In seinem neuen Hörbuch erzählt Uwe Timm von seinen Lehrjahren als Kürschner im Hamburg der Fünfzigerjahre. Von kuriosen Erlebnissen im Beruf und der Welt der Mode, von besonderen Freundschaften und den Büchern, die sein Leben verändert haben.
Hamburg 1955 - der noch 14-jährige Uwe wird von seinem Vater, dem Inhaber eines Pelzgeschäfts, in die Kürschnerlehre gegeben. Im Takt der Stechuhren lernt der junge Mann die kreative Präzision, die das heute fast ausgestorbene Handwerk erfordert, schult den Blick für das Material, die Kundinnen, die Tücken und Geheimnisse dieser Kunst. Er lauscht den Geschichten der Kollegen, schließt Freundschaften, bekommt Bücher empfohlen, entdeckt die Stadt und den Jazz. Der Lehrling, der vom Schreiben träumt, liest heimlich im Sortierzimmer Salinger und Camus, begleitet den »roten Erik« auf die Reeperbahn, erkundet mit dem Kollegen Johnny-Look, reichlich schüchtern noch, die Liebe, wird von Meister Kruse politisch initiiert und streitet sichnun umso intensiver mit dem Vater über die NS-Zeit.
Inzwischen ist auf dem Pelzmarkt ein Preiskampf ausgebrochen, das Kürschnergeschäft der Familie floriert nicht mehr, und als der Vater plötzlich an einem Herzinfarkt stirbt, muss der 18-Jährige ein völlig überschuldetes Geschäft sanieren. Die harte Arbeit und die großen Sorgen bringen ihn nicht ab von der Vorstellung eines ganz anderen Lebens.
Ein großartiges Hörbuch der Erinnerungen und des Aufbruchs, präzise und poetisch. Ein sprechendes Zeitbild, ein Initiationsroman der Liebe, des Lesens, des Arbeitens und Träumens.
Hamburg 1955 - der noch 14-jährige Uwe wird von seinem Vater, dem Inhaber eines Pelzgeschäfts, in die Kürschnerlehre gegeben. Im Takt der Stechuhren lernt der junge Mann die kreative Präzision, die das heute fast ausgestorbene Handwerk erfordert, schult den Blick für das Material, die Kundinnen, die Tücken und Geheimnisse dieser Kunst. Er lauscht den Geschichten der Kollegen, schließt Freundschaften, bekommt Bücher empfohlen, entdeckt die Stadt und den Jazz. Der Lehrling, der vom Schreiben träumt, liest heimlich im Sortierzimmer Salinger und Camus, begleitet den »roten Erik« auf die Reeperbahn, erkundet mit dem Kollegen Johnny-Look, reichlich schüchtern noch, die Liebe, wird von Meister Kruse politisch initiiert und streitet sichnun umso intensiver mit dem Vater über die NS-Zeit.
Inzwischen ist auf dem Pelzmarkt ein Preiskampf ausgebrochen, das Kürschnergeschäft der Familie floriert nicht mehr, und als der Vater plötzlich an einem Herzinfarkt stirbt, muss der 18-Jährige ein völlig überschuldetes Geschäft sanieren. Die harte Arbeit und die großen Sorgen bringen ihn nicht ab von der Vorstellung eines ganz anderen Lebens.
Ein großartiges Hörbuch der Erinnerungen und des Aufbruchs, präzise und poetisch. Ein sprechendes Zeitbild, ein Initiationsroman der Liebe, des Lesens, des Arbeitens und Träumens.
»Vortrefflich von Gert Heidenreich gelesen.« Felix Steinert medienprofile 20240209
Wie kompliziert das damals war
Hier machte er seine Kürschnerlehre: Ein Spaziergang mit dem Schriftsteller Uwe Timm durch Hamburg.
Von Anna Vollmer
Uwe Timm hat unsere Verabredung vergessen. Deshalb kommt er etwas zu spät in die Lobby seines Hotels in Hamburg und ist aufrichtig bestürzt über dieses Versehen: Er sei doch "preußisch erzogen worden"! Allerdings ist der Terminkalender im Moment wohl ziemlich voll. Im September ist Timms neues Buch "Alle meine Geister" erschienen, die Lesereise hat gerade begonnen. Außerdem ist der 83-Jährige an diesem Tag noch mit seinem ältesten Freund verabredet, sie kennen sich seit Kindertagen. Unseren geplanten Spaziergang lässt er trotzdem nicht ausfallen: "Das ist jetzt unsere Geschichte!" Der Freund hat zum Glück auch später noch Zeit. Wir laufen also los, Richtung Jungfernstieg.
Hamburg ist Timms Heimatstadt. Das ist daran zu merken, dass man ihm den Norden plötzlich anhört, obwohl er schon seit Jahrzehnten nicht mehr hier wohnt: "Das ist ganz eigentümlich, dass diese Sprache, dieser Tonfall sich so eingeprägt haben." Anfang der Sechzigerjahre war Timm froh, die Stadt hinter sich zu lassen: "Dieser Moment, nach Braunschweig zu gehen und ein wirklich anderes Leben anzufangen, war so eine Befreiung." Und natürlich klingt das etwas seltsam, dass Hamburg, die große Hafenstadt, für ihn mit einer Enge verbunden ist, der er in Braunschweig entkommen wollte. Wer aber "Alle meine Geister" liest, wird schnell begreifen, was er damit meint. Denn dieses Buch, das man, wäre es nicht autobiographisch, wahrscheinlich einen Bildungsroman nennen würde, erzählt von der mitunter verstaubten, auch verdrucksten Atmosphäre der Hamburger Nachkriegsjahre. Von Timms Lehre als Kürschner, während der er davon träumte, etwas ganz anderes zu werden - Schriftsteller natürlich.
