'Ein gelungenes Leben, gibt es das?
Wer hat schon das Leben, das er sich wünscht? Zwölf Stunden in der Ehe von Johanna und Achim Märtin: Während es sich Achim mit dem Rücken zur Welt am Schreibtisch eingerichtet hat, wagt Johanna einen neuen Anfang. Sie ist im Flugzeug, auf dem Weg nach Mexiko während Achim durch Berlin läuft und versucht zu verstehen, warum sie weg ist.
Ob dies nun der von Johanna insgeheim herbeigesehnte Neuanfang ist oder einfach nur ein Aufbruch, als sie kurzentschlossen dem Lockruf der alten russischen Aristokratin Natalia Timofejewna nach Mexiko folgt, weiß sie selbst nicht.
Wer hat schon das Leben, das er sich wünscht? Zwölf Stunden in der Ehe von Johanna und Achim Märtin: Während es sich Achim mit dem Rücken zur Welt am Schreibtisch eingerichtet hat, wagt Johanna einen neuen Anfang. Sie ist im Flugzeug, auf dem Weg nach Mexiko während Achim durch Berlin läuft und versucht zu verstehen, warum sie weg ist.
Ob dies nun der von Johanna insgeheim herbeigesehnte Neuanfang ist oder einfach nur ein Aufbruch, als sie kurzentschlossen dem Lockruf der alten russischen Aristokratin Natalia Timofejewna nach Mexiko folgt, weiß sie selbst nicht.
Mit dem Roman "Ach Glück" beschwört Monika Maron das Ende des Paarlebens - und vergisst dabei die Liebe
VON GÜNTER FRANZEN
Scheinbar unbemerkt von der Öffentlichkeit, hat sich in Deutschland der Aufstieg eines Discounters namens "Concord" vollzogen; eine Ladenkette, die mit Erfolg auf den Vertrieb eines einzigen Produktes setzt: Matratzen. Wenn sich der ökonomisch unbedarfte Laie fragt, wie sich in diesem überschaubaren Marktsegment eine derartige Nachfrageexplosion ereignen konnte, bietet Hans Christian Andersens "Prinzessin auf der Erbse" eine ziemlich weit hergeholte, aber dennoch plausible Erklärung.
Das Märchen handelt von einem unter der Fuchtel seiner Mutter stehenden Königssohn, der sich einreden lässt, dass für ihn nur das Beste gut genug sei: eine Prinzessin. Nach Jahren der erfolgreichen Verhinderung einer Mesalliance klopft in einer regnerischen Nacht ein Mädchen ans Schlosstor und begehrt Einlass. Sie endlich sei das geeignete Objekt seines fremdbestimmten Begehrens. Die alte Königin legt in der Schlafkammer eine Erbse auf den Boden, und nachdem sie die Hülsenfrucht unter zwanzig Matratzen und noch einmal zwanzig Eiderdaunenbetten begraben hat, wünscht sie der Bewerberin eine gute Nacht. Am nächsten Morgen bekundet die Probandin, dass sie kein Auge zugetan und sich andauernd gefragt habe, was da Hartes im Bett gewesen sei. "Nun nahm der Prinz sie zur Frau", heißt es abschließend, "weil er wusste, dass er eine richtige Prinzessin hatte." Dem Märchenfreund dämmert nicht nur, dass der gegenwärtige Matratzenboom durch eine massenhafte Wiederbelebung des feudalen Brauchs der Erbsenprobe ausgelöst worden sein könnte, sondern auch, dass dieser Eignungstest von allen zwischen Aachen und Frankfurt/Oder, Konstanz und Flensburg residierenden Prinzessinnen mühelos bestanden wird.
