Wirtschaftswunder, Mauerbau, die 68er-Bewegung - und eine vielschichtige junge Frau, die aus dem Schweigen der Elterngeneration heraustritt.
In der noch jungen Bundesrepublik ist die dunkle Vergangenheit für Ada ein Buch, aus dem die Erwachsenen das entscheidende Kapitel herausgerissen haben. Mitten im Wirtschaftswunder sucht sie nach den Teilen, die sich zu einer Identität zusammensetzen lassen und stößt auf eine Leere aus Schweigen und Vergessen. Ada will kein Wunder, sie wünscht sich eine Familie, sie will endlich ihren Vater - aber dann kommt alles anders.
Vor dem Hintergrund umwälzender historischer Ereignisse erzählt Christian Berkel von der Schuld und der Liebe, von der Sprachlosigkeit und der Sehnsucht, vom Suchen und Ankommen - und beweist sich einmal mehr als mitreißender Erzähler.
In der noch jungen Bundesrepublik ist die dunkle Vergangenheit für Ada ein Buch, aus dem die Erwachsenen das entscheidende Kapitel herausgerissen haben. Mitten im Wirtschaftswunder sucht sie nach den Teilen, die sich zu einer Identität zusammensetzen lassen und stößt auf eine Leere aus Schweigen und Vergessen. Ada will kein Wunder, sie wünscht sich eine Familie, sie will endlich ihren Vater - aber dann kommt alles anders.
Vor dem Hintergrund umwälzender historischer Ereignisse erzählt Christian Berkel von der Schuld und der Liebe, von der Sprachlosigkeit und der Sehnsucht, vom Suchen und Ankommen - und beweist sich einmal mehr als mitreißender Erzähler.
»Christian Berkel hat ein kunstvolles Buch über die Ambivalenz geschrieben. Eines über das große, gleichermaßen beruhigende wie erschütternde Sowohl-als-auch des Lebens.« Gerhard Matzig Süddeutsche Zeitung 20201119
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.11.2020Der schweigende Vater
Auch in seinem zweiten Roman „Ada“ verbindet Christian Berkel Welt- und Familiengeschichte
„Und trotzdem“, erzählt Ada, „ich hatte eine schöne Kindheit in Argentinien.“ Zu diesem Zeitpunkt weiß das kurz vor Kriegsende 1945 in Leipzig geborene Mädchen, die Hauptfigur in Christian Berkels neuem Roman „Ada“, nicht, wer ihr Vater ist. Das ist Otto. Der befindet sich als Arzt der Wehrmacht noch in russischer Gefangenschaft. Später weigert er sich, von Berlin ins ferne Argentinien zu reisen. Zu Ada und ihrer Mutter Sala, die aus jüdischer Abstammung ist und das Lager in den Pyrenäen zwar überlebt, aber nach Auschwitz deportiert werden soll.
Sala gelingt die Flucht. Eine Odyssee beginnt, die sie und ihre Tochter Ada – verarmt, entwurzelt, sprach- und vaterlos – bis nach Buenos Aires führt. Dort wird Ada, die Deutsche, die kein Wort Deutsch spricht, von den Kindern in der Schule als Hexe gemieden, um später als Tochter der zum Personal degradierten Mutter erst verachtet, dann ausgepeitscht zu werden. In einer Klosterschule wartet zur Strafe eine Badewanne, „die sie mit Eiswasser füllten“.
Wir sind noch am Anfang von Berkels Roman. Die Welt stellt sich aber schon als genau die Hölle dar, die sie eben auch ist für ein in der Nachkriegszeit heranwachsendes Kind, das sich zugleich heimatlos in den Himmel träumen und ebenso heimatlos in den Schlaf schluchzen kann. Wer jetzt nicht lacht über den Satz „ich hatte eine schöne Kindheit in Argentinien“, der hat kein Herz. Wer nicht darüber weint, hat auch keines.