In der Chronologie ist "Alle meine Geister" zwischen zwei anderen Büchern Timms angesiedelt. In "Am Beispiel meines Bruders" hatte er die Geschichte seines älteren Bruders erzählt, der sich freiwillig zur Waffen-SS meldete und 1943 im Krieg fiel. Timm selbst war damals drei Jahre alt. In "Der Freund und der Fremde" beschrieb er seine Jahre am Braunschweig-Kolleg, wo er sein Abitur nachholte und sich mit seinem Mitschüler Benno Ohnesorg anfreundete. In "Alle meine Geister" widmet Timm sich nun seiner Jugend, den ersten Leseerfahrungen, den ersten Lieben. Es ist auch das Porträt einer lange vergangenen Zeit und eine melancholische Liebeserklärung an einen inzwischen fast ausgestorbenen Beruf. Zwar gab Timm diesen freiwillig auf und teilt die Kritik, die Tierschützer daran haben. Trotzdem möchte er dieses Handwerk, diese Kunst, deren Vorgehen fast an Timms collagenartige Erzähltechnik erinnert, zumindest in der Sprache bewahren: "Wegen seines Schutzes vor der Kälte ist der Pelzmantel ein schlichter Gebrauchsgegenstand, erst wenn die verschiedenen Farbtöne, die Haarlängen geordnet, also stimmig gemacht, oder im Gegenteil gekontert werden, entsteht aus dem natürlich Gewachsenen ein Künstliches, ein noch nie Gesehenes." Ein besonders talentierter Kürschnerkollege zeichnet seine Entwürfe, "als ginge es darum, Kathedralen zu bauen". Vom Alltag in einer Kürschnerwerkstatt, den verschiedenen Handgriffen erzählen - wer könnte das sonst noch? Timm hält beides fest, diese so sinnliche Tätigkeit und das soziale Gefüge, das sie umgibt.
Es ist eine Welt, von der man selten liest. Nicht nur weil sie, wie im Fall der Kürschnerei, nicht mehr existiert. Sondern auch weil es Bereiche des Lebens gibt, die in der Literatur wenig Platz finden. Viele Romane, sagt Timm, seien heute Beziehungsromane. Er habe beim Schreiben dagegen an einen Text von Isaac Singer gedacht, der den Alltag in einer Schneiderei schildert. Wir laufen an einem Nagelstudio vorbei, das unweit von Timms alter Werkstatt liegt. Auch ein Ort, von dem die Literatur selten spricht. Was für Geschichten gäbe es aus dieser Welt zu erzählen? Es fallen einem die Menschen aus "Alle meine Geister" ein, die damals in der Werkstatt zusammenkamen und den jugendlichen Timm auf so unterschiedliche Weise prägten. Viele mag man deshalb, weil Timm mit so viel aufmerksamem Wohlwollen von ihnen erzählt. Diese Haltung gegenüber anderen ist auch bei unserem Treffen zu bemerken. Ständig muss man aufpassen, schnell seine Fragen zu stellen, weil Timm einem sonst zuvorkommt. Was man in der Schule gelesen, was man studiert habe. Er sei, sagt er, eben ein neugieriger Mensch.
Timm schaut nach oben, zu einem großen Haus in der Bergstraße. Früher die Adresse von Levermann, seiner Lehrwerkstatt. Auf einem Balkon, den es jetzt nicht mehr gibt, saß er mit einer jungen Kollegin, in die er schüchtern verliebt war. Denn selbstverständlich gehörten zum Alltag in der Werkstatt auch Liebschaften, die bloß erträumten und die gelebten. Und die Ängste der Kolleginnen vor ungewollten Schwangerschaften, das Unglück, wenn es doch passierte. Sich aufeinander einzulassen sei deshalb immer "eine unglaubliche Entscheidung" gewesen, besonders für die Frauen, sagt Timm. Und erzählt, wie schwierig eine Annäherung gewesen sei. Heute, da man sich auf Apps wie Tinder mit relativ wenig Aufwand zum Sex verabreden kann, scheinen die Formalitäten eines Tanztees in maximaler Ferne zu liegen. Kommt ihm das alles im Rückblick nicht auch surreal vor? "Absolut, ja! Das kann man sich gar nicht mehr vorstellen, wie kompliziert, wie kodifiziert das damals war." Dieses Buch sei auch eine "education sentimentale". Wenn Timm selbst kaum glauben kann, wie sehr sich die Welt seit alldem verändert hat, sagt er bekräftigend: "Wirklich wahr!"
Ein anderes Thema, das "Alle meine Geister" prägt, ohne dabei direkt im Vordergrund zu stehen, ist der Krieg, der hier noch nicht lange vorbei ist. Mal im Gespräch mit dem Kürschner Walther Kruse, Sozialdemokrat und überzeugter Antifaschist. Mal fast nebenbei in einem einzigen Satz: "Er kam nach München, ein großer, massiger, gar nicht pompös auftretender Mann, dessen Biographie am leeren linken Jackenärmel abzulesen war", schreibt Timm etwa über sein Treffen mit dem Schriftsteller und Literaturredakteur Helmut Heißenbüttel. In der Kürschnerwerkstatt bringt der Krieg die Hierarchien durcheinander.
Da sind Lehrlinge, die älter sind als die anderen und denen mit größerem Respekt begegnet wird, weil sie im Krieg ranghohe Offiziere waren. Timm beschreibt seine Auseinandersetzung mit dem Vater, die eine Frage, die so viele ihren Eltern und Großeltern schon gestellt haben: Warum habt ihr nichts gemacht? Was wusstet ihr? Ein Held zu sein, ein Held des Widerstands, das könne man nicht erwarten, sagt Timm. Aber: "Da sind ja diese kleinen Dinge, diese Handlungsmöglichkeiten, die man hat." Etwas zu wissen und nicht zu melden. In der Straße, in der Timm wohnte, lebte zwölf Jahre versteckt ein Junge mit Downsyndrom, Karlchen. Hatten ihn die direkten Nachbarn nie spielen gehört? Es sind Fragen wie diese, die Timm sich in "Alle meine Geister" stellt.
Eine Frage, die man selbst hat, wenn man, viel jünger, mehr als vierzig Jahre nach dem Krieg geboren ist: Wie war das, dieser Alltag mit Menschen, die aus dem Krieg kamen und gemordet hatten? "Das waren ja fast alles Täter, die wenigsten waren es nicht. Das war die Normalität." Je mehr Zeit vergehe, desto grausamer komme ihm das alles vor. Damals sei das "sozusagen im Alltäglichen aufgelöst worden". Und erst jetzt sehe man, wie unglaublich fürchterlich und unverständlich das sei.
"Ganz normale Männer", ein Buch des amerikanischen Historikers Christopher R. Browning, habe ihn vor einigen Jahren "richtig durchgeschüttelt". Es ist eine Formulierung, der man anhört, das prägende Leseerfahrungen für Timm nicht allein der Jugend vorbehalten sind. Er macht sie noch heute. Erst kürzlich, im Urlaub, sei er wieder "versunken" in einem Buch. "Lord Jim", von Josef Conrad. "Ihr bestraft euch selbst, wenn ihr so ein Buch nicht lest!"