Wer sich fragt, wohin es das Märchenpersonal des hagestolzen dänischen Nationaldichters verschlagen haben könnte, wird es im Werk der Berliner Schriftstellerin Monika Maron mühelos aufspüren. Zusammen mit "Animal triste" (1996) und "Endmoränen" (2002) bildet der soeben erschienene Roman "Ach Glück" eine Endzeittrilogie des Paarlebens, in der die sensible Selbst- und Weltwahrnehmung der mittlerweile sechzig Jahre alten Protagonistin Johanna, die als Verfasserin von Künstlerinnenbiographien eine gutgepolsterte Nische im Kulturbetrieb der Hauptstadt bewohnt, von der alle dämpfenden Hüllen durchdringenden Erbse aus der Fabel beherrscht wird.
Eine Frau, wund an Körper und Seele. Umzingelt vom kollektiven Altern, setzt sich Johanna Märtin in ein Flugzeug nach Mexiko, um zusammen mit der greisen exilrussischen Aristokratin Natalia Timofejewna den "Ausbruch aus der Nichtigkeit des Immergleichen" zu wagen und nach der verschollenen legendären Künstlerin Leonora Carrington zu fahnden. Ihr Mann Achim, ein im Dienst an der Kleist-Forschung ergrauter Germanist aus dem akademischen Mittelbau, streift derweil verstört durch Berlin und stellt bei Milchkaffee und Mohnkuchen Mutmaßungen über den von ihm übersehenen Anfang vom Ende ihrer dreißigjährigen Geschichte an. Die Tochter Laura hat das Haus verlassen. In der sich ausbreitenden Leere misslingt die Rückverwandlung von Mama und Papa in Frau und Mann. Sie geht. Er bleibt.
Da die Handlung überschaubar und absehbar ist und zudem mit dem faktischen Trend im Scheidungsverhalten älterer Paare übereinstimmt, kann man die Aufmerksamkeit auf die Eigenschaften richten, die die auktoriale Erzählerin ihrem Personal angedeihen lässt. Der anonyme Mitreisende, mit dem Johanna still-verbissen um die Armlehne kämpft, ist ein fetter Schnurrbartträger um die fünfzig, "der einen beißenden Dunst aus Deo und Schweiß verströmt".
Johannas beste Freundin Elli, eine von Freisetzung bedrohte Wissenschaftsjournalistin, lässt sich die Anschaffung eines BMW nicht ausreden, der ihr zu Gesicht stünde wie Mutter Teresa ein Nerz oder Marianne Sägebrecht ein Tutu: "Sie wollte einen BMW, weil er nicht zu ihr passte, weil er so elegant, schön und schallgedämpft war, wie die Natur es Elli selbst versagt hatte. Dass sie jetzt, da das Alter die Grenzen zwischen Schönen und weniger Schönen, Grazilen und Plumpen allmählich unscharf werden ließ, dass sie ausgerechnet jetzt ihre Erscheinung durch die BMW-Prothese korrigieren wollte, war eigentlich unsinnig. Aber wahrscheinlich wollte sie, wenn sie schon doppelt so alt war wie ihr Chef, nicht auch noch ein altes Auto fahren." An der Nachbarin, mit der sie seit langer Zeit Zaun an Zaun lebt, demonstriert sie, wie sie nicht enden möchte: "Bis zum Tod ihres Mannes hatte Friedel Wolgasts Körper Jahr für Jahr eine Schicht zugelegt, wie Jahresringe um einen Baum, und sich mit der Zeit zu einem in dieser Gegend üblichen, derben, konturlosen Frauenkörper ausgewachsen, mit schweren Brüsten und der gleich darunter ansetzenden Wölbung, von ähnlicher Masse an der Hinterseite im Gleichgewicht gehalten."
