Wenn ein großer Intellektueller wie Walter Benjamin über das frühe Werk eines 27-jährigen Schriftstellers sagt, er habe eines der »allerbesten Bücher des Jahrhunderts« verfasst, muss das schon etwas heißen: In einer kleinen Villa in der französischen Provinz wächst Adrienne Mesurat mit ihrer todkranken Schwester bei ihrem herrischen Vater auf. Ihr Alltag ist minutiös getaktet, kleinste Regelverstöße werden vom Vater unerbittlich geahndet. Eines Nachts stößt sie ihn von der Treppe in den Tod. Doch auch dieser Befreiungsakt kann Adrienne nicht retten. Julien Greens 1927 veröffentlichte Tragödie wird meisterlich gelesen von Udo SamelUngekürzte Lesung mit Udo Samel1 mp3-CD ca. 10 h 1 min
»Ein strikt und kunstvoll komponiertes Kunstwerk.« FAZ »Es gibt keinen Zweifel: Wer sich eine Bibliothek mit Weltliteratur in Form von Hörbüchern aufbauen möchte, kommt an dieser Edition nicht vorbei.« WDR 3 »Hier wird fündig, wer an Hörbuchproduktionen Freude hat, die nicht schnell hingeschludert sind, sondern mit einer Regie-Idee zum Text vom und für den Rundfunk produziert sind.« NDR KULTUR »Mehr Zeit hätte man ja immer gern, aber für diese schönen Hörbücher [...] besonders.« WAZ »Die Hörbuch-Edition 'Große Werke. Große Stimmen.' umfasst herausragende Lesungen deutschsprachiger Sprecherinnen und Sprecher, die in den Archiven der Rundfunkanstalten schlummern.« SAARLÄNDISCHER RUNDFUNK
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit Freude lauscht Rezensent Wolfgang Schneider, wenn Udo Samel Julien Greens zweiten Roman einliest. Besonders gut treffe der begnadete Schauspieler und Sprecher zum Beispiel den nur auf den ersten Blick gutmütigen, tatsächlich ziemlich grausamen Monsieur Mesurat, den Vater der titelgebenden Hauptfigur, einer jungen Frau, die in einem Provinznest lebt. Hier wird sie bei allabendlichen Kartenspielen von ihrer Schwester und eben dem Vater, Monsieur Mesurat, eingesperrt, was sie daran hindert, eine obsessive Liebschaft weiter zu verfolgen. Die Geschichte, die noch eine tragische Wendung nimmt, wird von Green zwar nah am Erleben der Hauptfigur entlang entworfen, gleichzeitig aber bleibt, beschreibt Schneider, eine Distanz spürbar, außerdem gibt es kafkaeske Untertöne. Ein ziemlich düsteres, unerlöstes Werk, schließt der Rezensent, das nun in einer schönen Hörbuchfassung vorliegt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.2000Frommer Schubser
Julien Green in neuer Übersetzung / Von Eberhard Rathgeb
Gerne wird wiederholt, was Julien Green über das Geheimnis seines Schreibens berichtet hat: daß nicht er selbst es sei, der die Feder führe, sondern ein "anderer". Vor allem der Roman "Adrienne Mesurat" und der zwei Jahre darauf veröffentlichte "Leviathan" haben sich - so Julien Green - diesem Unbekannten zu verdanken. Green hörte gerne, was André Breton über ihn sagte: Er sei ein hervorragendes Beispiel für die von den Surrealisten hochgeschätzte "écriture automatique": Schreiben ohne Selbstzensur. Auch die Psychoanalyse - käme sie zu Wort, das ihr Green verbietet - würde Kräfte aufstöbern, die zum Fabulieren drängen. Offen zutage liegt erst einmal ein Muster.
Die Geschichte der Adrienne Mesurat wird kunstvoll und spannend erzählt. An der Not des achtzehnjährigen Mädchens in der Provinz nimmt man, auch wenn man in der Großstadt wohnt, regen Anteil. Man wird auch noch in eine kriminalistische Geschichte verwickelt: Adrienne tötet ihren Vater. Solche Untaten gegen die engsten Bindungen der Natur findet man häufiger im Drama als in der Prosa. Das Verbrechen aus Leidenschaft quillt aus einer fürchterlich gebeutelten Seele. Die Wolkendecke reißt auf, und die Hand einer höheren Macht greift sich einen Menschen, der nicht weiß, wie ihm geschieht.