Wenn Timm von den Büchern erzählt, die ihn geprägt haben, wenn er in "Alle meine Geister" darüber schreibt, dann gehören zu dieser Erzählung immer auch Menschen. Die Begeisterung für Literatur sei durch keinen Kanon in der Schule geweckt worden, nicht durch Pflicht, sondern durch Empfehlungen, sagt Timm. Auch durch Kollegen wie Walther Kruse. Ein anderer Kürschner machte Timm damals mit der Jazzmusik vertraut. "In der Zeit war es so, dass in den Volksschulklassen jeweils mindestens zehn Kinder saßen, die locker das Gymnasium geschafft hätten", sagt Timm.
Sein Beruf sei, auch weil er etwas Edles an sich hatte, sehr intellektualisiert gewesen. Die Kollegen lasen, sie erzählten. Wenn er über diese Begegnungen, Empfehlungen und Entdeckungen spricht, sagt Timm oft, sie seien ihm "geschenkt" worden. Wie "Der Fremde" von Camus, im wörtlichen und übertragenen Sinn, "doppelt geschenkt" also. Ein Freund kaufte es ihm, weil Timm kein Geld hatte. Der schrieb später seine Doktorarbeit darüber.
Schriftsteller, sagt Timm, der in der Schule eine Rechtschreibschwäche hatte und deshalb eine Lehre begann, statt weiter zur Schule zu gehen, habe er schon immer werden wollen. Dass ihm die Buchstabenkombinationen für die Dinge der Welt willkürlich vorkamen (warum schreibt man, überlegt der junge Timm, den Schwan mit einem a, wenn er doch zwei Flügel hat?), hielt ihn vom Erzählen und Lesen nicht ab. Damals sei die Literatur für ihn eine Gegenwelt zum ruppigen Alltag der Werkstatt gewesen. Eine Gegenwelt zum Kloschüsselputzen und Felle sortieren, den Dingen, die Lehrlinge machen müssen, wenn sie noch am Anfang ihrer Ausbildung stehen. Dass aus diesem Alltag, dem er durch das Lesen entfloh, nun selbst Literatur geworden ist, dass Timm uns diese Geschichten nun geschenkt hat, gehört zu seiner erstaunlichen Biographie.
Uwe Timm, "Alle meine Geister". Kiepenheuer und Witsch, 288 Seiten, 25 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hier machte er seine Kürschnerlehre: Ein Spaziergang mit dem Schriftsteller Uwe Timm durch Hamburg.
Von Anna Vollmer
Uwe Timm hat unsere Verabredung vergessen. Deshalb kommt er etwas zu spät in die Lobby seines Hotels in Hamburg und ist aufrichtig bestürzt über dieses Versehen: Er sei doch "preußisch erzogen worden"! Allerdings ist der Terminkalender im Moment wohl ziemlich voll. Im September ist Timms neues Buch "Alle meine Geister" erschienen, die Lesereise hat gerade begonnen. Außerdem ist der 83-Jährige an diesem Tag noch mit seinem ältesten Freund verabredet, sie kennen sich seit Kindertagen. Unseren geplanten Spaziergang lässt er trotzdem nicht ausfallen: "Das ist jetzt unsere Geschichte!" Der Freund hat zum Glück auch später noch Zeit. Wir laufen also los, Richtung Jungfernstieg.
Hamburg ist Timms Heimatstadt. Das ist daran zu merken, dass man ihm den Norden plötzlich anhört, obwohl er schon seit Jahrzehnten nicht mehr hier wohnt: "Das ist ganz eigentümlich, dass diese Sprache, dieser Tonfall sich so eingeprägt haben." Anfang der Sechzigerjahre war Timm froh, die Stadt hinter sich zu lassen: "Dieser Moment, nach Braunschweig zu gehen und ein wirklich anderes Leben anzufangen, war so eine Befreiung." Und natürlich klingt das etwas seltsam, dass Hamburg, die große Hafenstadt, für ihn mit einer Enge verbunden ist, der er in Braunschweig entkommen wollte. Wer aber "Alle meine Geister" liest, wird schnell begreifen, was er damit meint. Denn dieses Buch, das man, wäre es nicht autobiographisch, wahrscheinlich einen Bildungsroman nennen würde, erzählt von der mitunter verstaubten, auch verdrucksten Atmosphäre der Hamburger Nachkriegsjahre. Von Timms Lehre als Kürschner, während der er davon träumte, etwas ganz anderes zu werden - Schriftsteller natürlich.
In der Chronologie ist "Alle meine Geister" zwischen zwei anderen Büchern Timms angesiedelt. In "Am Beispiel meines Bruders" hatte er die Geschichte seines älteren Bruders erzählt, der sich freiwillig zur Waffen-SS meldete und 1943 im Krieg fiel. Timm selbst war damals drei Jahre alt. In "Der Freund und der Fremde" beschrieb er seine Jahre am Braunschweig-Kolleg, wo er sein Abitur nachholte und sich mit seinem Mitschüler Benno Ohnesorg anfreundete. In "Alle meine Geister" widmet Timm sich nun seiner Jugend, den ersten Leseerfahrungen, den ersten Lieben. Es ist auch das Porträt einer lange vergangenen Zeit und eine melancholische Liebeserklärung an einen inzwischen fast ausgestorbenen Beruf. Zwar gab Timm diesen freiwillig auf und teilt die Kritik, die Tierschützer daran haben. Trotzdem möchte er dieses Handwerk, diese Kunst, deren Vorgehen fast an Timms collagenartige Erzähltechnik erinnert, zumindest in der Sprache bewahren: "Wegen seines Schutzes vor der Kälte ist der Pelzmantel ein schlichter Gebrauchsgegenstand, erst wenn die verschiedenen Farbtöne, die Haarlängen geordnet, also stimmig gemacht, oder im Gegenteil gekontert werden, entsteht aus dem natürlich Gewachsenen ein Künstliches, ein noch nie Gesehenes." Ein besonders talentierter Kürschnerkollege zeichnet seine Entwürfe, "als ginge es darum, Kathedralen zu bauen". Vom Alltag in einer Kürschnerwerkstatt, den verschiedenen Handgriffen erzählen - wer könnte das sonst noch? Timm hält beides fest, diese so sinnliche Tätigkeit und das soziale Gefüge, das sie umgibt.
