmal hat sie mich mit dem peinlichen Spruch ,die aktuelle Herzdame unseres Jüngsten' vorgestellt und dabei die Bekannte, die gefragt hatte, wissend angelächelt." Sie kommt zu dem Schluss: "Unter der Feindseligkeit der Mutter lag eine Unsicherheit, mit der ich mich fast identifizierte." Das geschah, bevor sie jetzt zu einer Party auf dem Landsitz der Eltern geladen ist, die ihren Hochzeitstag feiern.
Was die eigentliche Schlagkraft von Natasha Browns Roman ausmacht und ihn verstörend sein lässt, ist die Intensität ihrer Selbstbefragung, bis hin zur Selbstquälerei. Der Masochismus in ihr ist Manie, er ist ihr subkutan eingeschrieben: "Generationen der Aufopferung; harte Arbeit, noch härteres Leben. So viel gelitten, so viel aufgegeben - für diese Chance. Für mein Leben. Und ich habe es versucht, habe versucht dem gerecht zu werden. Aber nach Jahren des Abmühens, des Abkämpfens gegen die Strömung, bin ich so weit, meine Arme sinken zu lassen. Mit dem Strampeln aufzuhören. Das Wasser einzuatmen. Ich bin erschöpft. Vielleicht ist es Zeit, diese Geschichte zu beenden." Sie kann nicht Heimat finden in einer noch so multikulturellen, diversen Umgebung, nicht heimatlich werden in sich selbst. Ihre Kollegin und Freundin Rach, "klein, verzogen, energiegeladen" und, auch ohne dass es gesagt würde, wohl weißer Hautfarbe, sieht das so: ",Es ist das Prinzip', hat Rach früher an diesem Tag zu mir gesagt. 'Scheiß auf den Sexismus - mach ihn dir zu Nutze!'" Diese rüde Pragmatik steht der Ich-Erzählerin nicht zur Verfügung, der die Überwindung der ethnischen Kategorien zunehmend unmöglich erscheint: "Aber mir war schlecht vom Erreichen, vom Durchhalten. Vom Aufstieg."
In einem georgianischen Townhouse eines eleganten Londoner Viertels hat sie eine Wohnung gekauft und angemessen ausgestattet: "Wenn ich für einen Abend allein bin, in diesem geschmackvollen Zuhause, das ich mir eingerichtet habe, streife ich die Kleidung des Tages ab. Schäle Schichten, Stoffe von meiner Haut bis nichts mehr darunterliegt. Doch, nichts weiter offenbart sich, kein verstecktes Selbst, keine Nacktheit. Kein exotisches, ungeschütztes Anderes. Nichts." Sie bleibt sich selbst eine Fremde. Diese Entfremdung auch vom eigenen Körper findet eine Entsprechung in der ihr gestellten Krebsdiagnose, die sie ihrem Freund verschweigt, und in ihrem - vielleicht - Entschluss, die lebensrettende Therapie abzulehnen. Ob die Alternative der Nichtbehandlung, damit die Option des Sterbens ein Ausweg ist, muss dahingestellt bleiben.
Browns Protagonistin ist eine ständige Beobachterin ihrer selbst, als flöge eine Drohne über die Felder ihrer professionellen wie privaten Existenz. Das eine ist mit dem anderen untrennbar verknüpft, für sie als schwarze Frau noch stärker als ohnehin. Einmal, als sie vor dem Beginn des herrschaftlichen Fests über das Gelände des Anwesens, das den Eltern ihres Freunds gehört, geht, steht in einer Anmerkung, die zum Romantext gehört: "Es ist bemerkenswert. Sogar in der scheinbaren Privatsphäre meiner eigenen Gedanken fühle ich mich (immer noch) gezwungen zu beschränken, was ich sage."
Es sind nur 113 Seiten, gedruckt mit viel Raum dazwischen. Das gibt Luft zum Durchatmen angesichts der scharfkantigen Sätze, die Jackie Thomae in die deutsche Übersetzung geholt hat. Die ständigen Abbrüche und Neuansätze im Buch könnten den Eindruck entstehen lassen, dass Brown kein kontinuierliches Erzählen gelinge. Sie lassen sich aber besser als ein Stilmittel verstehen für das zerbrochene Selbstverständnis ihrer Protagonistin, der kein Vertrauen in eine eigene Erzählung, keine Legitimation für das Dasein in dieser großen Nation und ihrer verfestigten Gesellschaftsordnung zur Verfügung steht. Dennoch bleibt der Schluss offen: "Plötzlich, so unsicher" ist noch keine finale Entscheidung gegen die Chance einer "Zusammenkunft". ROSE-MARIA GROPP
Natasha Brown: "Zusammenkunft".
Roman.
Aus dem Englischen von Jackie Thomae. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 113 S., geb., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Was die eigentliche Schlagkraft von Natasha Browns Roman ausmacht und ihn verstörend sein lässt, ist die Intensität ihrer Selbstbefragung ...« Rose-Maria Gropp Frankfurter Allgemeine Zeitung 20220517