Der wahre und besonnene Held des Romans aber ist eine logische Kategorie: der Gegensatz. Julien Green war 1916 zum Katholizismus übergetreten. Wer den Menschen unter theatralischen Strom stellen möchte, der meide die protestantischen Vermittlungen. Böse ist der Menschenwurm seit der heiklen Erbsünde. In seiner Hand liegt es nicht, "gut" zu werden. Die Liebe des Katholiken zu Gott kennt die Ohnmacht vor der Macht, der man nicht in die Arme fallen, der man nur in die Arme sinken kann. Julien Green fand im Katholizismus die Absolutheit einer dichotomischen Weltstruktur - das Kompositionsprinzip des Romans "Adrienne Mesurat". Wenn irgendwo, dann liegt der Katholizismus dieses Buches in dieser simplen Struktur. Man muß der Geschichte mit den Begriffen der Sünde und Gnade gar nicht zu Leibe rücken. Ein nicht vermittelter Gegensatz ist eine Kippfigur: Etwas schlägt einfach um. So auch hier. Genau in der Mitte des Romans stürzt die Tochter ihren Vater in den Tod und fällt selbst aus der Welt der Balance.
Julien Green ist siebenundzwanzig Jahre alt, als sein Roman "Adrienne Mesurat" 1927 in Frankreich erscheint. Durch den Roman wird er sofort berühmt. Eine deutsche Übersetzung folgt 1928. Adriennes Mutter ist tot. Sie lebt mit ihrem greisen und vom Schuldienst pensionierten Vater sowie einer siebzehn Jahre älteren kranken Schwester in irgendeinem Kaff und zählt die Tage. Alles wird anders, als ihr auf der Landstraße eine Kutsche entgegenrattert, aus der ein Mann ihr einen Blick zuwirft. Sie glaubt, daß die Aufregung, die sie erfaßt, Liebe sei. Sie verharrt Stunden am Fenster, späht, schleicht sich abends raus, hoffend, den Mann wiederzusehen. Er ist Arzt und wohnt in unmittelbarer Nachbarschaft. Den Ausgängen seiner unruhigen Jüngsten schiebt der Vater, angestiftet durch die Schwester, die das Glück haßt, einen Riegel vor. Die Abende verdämmern im Kartenspiel zu dritt. Adriennes Schicksal scheint besiegelt, als ihre Schwester sie bittet, ihr bei der Flucht aus dem Elternhaus zu helfen. Die Schwester entkommt nach Paris. Der Zorn des Vaters trifft Adrienne. Das Mädchen verzweifelt und schubst den Vater die Treppe hinunter.
Einhundertfünfzig Seiten rennt Julien Green atemlos geradeaus - dann springt er: Das ist der Mord. Der Leser wird - presto, presto - ins Unglück Adriennes hineingetrieben: Menschen unter sich. Uns soll quälen, was sie durchstehen muß. Wir legen die Hände an die kalten Kerkerwände, die sie einschließen. Wir möchten dem groben Vater Einhalt gebieten. Wir wünschen ihr Glück und daß sie ihr Verlangen und ihre Begierde austoben kann, die in der von Familienritualen zerfurchten Ödnis verkümmern. Wir bibbern mit ihr am Fenster und hasten durch die Straßen. Wir halten den Daumen, daß die Flucht der Schwester gelinge. Als der Vater die Stufen runtersegelt, wissen wir: Das ist nicht das Ende, das ist der Anfang einer schwarzen Einsamkeit, von der sie nur die zähe Langeweile gekostet hat. Der Mord wird - es sei die Schuld ohne weltliche Sühne - als Unfall obduziert. Eine ahnungsvolle Nachbarin bringt Adrienne um ihre Ersparnisse. Die Küchengehilfin ergeht sich in erpresserischen Andeutungen. Der Arzt bewegt Adrienne zu einem Geständnis, verrät sie nicht an die Polizei und weist ihre Liebe zurück. Adrienne, von allen verlassen, irrt durch die nächtlichen Straßen. Sie weiß nicht, wo sie wohnt und wie sie heißt.