Es ist eine Welt, von der man selten liest. Nicht nur weil sie, wie im Fall der Kürschnerei, nicht mehr existiert. Sondern auch weil es Bereiche des Lebens gibt, die in der Literatur wenig Platz finden. Viele Romane, sagt Timm, seien heute Beziehungsromane. Er habe beim Schreiben dagegen an einen Text von Isaac Singer gedacht, der den Alltag in einer Schneiderei schildert. Wir laufen an einem Nagelstudio vorbei, das unweit von Timms alter Werkstatt liegt. Auch ein Ort, von dem die Literatur selten spricht. Was für Geschichten gäbe es aus dieser Welt zu erzählen? Es fallen einem die Menschen aus "Alle meine Geister" ein, die damals in der Werkstatt zusammenkamen und den jugendlichen Timm auf so unterschiedliche Weise prägten. Viele mag man deshalb, weil Timm mit so viel aufmerksamem Wohlwollen von ihnen erzählt. Diese Haltung gegenüber anderen ist auch bei unserem Treffen zu bemerken. Ständig muss man aufpassen, schnell seine Fragen zu stellen, weil Timm einem sonst zuvorkommt. Was man in der Schule gelesen, was man studiert habe. Er sei, sagt er, eben ein neugieriger Mensch.
Timm schaut nach oben, zu einem großen Haus in der Bergstraße. Früher die Adresse von Levermann, seiner Lehrwerkstatt. Auf einem Balkon, den es jetzt nicht mehr gibt, saß er mit einer jungen Kollegin, in die er schüchtern verliebt war. Denn selbstverständlich gehörten zum Alltag in der Werkstatt auch Liebschaften, die bloß erträumten und die gelebten. Und die Ängste der Kolleginnen vor ungewollten Schwangerschaften, das Unglück, wenn es doch passierte. Sich aufeinander einzulassen sei deshalb immer "eine unglaubliche Entscheidung" gewesen, besonders für die Frauen, sagt Timm. Und erzählt, wie schwierig eine Annäherung gewesen sei. Heute, da man sich auf Apps wie Tinder mit relativ wenig Aufwand zum Sex verabreden kann, scheinen die Formalitäten eines Tanztees in maximaler Ferne zu liegen. Kommt ihm das alles im Rückblick nicht auch surreal vor? "Absolut, ja! Das kann man sich gar nicht mehr vorstellen, wie kompliziert, wie kodifiziert das damals war." Dieses Buch sei auch eine "education sentimentale". Wenn Timm selbst kaum glauben kann, wie sehr sich die Welt seit alldem verändert hat, sagt er bekräftigend: "Wirklich wahr!"
Ein anderes Thema, das "Alle meine Geister" prägt, ohne dabei direkt im Vordergrund zu stehen, ist der Krieg, der hier noch nicht lange vorbei ist. Mal im Gespräch mit dem Kürschner Walther Kruse, Sozialdemokrat und überzeugter Antifaschist. Mal fast nebenbei in einem einzigen Satz: "Er kam nach München, ein großer, massiger, gar nicht pompös auftretender Mann, dessen Biographie am leeren linken Jackenärmel abzulesen war", schreibt Timm etwa über sein Treffen mit dem Schriftsteller und Literaturredakteur Helmut Heißenbüttel. In der Kürschnerwerkstatt bringt der Krieg die Hierarchien durcheinander.
Da sind Lehrlinge, die älter sind als die anderen und denen mit größerem Respekt begegnet wird, weil sie im Krieg ranghohe Offiziere waren. Timm beschreibt seine Auseinandersetzung mit dem Vater, die eine Frage, die so viele ihren Eltern und Großeltern schon gestellt haben: Warum habt ihr nichts gemacht? Was wusstet ihr? Ein Held zu sein, ein Held des Widerstands, das könne man nicht erwarten, sagt Timm. Aber: "Da sind ja diese kleinen Dinge, diese Handlungsmöglichkeiten, die man hat." Etwas zu wissen und nicht zu melden. In der Straße, in der Timm wohnte, lebte zwölf Jahre versteckt ein Junge mit Downsyndrom, Karlchen. Hatten ihn die direkten Nachbarn nie spielen gehört? Es sind Fragen wie diese, die Timm sich in "Alle meine Geister" stellt.
Eine Frage, die man selbst hat, wenn man, viel jünger, mehr als vierzig Jahre nach dem Krieg geboren ist: Wie war das, dieser Alltag mit Menschen, die aus dem Krieg kamen und gemordet hatten? "Das waren ja fast alles Täter, die wenigsten waren es nicht. Das war die Normalität." Je mehr Zeit vergehe, desto grausamer komme ihm das alles vor. Damals sei das "sozusagen im Alltäglichen aufgelöst worden". Und erst jetzt sehe man, wie unglaublich fürchterlich und unverständlich das sei.
"Ganz normale Männer", ein Buch des amerikanischen Historikers Christopher R. Browning, habe ihn vor einigen Jahren "richtig durchgeschüttelt". Es ist eine Formulierung, der man anhört, das prägende Leseerfahrungen für Timm nicht allein der Jugend vorbehalten sind. Er macht sie noch heute. Erst kürzlich, im Urlaub, sei er wieder "versunken" in einem Buch. "Lord Jim", von Josef Conrad. "Ihr bestraft euch selbst, wenn ihr so ein Buch nicht lest!"
Wenn Timm von den Büchern erzählt, die ihn geprägt haben, wenn er in "Alle meine Geister" darüber schreibt, dann gehören zu dieser Erzählung immer auch Menschen. Die Begeisterung für Literatur sei durch keinen Kanon in der Schule geweckt worden, nicht durch Pflicht, sondern durch Empfehlungen, sagt Timm. Auch durch Kollegen wie Walther Kruse. Ein anderer Kürschner machte Timm damals mit der Jazzmusik vertraut. "In der Zeit war es so, dass in den Volksschulklassen jeweils mindestens zehn Kinder saßen, die locker das Gymnasium geschafft hätten", sagt Timm.
Sein Beruf sei, auch weil er etwas Edles an sich hatte, sehr intellektualisiert gewesen. Die Kollegen lasen, sie erzählten. Wenn er über diese Begegnungen, Empfehlungen und Entdeckungen spricht, sagt Timm oft, sie seien ihm "geschenkt" worden. Wie "Der Fremde" von Camus, im wörtlichen und übertragenen Sinn, "doppelt geschenkt" also. Ein Freund kaufte es ihm, weil Timm kein Geld hatte. Der schrieb später seine Doktorarbeit darüber.
Schriftsteller, sagt Timm, der in der Schule eine Rechtschreibschwäche hatte und deshalb eine Lehre begann, statt weiter zur Schule zu gehen, habe er schon immer werden wollen. Dass ihm die Buchstabenkombinationen für die Dinge der Welt willkürlich vorkamen (warum schreibt man, überlegt der junge Timm, den Schwan mit einem a, wenn er doch zwei Flügel hat?), hielt ihn vom Erzählen und Lesen nicht ab. Damals sei die Literatur für ihn eine Gegenwelt zum ruppigen Alltag der Werkstatt gewesen. Eine Gegenwelt zum Kloschüsselputzen und Felle sortieren, den Dingen, die Lehrlinge machen müssen, wenn sie noch am Anfang ihrer Ausbildung stehen. Dass aus diesem Alltag, dem er durch das Lesen entfloh, nun selbst Literatur geworden ist, dass Timm uns diese Geschichten nun geschenkt hat, gehört zu seiner erstaunlichen Biographie.