Christian Berkel hat ein kunstvolles Buch über die Ambivalenz geschrieben. Eines über das große, gleichermaßen beruhigende wie erschütternde Sowohl-als-auch des Lebens. „Aber scheinen wir nicht am meisten, was wir am wenigsten sind?“ Berkel gibt dieser Frage einen Grund, einen Ort, eine Geschichte und ein Gesicht: Ada.
Später, im Herbst 1954, wird Ada, die jetzt neun Jahre alt ist, nach Deutschland zurückkehren. Zum fremden und schweigenden Vater Otto. Begleitet von der erst nahen, dann fremden, bald weinenden, bald schweigenden Mutter Sala. Das erste, was sie in Deutschland erhält, zunächst im Hafen von Hamburg, ist eine Ohrfeige. Denn Ada hat irgendwas Verbotenes getan – und das Verbotensein gehört zu den Fünfzigerjahren in Deutschland wie der schweigsam ergraute Himmel, ein Nierentisch, der Borgward auf vier Rädern, die Italiensehnsucht, die Verlogenheit und die Ohrfeige. Oft verbunden mit dem Satz „so nicht, Fräulein“.
Dem Fräulein Ada wird man nun in Berlin dabei zusehen, wie sie heranreift und zur Frau wird. Wie sie in der ersten Liebe herumwatet und, jetzt befindet sie sich knapp 400 Seiten nach der klösterlichen Eiswasserfolter im Sommer 1969 in Woodstock, also im LSD-Matsch von Bethel, darin „in einer einzigen Woge aus Glück, Musik und Freiheit“. Jahrzehnte später wird Ada der alten Mutter gegenübersitzen. „Ich nahm ihre Hand. Ich schämte mich. Zum ersten Mal in meinem Leben war es ein gutes, ein befreiendes Gefühl.“
Berkels Buch über Scham und Lüge und das Dunkel, in dem sich ganze Nationen und Generationen wie unter einer warmen Decke einrichten, vielleicht zum Schutz, mehr noch zum Elend des Erstickens, ist der Frage gewidmet, was es denn letztlich ist, die Freiheit, die man ersehnt und erträgt. Woran man sich festhält und woran man scheitert. Es ist auch deshalb ein so lesenswertes, stellenweise mitreißendes, oft lakonisch-souveränes selten auch überambitioniert konstruiert wirkendes Buch, weil der Schauspieler Christian Berkel („Das Experiment“, „Inglourious Basterds“) im Grunde den zweiten Teil einer letztlich wohl als Trilogie angelegten Verbindung von Familien- und Weltgeschichte geschrieben hat. Das literarische Debüt „Der Apfelbaum“ ist die Vorgeschichte von „Ada“.
Diese Vorgeschichte, erschienen vor zwei Jahren und zum Bestseller avanciert, lebt von der romantauglichen, aber wahren Familiengeschichte von Christian Berkel. Der Großvater ist ein anarchischer Nudist auf dem Monte Veritá und Liebhaber von Erich Mühsam. Die Großmutter kämpft mit den Internationalen Brigaden in Spanien. Die Tante arbeitet für Hermès in Paris. Und die Eltern Sala und Otto - sie großbürgerliche Intellektuelle und Jüdin, er Arbeiterkind und im Nazi-Glauben groß gewordener Berliner - verlieren sich im Krieg, um sich danach wiederzufinden.
So weit, so wahr, so erzählenswert. Nun aber hat Berkel mit „Ada“ eine Figur, die womöglich von ferne eine biografische Nähe zum echten Bruder aufweisen mag, eine fiktive Figur ins Zentrum der Erzählung gestellt: Ein Mädchen, das im Nachkriegsdeutschland lebt wie in einem Keller voller Gerümpel, das sich als toxischer Sondermüll der Geschichte erweist.
Erst jetzt möchte man sich Daniel Kehlmann anschließen, der über den Apfelbaum-Autor Berkel sagte, dass dieser „kein schreibender Schauspieler“ sei, sondern „Schriftsteller durch und durch.“ Aber der Ada-Autor Berkel ist eben nicht nur ein handwerklich geschickter Geschichtenerzähler, er ist auch ein bemerkenswerter Geschichtenerfinder. Abgesehen von einigen Petitessen (der Schmerz ist „stechend“, die Nacht „fällt“ über einen her), abgesehen von einigen 50er- und 60er-Attributen, die wie möbliert wirken, zeigt sich: Das Literarische ist nicht allein das Wahre, sondern mehr noch das, was wahrhaft ist. Bücher und Filme sind sich darin ähnlich, es ist egal, ob man Schauspieler oder Autor ist – solange man eine Geschichte zu erzählen hat, die es wert ist, erzählt zu werden.
