On November 22, 1963, three shots changed the world. What if it never happened? Jake Epping is a 35-year-old high school English teacher in Lisbon Falls, Maine, who makes extra money teaching adults in the GED program. Jake's friend Al, who runs the local diner, divulges a secret: his storeroom is a portal to 1958. He enlists Jake on an insane, and insanely impossible, mission to try to prevent the Kennedy assassination.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.01.2012Was wäre, wenn es
zu viel wäre?
Stephen Kings jüngster Roman: Wie man John F. Kennedy
rettet und sich in der Geschichte verheddert
Der Überdruss an den politischen Verhältnissen ist groß in Amerika. Obama hätte das richten sollen. Stattdessen ist der Überdruss in den vergangenen drei Jahren nur gewachsen. Weswegen Stephen King mit seinem neuen Buch über eine Zeitreise, mit der der Mord an John F. Kennedy verhindert wird, gerade richtig kommt in der anbrechenden Wahlkampfsaison – auch wenn er sich die Geschichte schon vor vierzig Jahren ausgedacht hatte. In den USA flüchtet sich der Überdruss gerne in die vergeblichste Form der politischen Nostalgie, in die „was wäre wenn“-Fragen.
Natürlich sind solche Fragen eine Art Einstiegsdroge in den politischen Eskapismus der Verschwörungstheorien. Der Anschlag auf John F. Kennedy wiederum ist nicht nur die Mutter aller „was wäre wenn“-Fragen, er ist auch eine Art Urknall der modernen Verschwörungstheoriekultur. In Deutschland kennt man solche politischen Obsessionen nur als Randerscheinung. Das rätselhafte Ableben von Uwe Barschel oder die Selbstmorde der RAF-Häftlinge von Stammheim sind zumindest keine überlebensgroßen Mythen in der Geschichte dieses Landes.
Stephen King packt all die Fragen und Theorien um Kennedy, den aktuellen Überdruss und eine kräftige Portion nostalgischer Gefühle in einen Wälzer, der in der deutschen Übersetzung „Der Anschlag“ heißt (Heyne Verlag, 26,99 Euro) und am Montag dieser Woche erscheint. Im Original heißt das Buch „11/22/63“. Das ist im amerikanischen Englisch das Kürzel für den Novembertag im Jahre 1963, an dem John F. Kennedy in Dallas ermordet wurde.
Liest man, nach langen Jahren der Abstinenz, wieder einen Roman von King, erfasst einen schon auf der ersten Seite der altbekannte Sog, von dem man sich früher so gerne durch die Seiten ziehen ließ. Zunächst. „Der Anschlag“ ist das ehrgeizigste Buch, das King je geschrieben hat. Es verbindet seinen klassischen Thriller mit einer Zeitreise, mit dem Historienroman und mit dem Pulp-Genre des „True Crime“. Das sind doch recht viele literarische Formen, die King da in einen Text packt.
Die deutlichste literarische Tradition in King Gesamtwerk ist ja weniger der Roman als das Hollywood-Drehbuch. Das wiederum folgt immer noch streng dem Muster des aristotelischen Dramas mit seinem Spannungsverlauf und der Katharsis. King beginnt also ganz klassisch mit der Exposition. Die führt die Hauptfigur Jake Epping ein, einen frisch geschiedenen Englischlehrer, der wie die meisten von Kings Hauptfiguren im Hinterland von Maine wohnt, dem nordöstlichsten Bundesstaat der USA, in dem der Autor auch selbst lebt.
Die Ausgangslage kann man kurz beschreiben, auch wenn man nicht alle Drehungen und Wendungen des Thrillers verraten will: Jake Epping stößt mit Hilfe des unheilbar krebskranken Imbissbesitzers Al Templeton in der Speisekammer des Lokals auf eine Zeitschleuse, mit der er vom Jahr 2011 ins Jahr 1958 kommt. Al Templetons fixe Idee war es, sich fünf Jahre lang in der Vergangenheit aufzuhalten, um dann das Attentat an John F. Kennedy zu verhindern. Vielleicht, so Templetons Hoffnung auf eine positive Antwort auf die große „was wäre wenn“-Frage, verhindere man so ja auch viel dunkle Kapitel der Geschichte,
die der Mord am 35. Präsidenten der Vereinigten Staaten nach sich zog – die Rassenunruhen der sechziger Jahre, Lyndon
B. Johnsons Eskalation des Vietnamkrieges, die korrupten Jahre unter Richard Nixon. Weil er aber selbst vom Krebs so geschwächt ist, bittet er den ungebundenen Jake Epping, sein Werk zu vollbringen. Und so nimmt die Handlung ihren Lauf.