Johannas vorübergehender Geliebter Igor, ein Galerist, der in den "Endmoränen" noch wie eine gelungene Kreuzung von Wladimir Majakowski und Wladimir Klitschko erscheint, schrumpft in "Ach Glück" zu einem "gottverdammten, kahlgeschorenen, muskulösen, geschäftstüchtigen Snobtschik, einem russischen Sieger mit einem Faible für alternde Frauen". Im Hinausgehen wirft sie einen letzten Blick auf ihren Mann, der in der Küche sitzt und dort das tut, was er schon immer getan hat und bis zum Ende seiner Tage tun wird: "Achim belegte sein Brot sorgfältig mit Schinken, schnitt noch von einer zweiten Schinkenscheibe kleine Stücke ab, bis sein Brot lückenlos abgedeckt, und teilte es dann mit einem scharfen Messer, das nur er benutzte, in gleichmäßige Quadrate. Sie wusste nicht mehr, wann Achim begonnen hatte, sich diese mundgerechten Häppchen zurechtzuschneiden. Sie sah nur, dass sie von Jahr zu Jahr kleiner wurden . . . und je kleiner sie mit der Zeit geworden waren, umso größer wurde der Widerwillen, mit dem sie diesen Tick beobachtete."
Die hiesige Literaturkritik hat sich darauf geeinigt, Monika Maron als mit kaltem Blick und luzider Nüchternheit begabte Anatomin einer mürben, zwischen DDR-Nostalgie und Achtundsechziger-Mythos aufgeriebenen und ermatteten Ost-West-Generation zu kanonisieren. Als gewöhnlicher, in die Jahre gekommener Schinkenbrotesser und Veteran des bundesrepublikanischen Geschlechterkampfs ist mir die Beförderung dieses von auftrumpfender Trostlosigkeit diktierten, idiosynkratisch aufgepumpten Werkes in den nationalen Literaturolymp mehr als nur unverständlich. Es ist ein Graus.
In der Medizin versteht man unter einer Idiosynkrasie eine angeborene oder erworbene Überempfindlichkeit gegen von außen zugeführte Stoffe, akustische oder visuelle Reize, eine spontane und anhaltende Abneigung, die sich bei schwerem Verlauf zu einem Ekel gegenüber Gegenständen und Männern ausweitet und sich im finalen Stadium in einer generalisierten Abscheu vor den Menschen in toto manifestiert. In der Welt der schöngeistigen Literatur gilt die Idiosynkrasie nicht als Krankheit, sondern unter dem Begriff des Bovarysmus als eine bewährte Erzähltechnik, um vornehmlich Frauengestalten ins romandramaturgisch rechte Licht zu rücken. Etwa zu der Zeit, als Hans Christian Andersen die zitierte, matratzengestützte Prinzessin zu Papier brachte, erfand Gustave Flaubert in Emma Bovary eine Figur, die, infiziert durch den maßlosen Konsum romantischer Mantel-und-Degen-Literatur, in sich ein extremes Liebesideal errichtet, das an der Konfrontation mit der gemeinen Welt und den gemeinen Männern zerbricht. Der kleine Landarzt Charles Bovary schlürft ahnungslos seine Suppe, der kleine Germanist Achim Märtin verleibt sich ungerührt seine Reiterchen ein, und die wehklagenden Frauen an ihrer Seite haben sich alles ganz anders vorgestellt und lesen Monika Maron.
"Wenn", wie die sehr deutsche Autorin auf ihre unnachahmliche Weise diagnostiziert, "im grellen Sonnenlicht die sichtbaren Gravuren der Greisenhaftigkeit auf der Haut erscheinen", ziehe ich es vor, mich mit Bier, Brot und Bibel unter die Markise zu flüchten und in Paulus' Briefen an die Kolosser zu blättern: "Ertragt Euch gegenseitig und vergebt einander. Vor allem aber liebt einander. Denn die Liebe ist das Band, das alles zusammenhält." Ein gutes Motto, nicht nur für ältere Paare.
Der Verfasser lebt als Publizist und Paartherapeut in Frankfurt.
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»Monika Maron hat einen Roman geschrieben, der von Midlifecrisis und Eheproblemen erzählt, von abgebrochenen Karrieren und verlorengegangenen Träumen. « Michael Opitz Deutschlandfunk Kultur