Keine zwei Monate sind seit der ersten Seite vergangen. Aus Tag wurde Nacht. Aus Drinnen wurde Draußen. Die Fenster, die Haustür und das Tor öffen sich nur einen Spalt und werden wieder fest verschlossen. In der Villa wohnt der Schatten, von der Straße grüßt der ferne Himmel. Im Garten des gestutzten Lebens wachsen nur noch Schnittblumen. Auf den Teppich fällt klingenschmal ein einsamer Maiensonnenstrahl. Die nackte Freiheit kriecht allein ins Bett. Die Polster des Schicksals schlucken die Schluchzer. Die Ahnen an der Wand schauen stumm wie Grenzposten drein.
Die dichotomische Struktur des Romans macht aus der Geschichte eine Bühnenhandlung. Der schreibende Unbekannte, den Julien Green anführt, bewegt sich in einem übersichtlichen Parcourt. Wann eine Figur einen symbolischen Raum verläßt und in einen anderen marschiert, wie lange sie sich dort aufhält - das sind die Aufgaben der Regie. Man schaue sich nur einmal den ersten Satz an, der einer bedeutungssteinreichen Szenenanweisung gleicht: "Aufrecht, die Hände hinter dem Rücken, stand Adrienne da und betrachtete den Friedhof. So hieß bei den Mesurats eine Gruppe von zwölf Porträts, die im Eßzimmer über einer Anrichte hingen, so dicht beieinander, das sie die ganze Wand bedeckten." Gefangen vor dem Schwurgericht des genealogischen Schicksals!
In diesem Roman findet man nur wenige Sätze, die man sich merken müßte, weil sie eine Einsicht in vollendeter Form aufbewahren. Die dichte Atmosphäre des Leidens braucht keine intellektuellen Bonmots. Sie entsteht aus einem Beschreibungsfuror, der auf die Wirkung zielt. Die vorliegende neue Übersetzung verstärkt die Funktion der Sätze, dem Ambiente der dichotomischen Welt zu dienen. Sie ist oft weicher, gleitender und findet durchgehend die Formulierung, die sich von selbst versteht und ergibt.
Als er starb, schrieb man über Julien Green, daß erst mit ihm, den man neben Marcel Proust stellte, das neunzehnte Jahrhundert zu Ende gegangen sei. Der Roman "Adrienne Mesurat" ist ein strikt und kunstvoll komponiertes Kunstwerk, in seiner psychologischen Musikalität eine Art italienische Oper gar, dem Menschenthema und seiner arienhaften Duchführung mit allen Geigen und Bläser ergeben. Man findet hier nicht die Räsonnements des modernen Romans des zwanzigsten Jahrhunderts, keine erkundenden Selbstzweifel, keine mietshausgroßen existentiellen Erschütterungen und keine außerfahrplanmäßigen Ungewißheiten. Einem Schriftsteller, der aus dem katholischen Prinzip der unversöhnlichen Gegensätze der Welt schrieb, war die Freiheit der Vermittlungsversuche, die feine protestantische Ironie, fremd. Eine barocke Himmel-Hölle-Theatralik führt das seelenbeschwingte Wort.
Julien Green reiste gerne durch die zivilisierte Welt. In seinem Roman blieb er dagegen gerne daheim hocken, in den ihm gut bekannten übersichtlichen Provinzen des neunzehnten Jahrhunderts, in denen das Bild "des" Menschen gedeiht, "im Grauen in einer tiefen Nacht".
Julien Green: "Adrienne Mesurat". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Edl. Mit einem Nachwort von Wolfgang Matz. Carl Hanser Verlag, München 2000. 310 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Julien Green in neuer Übersetzung / Von Eberhard Rathgeb
Gerne wird wiederholt, was Julien Green über das Geheimnis seines Schreibens berichtet hat: daß nicht er selbst es sei, der die Feder führe, sondern ein "anderer". Vor allem der Roman "Adrienne Mesurat" und der zwei Jahre darauf veröffentlichte "Leviathan" haben sich - so Julien Green - diesem Unbekannten zu verdanken. Green hörte gerne, was André Breton über ihn sagte: Er sei ein hervorragendes Beispiel für die von den Surrealisten hochgeschätzte "écriture automatique": Schreiben ohne Selbstzensur. Auch die Psychoanalyse - käme sie zu Wort, das ihr Green verbietet - würde Kräfte aufstöbern, die zum Fabulieren drängen. Offen zutage liegt erst einmal ein Muster.