Wobei man schon nach einem guten Dutzend Seiten kaum noch von Lauf sprechen kann. Ständig hat man das Bedürfnis, eine literarische Vorspultaste zu suchen. Ist man mit der Popkultur und
ihren Erzählformen aufgewachsen, wartet man auf die Twists, die jede Form des Unterhaltungsdramas überhaupt erst interessant machen. Bahnt sich ein Twist
zu offensichtlich an, erwartet man
eine noch überraschendere Wendung. Doch „Der Anschlag“ überrascht nur selten. Die Handlung dieses Buches nimmt ihre Wendungen erstaunlich unelegant und vorhersehbar.
Das liegt nicht zuletzt an der komplexen Exposition, mit der Stephen King die verschiedenen Handlungs- und Zeitebenen vorbereiten muss. Und weil man weiß, dass King wie ein guter Drehbuchautor keine überflüssigen Details beschreibt, setzt man die Twists schon lange vorher im Kopf zusammen. Umso ungeduldiger wird man, wenn sich King immer wieder in nostalgischen Ideen verrennt. Ist Jake Epping in der Vergangenheit erst einmal angekommen, kreist King Zeitdetails, die penibel beschrieben werden. Der Geschmack der alten Limonaden, der Geruch der Kleinstädte, die Schönheit des Autodesigns, die schrulligen Anachronismen des Slangs und die altmodischen Jukebox-Hits.
Stephen King begeht dabei die Todsünde so vieler Retrokulturen – er verliert sich in einer Nostalgie, deren Antrieb nicht mehr der Reiz des Vergangenen, sondern der Überdruss am Gegenwärtigen ist.
Stephen Kings Stärke war bisher immer, dass er – ähnlich wie Hollywood – universal gültige Geschichten erzählen konnte. Und das waren vor allem Geschichten von der Angst. In den Verzweigungen von „Der Anschlag“ setzen sich die Genres indessen gegenseitig matt. Der Historienroman und die „True Crime“-Elemente bremsen den Thriller aus. Das wiederum lähmt die Gedankenspiele, mit denen der Schmetterlingseffekt Zeitreisen in die Vergangenheit zu einem solchen Vergnügen macht. Denn wenn, so die Theorie, schon der Flügelschlag eines Schmetterlings den Lauf der Zeit verändert, was bewirkt dann erst ein Mensch, sein Wille und seine Taten?
Der Schmetterlingseffekt funktioniert dann wie eine der Dominostein-Kugelbahn-Installationen des Künstlerduos Fischli und Weiss, das die einfachsten physikalischen Gesetze und kindlichsten Versuchsanordnungen nutzt, um freundliche Überraschungseffekte zu erzeugen. Nur dass der Schmetterlingseffekt eben als Beschleuniger einer Gedankenkette dient, die so vergeblich ist wie jede „was wäre wenn“-Überlegung. Aber gerade diese intellektuelle Verschwendung ist der Reiz der „Back to the Future“- und „Terminator“-Filmserien, von Hollywoodkomödien wie „Und täglich grüßt das Murmeltier“ und „Click“.
Mit der Last des historischen Romans aber muss King das Regelwerk seiner Zeitschleuse erst einmal so umfassend etablieren, dass der Schmetterlingseffekt später weniger zum Beschleuniger als vielmehr zur bürokratischen Logik-Etüde gerät. Nun widersteht King zwar den Verlockungen der Verschwörungstheorien und schlägt sich nach Prinzip, dass die einfachste Erklärung einer wissenschaftlichen Theorie den größten Wahrheitsgehalt haben muss, auf die Seite der Vernunft. Er hält Lee Harvey Oswald für einen Einzeltäter. Der Stoff lässt aber gerade in Amerika auch das Gros der jüngeren Leser außen vor.
Die endlosen Debatten um die wahren Mörder des Präsidenten sind eine Leidenschaft der Generation, die das Rentenalter erreicht hat. Amerika ist längst voll von neuen Verschwörungstheorien. Da sind 9/11, die Irakkriege und die Machenschaften der Wall Street. Kennedy ist ein Thema für „history buffs“ geworden, für jene schrulligen Historienfans, die große Wälzer über vergangene Epochen durcharbeiten und in ihren Ferien an historische Orte reisen, um dort Denkmäler zu bestaunen. Dazu die hemmungslose Verklärung der frühen Rock’n’Roll-Jahre der Nation, die heute längst Dekor biederer Imbissketten ist. Selbst die grandiose Idee, dass die Zeit selbst zum Monster wird, das sich mit aller Macht gegen jeden Versuch der Einflussnahme wehrt, ist viel zu früh und deutlich eingeführt, um bei ihrer richtigen Umsetzung noch überraschend zu wirken.