Uwe Timm, "Alle meine Geister". Kiepenheuer und Witsch, 288 Seiten, 25 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Nicht abschrecken lassen sollte man sich von dem auf den ersten Blick wenig glamourösen Setting dieses Erinnerungsbuchs Uwe Timms, meint Rezensent Florian Eichel. Denn es gelingt Timm, so erläutert Eichel, die 1950er Jahre, in der der spätere Schriftsteller zunächst das Handwerk des Kürschners erlernte, aufregend darzustellen. Timm schreibt darüber, erfahren wir, wie er bei einem Pelzhändler in die Lehre ging, nebenbei die Widersprüche seines Wohnorts Hamburg kennenlernt und vor allem zur Literatur findet, der er sich dann zu Beginn der 1960er endgültig zuwendet. Es geht also, führt Eichel aus, um prägende Leseerfahrungen von Kafka bis Henry Miller, aber auch darum, wie die Arbeit mit Pelzen auf Timms spätere Arbeit an Texten verweist. Das alles ist hervorragend montiert und bereitet beim Lesen viel Freude, schließt der äußerst angetane Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2023Wie kompliziert das damals war
Hier machte er seine Kürschnerlehre: Ein Spaziergang mit dem Schriftsteller Uwe Timm durch Hamburg.
Von Anna Vollmer
Uwe Timm hat unsere Verabredung vergessen. Deshalb kommt er etwas zu spät in die Lobby seines Hotels in Hamburg und ist aufrichtig bestürzt über dieses Versehen: Er sei doch "preußisch erzogen worden"! Allerdings ist der Terminkalender im Moment wohl ziemlich voll. Im September ist Timms neues Buch "Alle meine Geister" erschienen, die Lesereise hat gerade begonnen. Außerdem ist der 83-Jährige an diesem Tag noch mit seinem ältesten Freund verabredet, sie kennen sich seit Kindertagen. Unseren geplanten Spaziergang lässt er trotzdem nicht ausfallen: "Das ist jetzt unsere Geschichte!" Der Freund hat zum Glück auch später noch Zeit. Wir laufen also los, Richtung Jungfernstieg.
Hamburg ist Timms Heimatstadt. Das ist daran zu merken, dass man ihm den Norden plötzlich anhört, obwohl er schon seit Jahrzehnten nicht mehr hier wohnt: "Das ist ganz eigentümlich, dass diese Sprache, dieser Tonfall sich so eingeprägt haben." Anfang der Sechzigerjahre war Timm froh, die Stadt hinter sich zu lassen: "Dieser Moment, nach Braunschweig zu gehen und ein wirklich anderes Leben anzufangen, war so eine Befreiung." Und natürlich klingt das etwas seltsam, dass Hamburg, die große Hafenstadt, für ihn mit einer Enge verbunden ist, der er in Braunschweig entkommen wollte. Wer aber "Alle meine Geister" liest, wird schnell begreifen, was er damit meint. Denn dieses Buch, das man, wäre es nicht autobiographisch, wahrscheinlich einen Bildungsroman nennen würde, erzählt von der mitunter verstaubten, auch verdrucksten Atmosphäre der Hamburger Nachkriegsjahre. Von Timms Lehre als Kürschner, während der er davon träumte, etwas ganz anderes zu werden - Schriftsteller natürlich.
In der Chronologie ist "Alle meine Geister" zwischen zwei anderen Büchern Timms angesiedelt. In "Am Beispiel meines Bruders" hatte er die Geschichte seines älteren Bruders erzählt, der sich freiwillig zur Waffen-SS meldete und 1943 im Krieg fiel. Timm selbst war damals drei Jahre alt. In "Der Freund und der Fremde" beschrieb er seine Jahre am Braunschweig-Kolleg, wo er sein Abitur nachholte und sich mit seinem Mitschüler Benno Ohnesorg anfreundete. In "Alle meine Geister" widmet Timm sich nun seiner Jugend, den ersten Leseerfahrungen, den ersten Lieben. Es ist auch das Porträt einer lange vergangenen Zeit und eine melancholische Liebeserklärung an einen inzwischen fast ausgestorbenen Beruf. Zwar gab Timm diesen freiwillig auf und teilt die Kritik, die Tierschützer daran haben. Trotzdem möchte er dieses Handwerk, diese Kunst, deren Vorgehen fast an Timms collagenartige Erzähltechnik erinnert, zumindest in der Sprache bewahren: "Wegen seines Schutzes vor der Kälte ist der Pelzmantel ein schlichter Gebrauchsgegenstand, erst wenn die verschiedenen Farbtöne, die Haarlängen geordnet, also stimmig gemacht, oder im Gegenteil gekontert werden, entsteht aus dem natürlich Gewachsenen ein Künstliches, ein noch nie Gesehenes." Ein besonders talentierter Kürschnerkollege zeichnet seine Entwürfe, "als ginge es darum, Kathedralen zu bauen". Vom Alltag in einer Kürschnerwerkstatt, den verschiedenen Handgriffen erzählen - wer könnte das sonst noch? Timm hält beides fest, diese so sinnliche Tätigkeit und das soziale Gefüge, das sie umgibt.
Es ist eine Welt, von der man selten liest. Nicht nur weil sie, wie im Fall der Kürschnerei, nicht mehr existiert. Sondern auch weil es Bereiche des Lebens gibt, die in der Literatur wenig Platz finden. Viele Romane, sagt Timm, seien heute Beziehungsromane. Er habe beim Schreiben dagegen an einen Text von Isaac Singer gedacht, der den Alltag in einer Schneiderei schildert. Wir laufen an einem Nagelstudio vorbei, das unweit von Timms alter Werkstatt liegt. Auch ein Ort, von dem die Literatur selten spricht. Was für Geschichten gäbe es aus dieser Welt zu erzählen? Es fallen einem die Menschen aus "Alle meine Geister" ein, die damals in der Werkstatt zusammenkamen und den jugendlichen Timm auf so unterschiedliche Weise prägten. Viele mag man deshalb, weil Timm mit so viel aufmerksamem Wohlwollen von ihnen erzählt. Diese Haltung gegenüber anderen ist auch bei unserem Treffen zu bemerken. Ständig muss man aufpassen, schnell seine Fragen zu stellen, weil Timm einem sonst zuvorkommt. Was man in der Schule gelesen, was man studiert habe. Er sei, sagt er, eben ein neugieriger Mensch.