GERHARD MATZIG
Christian Berkel: Ada. Roman. Ullstein Verlag, Berlin 2020. 400 Seiten, 24 Euro.
In Deutschland erhält
Ada zur Begrüßung
eine Ohrfeige
Was ist die Freiheit
letztlich, die man ersehnt
und erträgt?
Solange man etwas zu erzählen
hat, ist es egal, ob man
Autor oder Schauspieler ist
Ein souverän lakonischer und nur selten überambitionierter Erzähler: Christian Berkel.
Foto: Matthias Wehnert/imago
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Auch in seinem zweiten Roman „Ada“ verbindet Christian Berkel Welt- und Familiengeschichte
„Und trotzdem“, erzählt Ada, „ich hatte eine schöne Kindheit in Argentinien.“ Zu diesem Zeitpunkt weiß das kurz vor Kriegsende 1945 in Leipzig geborene Mädchen, die Hauptfigur in Christian Berkels neuem Roman „Ada“, nicht, wer ihr Vater ist. Das ist Otto. Der befindet sich als Arzt der Wehrmacht noch in russischer Gefangenschaft. Später weigert er sich, von Berlin ins ferne Argentinien zu reisen. Zu Ada und ihrer Mutter Sala, die aus jüdischer Abstammung ist und das Lager in den Pyrenäen zwar überlebt, aber nach Auschwitz deportiert werden soll.
Sala gelingt die Flucht. Eine Odyssee beginnt, die sie und ihre Tochter Ada – verarmt, entwurzelt, sprach- und vaterlos – bis nach Buenos Aires führt. Dort wird Ada, die Deutsche, die kein Wort Deutsch spricht, von den Kindern in der Schule als Hexe gemieden, um später als Tochter der zum Personal degradierten Mutter erst verachtet, dann ausgepeitscht zu werden. In einer Klosterschule wartet zur Strafe eine Badewanne, „die sie mit Eiswasser füllten“.
Wir sind noch am Anfang von Berkels Roman. Die Welt stellt sich aber schon als genau die Hölle dar, die sie eben auch ist für ein in der Nachkriegszeit heranwachsendes Kind, das sich zugleich heimatlos in den Himmel träumen und ebenso heimatlos in den Schlaf schluchzen kann. Wer jetzt nicht lacht über den Satz „ich hatte eine schöne Kindheit in Argentinien“, der hat kein Herz. Wer nicht darüber weint, hat auch keines.
Christian Berkel hat ein kunstvolles Buch über die Ambivalenz geschrieben. Eines über das große, gleichermaßen beruhigende wie erschütternde Sowohl-als-auch des Lebens. „Aber scheinen wir nicht am meisten, was wir am wenigsten sind?“ Berkel gibt dieser Frage einen Grund, einen Ort, eine Geschichte und ein Gesicht: Ada.
Später, im Herbst 1954, wird Ada, die jetzt neun Jahre alt ist, nach Deutschland zurückkehren. Zum fremden und schweigenden Vater Otto. Begleitet von der erst nahen, dann fremden, bald weinenden, bald schweigenden Mutter Sala. Das erste, was sie in Deutschland erhält, zunächst im Hafen von Hamburg, ist eine Ohrfeige. Denn Ada hat irgendwas Verbotenes getan – und das Verbotensein gehört zu den Fünfzigerjahren in Deutschland wie der schweigsam ergraute Himmel, ein Nierentisch, der Borgward auf vier Rädern, die Italiensehnsucht, die Verlogenheit und die Ohrfeige. Oft verbunden mit dem Satz „so nicht, Fräulein“.