Über eintausend Seiten lang ist „Der Anschlag“ in der deutschen Übersetzung. Was vom Leseerlebnis bleibt, wenn man, wie erwähnt, schon länger keinen Stephen King mehr gelesen hat, ist nicht das erhoffte Übersättigungsgefühl, das einen so oft beschleicht, wenn man seine Zeit mit virtuoser Unterhaltung verbringt. Es sind eher die mentalen Lähmungserscheinungen, die man bekommt, wenn man vor dem Fernseher im öffentlich-rechtlichen Wachkoma landet und nicht mehr die Kraft findet umzuschalten. Nach den Büchern von Stieg Larsson und den Filmen von David Fincher liegen die Messlatten für Thriller höher. „Der Anschlag“ ist leider nur eine plumpe Bestätigung der kulturpessimistischen Reflexe, auf denen die „was wäre wenn“-Fragen, die Verschwörungstheorien und die Malaise des Überdrusses an der Politik beruhen. Wenn das Raum-Zeit-Kontinuum im besten Falle nur eine Sackgasse und im Normalfall ein Dystopia ist, bleibt kein Raum für den Optimismus, der einen wenn schon nicht zum Handeln, so doch wenigstens zum Nachdenken bringt. Was allerdings auch ein bisschen viel verlangt wäre von einem Thriller.
Ein Glück nur, dass Stephen King seine Bücher schon von vorneherein nach den Erzählmustern Hollywoods anlegt. So wird das Kino die guten Ideen retten. Jonathan Demme hatte sich die Filmrechte an „Der Anschlag“ gesichert, noch bevor das Buch in Amerika im November erschienen war. Drehbeginn soll im Herbst dieses Jahres sein. Der Mann, der einen Oscar für „Das Schweigen der Lämmer“ und damit für einen der spannendsten Thriller der Filmgeschichte bekam, kann aus tausend verfahrenen Seiten sicherlich zwei grandiose Stunden herausdestillieren. Die werden den Überdruss an den politischen Verhältnissen nicht kurieren. Aber sie werden sicher besser unterhalten. ANDRIAN KREYE
Ständig hat der Leser das
Bedürfnis, eine literarische
Vorspultaste zu suchen
Der Reiz des Vergangenen
verblasst, wenn er dem Überdruss
am Gegenwärtigen dient
Hoffnung auf den Film:
Vielleicht rettet der Zwang zum
Einfachen auch dieses Buch
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zu viel wäre?
Stephen Kings jüngster Roman: Wie man John F. Kennedy
rettet und sich in der Geschichte verheddert
Der Überdruss an den politischen Verhältnissen ist groß in Amerika. Obama hätte das richten sollen. Stattdessen ist der Überdruss in den vergangenen drei Jahren nur gewachsen. Weswegen Stephen King mit seinem neuen Buch über eine Zeitreise, mit der der Mord an John F. Kennedy verhindert wird, gerade richtig kommt in der anbrechenden Wahlkampfsaison – auch wenn er sich die Geschichte schon vor vierzig Jahren ausgedacht hatte. In den USA flüchtet sich der Überdruss gerne in die vergeblichste Form der politischen Nostalgie, in die „was wäre wenn“-Fragen.
Natürlich sind solche Fragen eine Art Einstiegsdroge in den politischen Eskapismus der Verschwörungstheorien. Der Anschlag auf John F. Kennedy wiederum ist nicht nur die Mutter aller „was wäre wenn“-Fragen, er ist auch eine Art Urknall der modernen Verschwörungstheoriekultur. In Deutschland kennt man solche politischen Obsessionen nur als Randerscheinung. Das rätselhafte Ableben von Uwe Barschel oder die Selbstmorde der RAF-Häftlinge von Stammheim sind zumindest keine überlebensgroßen Mythen in der Geschichte dieses Landes.
Stephen King packt all die Fragen und Theorien um Kennedy, den aktuellen Überdruss und eine kräftige Portion nostalgischer Gefühle in einen Wälzer, der in der deutschen Übersetzung „Der Anschlag“ heißt (Heyne Verlag, 26,99 Euro) und am Montag dieser Woche erscheint. Im Original heißt das Buch „11/22/63“. Das ist im amerikanischen Englisch das Kürzel für den Novembertag im Jahre 1963, an dem John F. Kennedy in Dallas ermordet wurde.