Timm schaut nach oben, zu einem großen Haus in der Bergstraße. Früher die Adresse von Levermann, seiner Lehrwerkstatt. Auf einem Balkon, den es jetzt nicht mehr gibt, saß er mit einer jungen Kollegin, in die er schüchtern verliebt war. Denn selbstverständlich gehörten zum Alltag in der Werkstatt auch Liebschaften, die bloß erträumten und die gelebten. Und die Ängste der Kolleginnen vor ungewollten Schwangerschaften, das Unglück, wenn es doch passierte. Sich aufeinander einzulassen sei deshalb immer "eine unglaubliche Entscheidung" gewesen, besonders für die Frauen, sagt Timm. Und erzählt, wie schwierig eine Annäherung gewesen sei. Heute, da man sich auf Apps wie Tinder mit relativ wenig Aufwand zum Sex verabreden kann, scheinen die Formalitäten eines Tanztees in maximaler Ferne zu liegen. Kommt ihm das alles im Rückblick nicht auch surreal vor? "Absolut, ja! Das kann man sich gar nicht mehr vorstellen, wie kompliziert, wie kodifiziert das damals war." Dieses Buch sei auch eine "education sentimentale". Wenn Timm selbst kaum glauben kann, wie sehr sich die Welt seit alldem verändert hat, sagt er bekräftigend: "Wirklich wahr!"
Ein anderes Thema, das "Alle meine Geister" prägt, ohne dabei direkt im Vordergrund zu stehen, ist der Krieg, der hier noch nicht lange vorbei ist. Mal im Gespräch mit dem Kürschner Walther Kruse, Sozialdemokrat und überzeugter Antifaschist. Mal fast nebenbei in einem einzigen Satz: "Er kam nach München, ein großer, massiger, gar nicht pompös auftretender Mann, dessen Biographie am leeren linken Jackenärmel abzulesen war", schreibt Timm etwa über sein Treffen mit dem Schriftsteller und Literaturredakteur Helmut Heißenbüttel. In der Kürschnerwerkstatt bringt der Krieg die Hierarchien durcheinander.
Da sind Lehrlinge, die älter sind als die anderen und denen mit größerem Respekt begegnet wird, weil sie im Krieg ranghohe Offiziere waren. Timm beschreibt seine Auseinandersetzung mit dem Vater, die eine Frage, die so viele ihren Eltern und Großeltern schon gestellt haben: Warum habt ihr nichts gemacht? Was wusstet ihr? Ein Held zu sein, ein Held des Widerstands, das könne man nicht erwarten, sagt Timm. Aber: "Da sind ja diese kleinen Dinge, diese Handlungsmöglichkeiten, die man hat." Etwas zu wissen und nicht zu melden. In der Straße, in der Timm wohnte, lebte zwölf Jahre versteckt ein Junge mit Downsyndrom, Karlchen. Hatten ihn die direkten Nachbarn nie spielen gehört? Es sind Fragen wie diese, die Timm sich in "Alle meine Geister" stellt.
Eine Frage, die man selbst hat, wenn man, viel jünger, mehr als vierzig Jahre nach dem Krieg geboren ist: Wie war das, dieser Alltag mit Menschen, die aus dem Krieg kamen und gemordet hatten? "Das waren ja fast alles Täter, die wenigsten waren es nicht. Das war die Normalität." Je mehr Zeit vergehe, desto grausamer komme ihm das alles vor. Damals sei das "sozusagen im Alltäglichen aufgelöst worden". Und erst jetzt sehe man, wie unglaublich fürchterlich und unverständlich das sei.
"Ganz normale Männer", ein Buch des amerikanischen Historikers Christopher R. Browning, habe ihn vor einigen Jahren "richtig durchgeschüttelt". Es ist eine Formulierung, der man anhört, das prägende Leseerfahrungen für Timm nicht allein der Jugend vorbehalten sind. Er macht sie noch heute. Erst kürzlich, im Urlaub, sei er wieder "versunken" in einem Buch. "Lord Jim", von Josef Conrad. "Ihr bestraft euch selbst, wenn ihr so ein Buch nicht lest!"
Wenn Timm von den Büchern erzählt, die ihn geprägt haben, wenn er in "Alle meine Geister" darüber schreibt, dann gehören zu dieser Erzählung immer auch Menschen. Die Begeisterung für Literatur sei durch keinen Kanon in der Schule geweckt worden, nicht durch Pflicht, sondern durch Empfehlungen, sagt Timm. Auch durch Kollegen wie Walther Kruse. Ein anderer Kürschner machte Timm damals mit der Jazzmusik vertraut. "In der Zeit war es so, dass in den Volksschulklassen jeweils mindestens zehn Kinder saßen, die locker das Gymnasium geschafft hätten", sagt Timm.
Sein Beruf sei, auch weil er etwas Edles an sich hatte, sehr intellektualisiert gewesen. Die Kollegen lasen, sie erzählten. Wenn er über diese Begegnungen, Empfehlungen und Entdeckungen spricht, sagt Timm oft, sie seien ihm "geschenkt" worden. Wie "Der Fremde" von Camus, im wörtlichen und übertragenen Sinn, "doppelt geschenkt" also. Ein Freund kaufte es ihm, weil Timm kein Geld hatte. Der schrieb später seine Doktorarbeit darüber.
Schriftsteller, sagt Timm, der in der Schule eine Rechtschreibschwäche hatte und deshalb eine Lehre begann, statt weiter zur Schule zu gehen, habe er schon immer werden wollen. Dass ihm die Buchstabenkombinationen für die Dinge der Welt willkürlich vorkamen (warum schreibt man, überlegt der junge Timm, den Schwan mit einem a, wenn er doch zwei Flügel hat?), hielt ihn vom Erzählen und Lesen nicht ab. Damals sei die Literatur für ihn eine Gegenwelt zum ruppigen Alltag der Werkstatt gewesen. Eine Gegenwelt zum Kloschüsselputzen und Felle sortieren, den Dingen, die Lehrlinge machen müssen, wenn sie noch am Anfang ihrer Ausbildung stehen. Dass aus diesem Alltag, dem er durch das Lesen entfloh, nun selbst Literatur geworden ist, dass Timm uns diese Geschichten nun geschenkt hat, gehört zu seiner erstaunlichen Biographie.