Dem Fräulein Ada wird man nun in Berlin dabei zusehen, wie sie heranreift und zur Frau wird. Wie sie in der ersten Liebe herumwatet und, jetzt befindet sie sich knapp 400 Seiten nach der klösterlichen Eiswasserfolter im Sommer 1969 in Woodstock, also im LSD-Matsch von Bethel, darin „in einer einzigen Woge aus Glück, Musik und Freiheit“. Jahrzehnte später wird Ada der alten Mutter gegenübersitzen. „Ich nahm ihre Hand. Ich schämte mich. Zum ersten Mal in meinem Leben war es ein gutes, ein befreiendes Gefühl.“
Berkels Buch über Scham und Lüge und das Dunkel, in dem sich ganze Nationen und Generationen wie unter einer warmen Decke einrichten, vielleicht zum Schutz, mehr noch zum Elend des Erstickens, ist der Frage gewidmet, was es denn letztlich ist, die Freiheit, die man ersehnt und erträgt. Woran man sich festhält und woran man scheitert. Es ist auch deshalb ein so lesenswertes, stellenweise mitreißendes, oft lakonisch-souveränes selten auch überambitioniert konstruiert wirkendes Buch, weil der Schauspieler Christian Berkel („Das Experiment“, „Inglourious Basterds“) im Grunde den zweiten Teil einer letztlich wohl als Trilogie angelegten Verbindung von Familien- und Weltgeschichte geschrieben hat. Das literarische Debüt „Der Apfelbaum“ ist die Vorgeschichte von „Ada“.
Diese Vorgeschichte, erschienen vor zwei Jahren und zum Bestseller avanciert, lebt von der romantauglichen, aber wahren Familiengeschichte von Christian Berkel. Der Großvater ist ein anarchischer Nudist auf dem Monte Veritá und Liebhaber von Erich Mühsam. Die Großmutter kämpft mit den Internationalen Brigaden in Spanien. Die Tante arbeitet für Hermès in Paris. Und die Eltern Sala und Otto - sie großbürgerliche Intellektuelle und Jüdin, er Arbeiterkind und im Nazi-Glauben groß gewordener Berliner - verlieren sich im Krieg, um sich danach wiederzufinden.
So weit, so wahr, so erzählenswert. Nun aber hat Berkel mit „Ada“ eine Figur, die womöglich von ferne eine biografische Nähe zum echten Bruder aufweisen mag, eine fiktive Figur ins Zentrum der Erzählung gestellt: Ein Mädchen, das im Nachkriegsdeutschland lebt wie in einem Keller voller Gerümpel, das sich als toxischer Sondermüll der Geschichte erweist.
Erst jetzt möchte man sich Daniel Kehlmann anschließen, der über den Apfelbaum-Autor Berkel sagte, dass dieser „kein schreibender Schauspieler“ sei, sondern „Schriftsteller durch und durch.“ Aber der Ada-Autor Berkel ist eben nicht nur ein handwerklich geschickter Geschichtenerzähler, er ist auch ein bemerkenswerter Geschichtenerfinder. Abgesehen von einigen Petitessen (der Schmerz ist „stechend“, die Nacht „fällt“ über einen her), abgesehen von einigen 50er- und 60er-Attributen, die wie möbliert wirken, zeigt sich: Das Literarische ist nicht allein das Wahre, sondern mehr noch das, was wahrhaft ist. Bücher und Filme sind sich darin ähnlich, es ist egal, ob man Schauspieler oder Autor ist – solange man eine Geschichte zu erzählen hat, die es wert ist, erzählt zu werden.
GERHARD MATZIG
Christian Berkel: Ada. Roman. Ullstein Verlag, Berlin 2020. 400 Seiten, 24 Euro.
In Deutschland erhält
Ada zur Begrüßung
eine Ohrfeige
Was ist die Freiheit
letztlich, die man ersehnt
und erträgt?
Solange man etwas zu erzählen
hat, ist es egal, ob man
Autor oder Schauspieler ist
Ein souverän lakonischer und nur selten überambitionierter Erzähler: Christian Berkel.
Foto: Matthias Wehnert/imago
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