Liest man, nach langen Jahren der Abstinenz, wieder einen Roman von King, erfasst einen schon auf der ersten Seite der altbekannte Sog, von dem man sich früher so gerne durch die Seiten ziehen ließ. Zunächst. „Der Anschlag“ ist das ehrgeizigste Buch, das King je geschrieben hat. Es verbindet seinen klassischen Thriller mit einer Zeitreise, mit dem Historienroman und mit dem Pulp-Genre des „True Crime“. Das sind doch recht viele literarische Formen, die King da in einen Text packt.
Die deutlichste literarische Tradition in King Gesamtwerk ist ja weniger der Roman als das Hollywood-Drehbuch. Das wiederum folgt immer noch streng dem Muster des aristotelischen Dramas mit seinem Spannungsverlauf und der Katharsis. King beginnt also ganz klassisch mit der Exposition. Die führt die Hauptfigur Jake Epping ein, einen frisch geschiedenen Englischlehrer, der wie die meisten von Kings Hauptfiguren im Hinterland von Maine wohnt, dem nordöstlichsten Bundesstaat der USA, in dem der Autor auch selbst lebt.
Die Ausgangslage kann man kurz beschreiben, auch wenn man nicht alle Drehungen und Wendungen des Thrillers verraten will: Jake Epping stößt mit Hilfe des unheilbar krebskranken Imbissbesitzers Al Templeton in der Speisekammer des Lokals auf eine Zeitschleuse, mit der er vom Jahr 2011 ins Jahr 1958 kommt. Al Templetons fixe Idee war es, sich fünf Jahre lang in der Vergangenheit aufzuhalten, um dann das Attentat an John F. Kennedy zu verhindern. Vielleicht, so Templetons Hoffnung auf eine positive Antwort auf die große „was wäre wenn“-Frage, verhindere man so ja auch viel dunkle Kapitel der Geschichte,
die der Mord am 35. Präsidenten der Vereinigten Staaten nach sich zog – die Rassenunruhen der sechziger Jahre, Lyndon
B. Johnsons Eskalation des Vietnamkrieges, die korrupten Jahre unter Richard Nixon. Weil er aber selbst vom Krebs so geschwächt ist, bittet er den ungebundenen Jake Epping, sein Werk zu vollbringen. Und so nimmt die Handlung ihren Lauf.
Wobei man schon nach einem guten Dutzend Seiten kaum noch von Lauf sprechen kann. Ständig hat man das Bedürfnis, eine literarische Vorspultaste zu suchen. Ist man mit der Popkultur und
ihren Erzählformen aufgewachsen, wartet man auf die Twists, die jede Form des Unterhaltungsdramas überhaupt erst interessant machen. Bahnt sich ein Twist
zu offensichtlich an, erwartet man
eine noch überraschendere Wendung. Doch „Der Anschlag“ überrascht nur selten. Die Handlung dieses Buches nimmt ihre Wendungen erstaunlich unelegant und vorhersehbar.
Das liegt nicht zuletzt an der komplexen Exposition, mit der Stephen King die verschiedenen Handlungs- und Zeitebenen vorbereiten muss. Und weil man weiß, dass King wie ein guter Drehbuchautor keine überflüssigen Details beschreibt, setzt man die Twists schon lange vorher im Kopf zusammen. Umso ungeduldiger wird man, wenn sich King immer wieder in nostalgischen Ideen verrennt. Ist Jake Epping in der Vergangenheit erst einmal angekommen, kreist King Zeitdetails, die penibel beschrieben werden. Der Geschmack der alten Limonaden, der Geruch der Kleinstädte, die Schönheit des Autodesigns, die schrulligen Anachronismen des Slangs und die altmodischen Jukebox-Hits.
Stephen King begeht dabei die Todsünde so vieler Retrokulturen – er verliert sich in einer Nostalgie, deren Antrieb nicht mehr der Reiz des Vergangenen, sondern der Überdruss am Gegenwärtigen ist.
Stephen Kings Stärke war bisher immer, dass er – ähnlich wie Hollywood – universal gültige Geschichten erzählen konnte. Und das waren vor allem Geschichten von der Angst. In den Verzweigungen von „Der Anschlag“ setzen sich die Genres indessen gegenseitig matt. Der Historienroman und die „True Crime“-Elemente bremsen den Thriller aus. Das wiederum lähmt die Gedankenspiele, mit denen der Schmetterlingseffekt Zeitreisen in die Vergangenheit zu einem solchen Vergnügen macht. Denn wenn, so die Theorie, schon der Flügelschlag eines Schmetterlings den Lauf der Zeit verändert, was bewirkt dann erst ein Mensch, sein Wille und seine Taten?