Uwe Timm, "Alle meine Geister". Kiepenheuer und Witsch, 288 Seiten, 25 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hier machte er seine Kürschnerlehre: Ein Spaziergang mit dem Schriftsteller Uwe Timm durch Hamburg.
Von Anna Vollmer
Uwe Timm hat unsere Verabredung vergessen. Deshalb kommt er etwas zu spät in die Lobby seines Hotels in Hamburg und ist aufrichtig bestürzt über dieses Versehen: Er sei doch "preußisch erzogen worden"! Allerdings ist der Terminkalender im Moment wohl ziemlich voll. Im September ist Timms neues Buch "Alle meine Geister" erschienen, die Lesereise hat gerade begonnen. Außerdem ist der 83-Jährige an diesem Tag noch mit seinem ältesten Freund verabredet, sie kennen sich seit Kindertagen. Unseren geplanten Spaziergang lässt er trotzdem nicht ausfallen: "Das ist jetzt unsere Geschichte!" Der Freund hat zum Glück auch später noch Zeit. Wir laufen also los, Richtung Jungfernstieg.
Hamburg ist Timms Heimatstadt. Das ist daran zu merken, dass man ihm den Norden plötzlich anhört, obwohl er schon seit Jahrzehnten nicht mehr hier wohnt: "Das ist ganz eigentümlich, dass diese Sprache, dieser Tonfall sich so eingeprägt haben." Anfang der Sechzigerjahre war Timm froh, die Stadt hinter sich zu lassen: "Dieser Moment, nach Braunschweig zu gehen und ein wirklich anderes Leben anzufangen, war so eine Befreiung." Und natürlich klingt das etwas seltsam, dass Hamburg, die große Hafenstadt, für ihn mit einer Enge verbunden ist, der er in Braunschweig entkommen wollte. Wer aber "Alle meine Geister" liest, wird schnell begreifen, was er damit meint. Denn dieses Buch, das man, wäre es nicht autobiographisch, wahrscheinlich einen Bildungsroman nennen würde, erzählt von der mitunter verstaubten, auch verdrucksten Atmosphäre der Hamburger Nachkriegsjahre. Von Timms Lehre als Kürschner, während der er davon träumte, etwas ganz anderes zu werden - Schriftsteller natürlich.
In der Chronologie ist "Alle meine Geister" zwischen zwei anderen Büchern Timms angesiedelt. In "Am Beispiel meines Bruders" hatte er die Geschichte seines älteren Bruders erzählt, der sich freiwillig zur Waffen-SS meldete und 1943 im Krieg fiel. Timm selbst war damals drei Jahre alt. In "Der Freund und der Fremde" beschrieb er seine Jahre am Braunschweig-Kolleg, wo er sein Abitur nachholte und sich mit seinem Mitschüler Benno Ohnesorg anfreundete. In "Alle meine Geister" widmet Timm sich nun seiner Jugend, den ersten Leseerfahrungen, den ersten Lieben. Es ist auch das Porträt einer lange vergangenen Zeit und eine melancholische Liebeserklärung an einen inzwischen fast ausgestorbenen Beruf. Zwar gab Timm diesen freiwillig auf und teilt die Kritik, die Tierschützer daran haben. Trotzdem möchte er dieses Handwerk, diese Kunst, deren Vorgehen fast an Timms collagenartige Erzähltechnik erinnert, zumindest in der Sprache bewahren: "Wegen seines Schutzes vor der Kälte ist der Pelzmantel ein schlichter Gebrauchsgegenstand, erst wenn die verschiedenen Farbtöne, die Haarlängen geordnet, also stimmig gemacht, oder im Gegenteil gekontert werden, entsteht aus dem natürlich Gewachsenen ein Künstliches, ein noch nie Gesehenes." Ein besonders talentierter Kürschnerkollege zeichnet seine Entwürfe, "als ginge es darum, Kathedralen zu bauen". Vom Alltag in einer Kürschnerwerkstatt, den verschiedenen Handgriffen erzählen - wer könnte das sonst noch? Timm hält beides fest, diese so sinnliche Tätigkeit und das soziale Gefüge, das sie umgibt.
Es ist eine Welt, von der man selten liest. Nicht nur weil sie, wie im Fall der Kürschnerei, nicht mehr existiert. Sondern auch weil es Bereiche des Lebens gibt, die in der Literatur wenig Platz finden. Viele Romane, sagt Timm, seien heute Beziehungsromane. Er habe beim Schreiben dagegen an einen Text von Isaac Singer gedacht, der den Alltag in einer Schneiderei schildert. Wir laufen an einem Nagelstudio vorbei, das unweit von Timms alter Werkstatt liegt. Auch ein Ort, von dem die Literatur selten spricht. Was für Geschichten gäbe es aus dieser Welt zu erzählen? Es fallen einem die Menschen aus "Alle meine Geister" ein, die damals in der Werkstatt zusammenkamen und den jugendlichen Timm auf so unterschiedliche Weise prägten. Viele mag man deshalb, weil Timm mit so viel aufmerksamem Wohlwollen von ihnen erzählt. Diese Haltung gegenüber anderen ist auch bei unserem Treffen zu bemerken. Ständig muss man aufpassen, schnell seine Fragen zu stellen, weil Timm einem sonst zuvorkommt. Was man in der Schule gelesen, was man studiert habe. Er sei, sagt er, eben ein neugieriger Mensch.
Timm schaut nach oben, zu einem großen Haus in der Bergstraße. Früher die Adresse von Levermann, seiner Lehrwerkstatt. Auf einem Balkon, den es jetzt nicht mehr gibt, saß er mit einer jungen Kollegin, in die er schüchtern verliebt war. Denn selbstverständlich gehörten zum Alltag in der Werkstatt auch Liebschaften, die bloß erträumten und die gelebten. Und die Ängste der Kolleginnen vor ungewollten Schwangerschaften, das Unglück, wenn es doch passierte. Sich aufeinander einzulassen sei deshalb immer "eine unglaubliche Entscheidung" gewesen, besonders für die Frauen, sagt Timm. Und erzählt, wie schwierig eine Annäherung gewesen sei. Heute, da man sich auf Apps wie Tinder mit relativ wenig Aufwand zum Sex verabreden kann, scheinen die Formalitäten eines Tanztees in maximaler Ferne zu liegen. Kommt ihm das alles im Rückblick nicht auch surreal vor? "Absolut, ja! Das kann man sich gar nicht mehr vorstellen, wie kompliziert, wie kodifiziert das damals war." Dieses Buch sei auch eine "education sentimentale". Wenn Timm selbst kaum glauben kann, wie sehr sich die Welt seit alldem verändert hat, sagt er bekräftigend: "Wirklich wahr!"