Die Geschichte der Adrienne Mesurat wird kunstvoll und spannend erzählt. An der Not des achtzehnjährigen Mädchens in der Provinz nimmt man, auch wenn man in der Großstadt wohnt, regen Anteil. Man wird auch noch in eine kriminalistische Geschichte verwickelt: Adrienne tötet ihren Vater. Solche Untaten gegen die engsten Bindungen der Natur findet man häufiger im Drama als in der Prosa. Das Verbrechen aus Leidenschaft quillt aus einer fürchterlich gebeutelten Seele. Die Wolkendecke reißt auf, und die Hand einer höheren Macht greift sich einen Menschen, der nicht weiß, wie ihm geschieht.
Der wahre und besonnene Held des Romans aber ist eine logische Kategorie: der Gegensatz. Julien Green war 1916 zum Katholizismus übergetreten. Wer den Menschen unter theatralischen Strom stellen möchte, der meide die protestantischen Vermittlungen. Böse ist der Menschenwurm seit der heiklen Erbsünde. In seiner Hand liegt es nicht, "gut" zu werden. Die Liebe des Katholiken zu Gott kennt die Ohnmacht vor der Macht, der man nicht in die Arme fallen, der man nur in die Arme sinken kann. Julien Green fand im Katholizismus die Absolutheit einer dichotomischen Weltstruktur - das Kompositionsprinzip des Romans "Adrienne Mesurat". Wenn irgendwo, dann liegt der Katholizismus dieses Buches in dieser simplen Struktur. Man muß der Geschichte mit den Begriffen der Sünde und Gnade gar nicht zu Leibe rücken. Ein nicht vermittelter Gegensatz ist eine Kippfigur: Etwas schlägt einfach um. So auch hier. Genau in der Mitte des Romans stürzt die Tochter ihren Vater in den Tod und fällt selbst aus der Welt der Balance.
Julien Green ist siebenundzwanzig Jahre alt, als sein Roman "Adrienne Mesurat" 1927 in Frankreich erscheint. Durch den Roman wird er sofort berühmt. Eine deutsche Übersetzung folgt 1928. Adriennes Mutter ist tot. Sie lebt mit ihrem greisen und vom Schuldienst pensionierten Vater sowie einer siebzehn Jahre älteren kranken Schwester in irgendeinem Kaff und zählt die Tage. Alles wird anders, als ihr auf der Landstraße eine Kutsche entgegenrattert, aus der ein Mann ihr einen Blick zuwirft. Sie glaubt, daß die Aufregung, die sie erfaßt, Liebe sei. Sie verharrt Stunden am Fenster, späht, schleicht sich abends raus, hoffend, den Mann wiederzusehen. Er ist Arzt und wohnt in unmittelbarer Nachbarschaft. Den Ausgängen seiner unruhigen Jüngsten schiebt der Vater, angestiftet durch die Schwester, die das Glück haßt, einen Riegel vor. Die Abende verdämmern im Kartenspiel zu dritt. Adriennes Schicksal scheint besiegelt, als ihre Schwester sie bittet, ihr bei der Flucht aus dem Elternhaus zu helfen. Die Schwester entkommt nach Paris. Der Zorn des Vaters trifft Adrienne. Das Mädchen verzweifelt und schubst den Vater die Treppe hinunter.
Einhundertfünfzig Seiten rennt Julien Green atemlos geradeaus - dann springt er: Das ist der Mord. Der Leser wird - presto, presto - ins Unglück Adriennes hineingetrieben: Menschen unter sich. Uns soll quälen, was sie durchstehen muß. Wir legen die Hände an die kalten Kerkerwände, die sie einschließen. Wir möchten dem groben Vater Einhalt gebieten. Wir wünschen ihr Glück und daß sie ihr Verlangen und ihre Begierde austoben kann, die in der von Familienritualen zerfurchten Ödnis verkümmern. Wir bibbern mit ihr am Fenster und hasten durch die Straßen. Wir halten den Daumen, daß die Flucht der Schwester gelinge. Als der Vater die Stufen runtersegelt, wissen wir: Das ist nicht das Ende, das ist der Anfang einer schwarzen Einsamkeit, von der sie nur die zähe Langeweile gekostet hat. Der Mord wird - es sei die Schuld ohne weltliche Sühne - als Unfall obduziert. Eine ahnungsvolle Nachbarin bringt Adrienne um ihre Ersparnisse. Die Küchengehilfin ergeht sich in erpresserischen Andeutungen. Der Arzt bewegt Adrienne zu einem Geständnis, verrät sie nicht an die Polizei und weist ihre Liebe zurück. Adrienne, von allen verlassen, irrt durch die nächtlichen Straßen. Sie weiß nicht, wo sie wohnt und wie sie heißt.