Der Schmetterlingseffekt funktioniert dann wie eine der Dominostein-Kugelbahn-Installationen des Künstlerduos Fischli und Weiss, das die einfachsten physikalischen Gesetze und kindlichsten Versuchsanordnungen nutzt, um freundliche Überraschungseffekte zu erzeugen. Nur dass der Schmetterlingseffekt eben als Beschleuniger einer Gedankenkette dient, die so vergeblich ist wie jede „was wäre wenn“-Überlegung. Aber gerade diese intellektuelle Verschwendung ist der Reiz der „Back to the Future“- und „Terminator“-Filmserien, von Hollywoodkomödien wie „Und täglich grüßt das Murmeltier“ und „Click“.
Mit der Last des historischen Romans aber muss King das Regelwerk seiner Zeitschleuse erst einmal so umfassend etablieren, dass der Schmetterlingseffekt später weniger zum Beschleuniger als vielmehr zur bürokratischen Logik-Etüde gerät. Nun widersteht King zwar den Verlockungen der Verschwörungstheorien und schlägt sich nach Prinzip, dass die einfachste Erklärung einer wissenschaftlichen Theorie den größten Wahrheitsgehalt haben muss, auf die Seite der Vernunft. Er hält Lee Harvey Oswald für einen Einzeltäter. Der Stoff lässt aber gerade in Amerika auch das Gros der jüngeren Leser außen vor.
Die endlosen Debatten um die wahren Mörder des Präsidenten sind eine Leidenschaft der Generation, die das Rentenalter erreicht hat. Amerika ist längst voll von neuen Verschwörungstheorien. Da sind 9/11, die Irakkriege und die Machenschaften der Wall Street. Kennedy ist ein Thema für „history buffs“ geworden, für jene schrulligen Historienfans, die große Wälzer über vergangene Epochen durcharbeiten und in ihren Ferien an historische Orte reisen, um dort Denkmäler zu bestaunen. Dazu die hemmungslose Verklärung der frühen Rock’n’Roll-Jahre der Nation, die heute längst Dekor biederer Imbissketten ist. Selbst die grandiose Idee, dass die Zeit selbst zum Monster wird, das sich mit aller Macht gegen jeden Versuch der Einflussnahme wehrt, ist viel zu früh und deutlich eingeführt, um bei ihrer richtigen Umsetzung noch überraschend zu wirken.
Über eintausend Seiten lang ist „Der Anschlag“ in der deutschen Übersetzung. Was vom Leseerlebnis bleibt, wenn man, wie erwähnt, schon länger keinen Stephen King mehr gelesen hat, ist nicht das erhoffte Übersättigungsgefühl, das einen so oft beschleicht, wenn man seine Zeit mit virtuoser Unterhaltung verbringt. Es sind eher die mentalen Lähmungserscheinungen, die man bekommt, wenn man vor dem Fernseher im öffentlich-rechtlichen Wachkoma landet und nicht mehr die Kraft findet umzuschalten. Nach den Büchern von Stieg Larsson und den Filmen von David Fincher liegen die Messlatten für Thriller höher. „Der Anschlag“ ist leider nur eine plumpe Bestätigung der kulturpessimistischen Reflexe, auf denen die „was wäre wenn“-Fragen, die Verschwörungstheorien und die Malaise des Überdrusses an der Politik beruhen. Wenn das Raum-Zeit-Kontinuum im besten Falle nur eine Sackgasse und im Normalfall ein Dystopia ist, bleibt kein Raum für den Optimismus, der einen wenn schon nicht zum Handeln, so doch wenigstens zum Nachdenken bringt. Was allerdings auch ein bisschen viel verlangt wäre von einem Thriller.
Ein Glück nur, dass Stephen King seine Bücher schon von vorneherein nach den Erzählmustern Hollywoods anlegt. So wird das Kino die guten Ideen retten. Jonathan Demme hatte sich die Filmrechte an „Der Anschlag“ gesichert, noch bevor das Buch in Amerika im November erschienen war. Drehbeginn soll im Herbst dieses Jahres sein. Der Mann, der einen Oscar für „Das Schweigen der Lämmer“ und damit für einen der spannendsten Thriller der Filmgeschichte bekam, kann aus tausend verfahrenen Seiten sicherlich zwei grandiose Stunden herausdestillieren. Die werden den Überdruss an den politischen Verhältnissen nicht kurieren. Aber sie werden sicher besser unterhalten. ANDRIAN KREYE
Ständig hat der Leser das
Bedürfnis, eine literarische
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Der Reiz des Vergangenen
verblasst, wenn er dem Überdruss
am Gegenwärtigen dient
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