Ein anderes Thema, das "Alle meine Geister" prägt, ohne dabei direkt im Vordergrund zu stehen, ist der Krieg, der hier noch nicht lange vorbei ist. Mal im Gespräch mit dem Kürschner Walther Kruse, Sozialdemokrat und überzeugter Antifaschist. Mal fast nebenbei in einem einzigen Satz: "Er kam nach München, ein großer, massiger, gar nicht pompös auftretender Mann, dessen Biographie am leeren linken Jackenärmel abzulesen war", schreibt Timm etwa über sein Treffen mit dem Schriftsteller und Literaturredakteur Helmut Heißenbüttel. In der Kürschnerwerkstatt bringt der Krieg die Hierarchien durcheinander.
Da sind Lehrlinge, die älter sind als die anderen und denen mit größerem Respekt begegnet wird, weil sie im Krieg ranghohe Offiziere waren. Timm beschreibt seine Auseinandersetzung mit dem Vater, die eine Frage, die so viele ihren Eltern und Großeltern schon gestellt haben: Warum habt ihr nichts gemacht? Was wusstet ihr? Ein Held zu sein, ein Held des Widerstands, das könne man nicht erwarten, sagt Timm. Aber: "Da sind ja diese kleinen Dinge, diese Handlungsmöglichkeiten, die man hat." Etwas zu wissen und nicht zu melden. In der Straße, in der Timm wohnte, lebte zwölf Jahre versteckt ein Junge mit Downsyndrom, Karlchen. Hatten ihn die direkten Nachbarn nie spielen gehört? Es sind Fragen wie diese, die Timm sich in "Alle meine Geister" stellt.
Eine Frage, die man selbst hat, wenn man, viel jünger, mehr als vierzig Jahre nach dem Krieg geboren ist: Wie war das, dieser Alltag mit Menschen, die aus dem Krieg kamen und gemordet hatten? "Das waren ja fast alles Täter, die wenigsten waren es nicht. Das war die Normalität." Je mehr Zeit vergehe, desto grausamer komme ihm das alles vor. Damals sei das "sozusagen im Alltäglichen aufgelöst worden". Und erst jetzt sehe man, wie unglaublich fürchterlich und unverständlich das sei.
"Ganz normale Männer", ein Buch des amerikanischen Historikers Christopher R. Browning, habe ihn vor einigen Jahren "richtig durchgeschüttelt". Es ist eine Formulierung, der man anhört, das prägende Leseerfahrungen für Timm nicht allein der Jugend vorbehalten sind. Er macht sie noch heute. Erst kürzlich, im Urlaub, sei er wieder "versunken" in einem Buch. "Lord Jim", von Josef Conrad. "Ihr bestraft euch selbst, wenn ihr so ein Buch nicht lest!"
Wenn Timm von den Büchern erzählt, die ihn geprägt haben, wenn er in "Alle meine Geister" darüber schreibt, dann gehören zu dieser Erzählung immer auch Menschen. Die Begeisterung für Literatur sei durch keinen Kanon in der Schule geweckt worden, nicht durch Pflicht, sondern durch Empfehlungen, sagt Timm. Auch durch Kollegen wie Walther Kruse. Ein anderer Kürschner machte Timm damals mit der Jazzmusik vertraut. "In der Zeit war es so, dass in den Volksschulklassen jeweils mindestens zehn Kinder saßen, die locker das Gymnasium geschafft hätten", sagt Timm.
Sein Beruf sei, auch weil er etwas Edles an sich hatte, sehr intellektualisiert gewesen. Die Kollegen lasen, sie erzählten. Wenn er über diese Begegnungen, Empfehlungen und Entdeckungen spricht, sagt Timm oft, sie seien ihm "geschenkt" worden. Wie "Der Fremde" von Camus, im wörtlichen und übertragenen Sinn, "doppelt geschenkt" also. Ein Freund kaufte es ihm, weil Timm kein Geld hatte. Der schrieb später seine Doktorarbeit darüber.
Schriftsteller, sagt Timm, der in der Schule eine Rechtschreibschwäche hatte und deshalb eine Lehre begann, statt weiter zur Schule zu gehen, habe er schon immer werden wollen. Dass ihm die Buchstabenkombinationen für die Dinge der Welt willkürlich vorkamen (warum schreibt man, überlegt der junge Timm, den Schwan mit einem a, wenn er doch zwei Flügel hat?), hielt ihn vom Erzählen und Lesen nicht ab. Damals sei die Literatur für ihn eine Gegenwelt zum ruppigen Alltag der Werkstatt gewesen. Eine Gegenwelt zum Kloschüsselputzen und Felle sortieren, den Dingen, die Lehrlinge machen müssen, wenn sie noch am Anfang ihrer Ausbildung stehen. Dass aus diesem Alltag, dem er durch das Lesen entfloh, nun selbst Literatur geworden ist, dass Timm uns diese Geschichten nun geschenkt hat, gehört zu seiner erstaunlichen Biographie.
Uwe Timm, "Alle meine Geister". Kiepenheuer und Witsch, 288 Seiten, 25 Euro
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»Uwe Timm ist ein Spezialist für autobiographische Bücher, die von den Rändern aus operieren, um langsam zum Zentrum vorzudringen [...] Uwe Timms Buch "Alle meine Geister" [ist die] Selbsterfindung eines lesenden Kürschners...ein offenes, atmendes Buch für alle, die vom Lesen nicht lassen können.« Paul Ingendaay FAZ Podcast 20230930
Nicht abschrecken lassen sollte man sich von dem auf den ersten Blick wenig glamourösen Setting dieses Erinnerungsbuchs Uwe Timms, meint Rezensent Florian Eichel. Denn es gelingt Timm, so erläutert Eichel, die 1950er Jahre, in der der spätere Schriftsteller zunächst das Handwerk des Kürschners erlernte, aufregend darzustellen. Timm schreibt darüber, erfahren wir, wie er bei einem Pelzhändler in die Lehre ging, nebenbei die Widersprüche seines Wohnorts Hamburg kennenlernt und vor allem zur Literatur findet, der er sich dann zu Beginn der 1960er endgültig zuwendet. Es geht also, führt Eichel aus, um prägende Leseerfahrungen von Kafka bis Henry Miller, aber auch darum, wie die Arbeit mit Pelzen auf Timms spätere Arbeit an Texten verweist. Das alles ist hervorragend montiert und bereitet beim Lesen viel Freude, schließt der äußerst angetane Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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