Keine zwei Monate sind seit der ersten Seite vergangen. Aus Tag wurde Nacht. Aus Drinnen wurde Draußen. Die Fenster, die Haustür und das Tor öffen sich nur einen Spalt und werden wieder fest verschlossen. In der Villa wohnt der Schatten, von der Straße grüßt der ferne Himmel. Im Garten des gestutzten Lebens wachsen nur noch Schnittblumen. Auf den Teppich fällt klingenschmal ein einsamer Maiensonnenstrahl. Die nackte Freiheit kriecht allein ins Bett. Die Polster des Schicksals schlucken die Schluchzer. Die Ahnen an der Wand schauen stumm wie Grenzposten drein.
Die dichotomische Struktur des Romans macht aus der Geschichte eine Bühnenhandlung. Der schreibende Unbekannte, den Julien Green anführt, bewegt sich in einem übersichtlichen Parcourt. Wann eine Figur einen symbolischen Raum verläßt und in einen anderen marschiert, wie lange sie sich dort aufhält - das sind die Aufgaben der Regie. Man schaue sich nur einmal den ersten Satz an, der einer bedeutungssteinreichen Szenenanweisung gleicht: "Aufrecht, die Hände hinter dem Rücken, stand Adrienne da und betrachtete den Friedhof. So hieß bei den Mesurats eine Gruppe von zwölf Porträts, die im Eßzimmer über einer Anrichte hingen, so dicht beieinander, das sie die ganze Wand bedeckten." Gefangen vor dem Schwurgericht des genealogischen Schicksals!
In diesem Roman findet man nur wenige Sätze, die man sich merken müßte, weil sie eine Einsicht in vollendeter Form aufbewahren. Die dichte Atmosphäre des Leidens braucht keine intellektuellen Bonmots. Sie entsteht aus einem Beschreibungsfuror, der auf die Wirkung zielt. Die vorliegende neue Übersetzung verstärkt die Funktion der Sätze, dem Ambiente der dichotomischen Welt zu dienen. Sie ist oft weicher, gleitender und findet durchgehend die Formulierung, die sich von selbst versteht und ergibt.
Als er starb, schrieb man über Julien Green, daß erst mit ihm, den man neben Marcel Proust stellte, das neunzehnte Jahrhundert zu Ende gegangen sei. Der Roman "Adrienne Mesurat" ist ein strikt und kunstvoll komponiertes Kunstwerk, in seiner psychologischen Musikalität eine Art italienische Oper gar, dem Menschenthema und seiner arienhaften Duchführung mit allen Geigen und Bläser ergeben. Man findet hier nicht die Räsonnements des modernen Romans des zwanzigsten Jahrhunderts, keine erkundenden Selbstzweifel, keine mietshausgroßen existentiellen Erschütterungen und keine außerfahrplanmäßigen Ungewißheiten. Einem Schriftsteller, der aus dem katholischen Prinzip der unversöhnlichen Gegensätze der Welt schrieb, war die Freiheit der Vermittlungsversuche, die feine protestantische Ironie, fremd. Eine barocke Himmel-Hölle-Theatralik führt das seelenbeschwingte Wort.
Julien Green reiste gerne durch die zivilisierte Welt. In seinem Roman blieb er dagegen gerne daheim hocken, in den ihm gut bekannten übersichtlichen Provinzen des neunzehnten Jahrhunderts, in denen das Bild "des" Menschen gedeiht, "im Grauen in einer tiefen Nacht".
Julien Green: "Adrienne Mesurat". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Edl. Mit einem Nachwort von Wolfgang Matz. Carl Hanser Verlag, München 2000. 310 S., geb., 39,80 DM.
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