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Das Feuilleton-Ereignis des Jahres 2004
In einem abgetakelten Bahnhofsviertel hängt ein Mann kopfüber von einem Klettergerüst. Sein Name ist Abel Nema, und man sagt ihm nach, ein Genie zu sein. Doch was nützt das, wenn sich einmal ein Leben derart verändert hat, dass sich nichts und niemand mehr am richtigen Ort befindet - am allerwenigsten man selbst. Zuerst verschwindet der Vater spurlos, dann, nachdem Abel ihm seine Liebe erklärt hat, der Jugendfreund, und schließlich bricht in seinem Heimatland auch noch ein Bürgerkrieg aus - seitdem sitzt er im Westen fest, und immer wieder nimmt er…mehr

Produktbeschreibung
Das Feuilleton-Ereignis des Jahres 2004

In einem abgetakelten Bahnhofsviertel hängt ein Mann kopfüber von einem Klettergerüst. Sein Name ist Abel Nema, und man sagt ihm nach, ein Genie zu sein. Doch was nützt das, wenn sich einmal ein Leben derart verändert hat, dass sich nichts und niemand mehr am richtigen Ort befindet - am allerwenigsten man selbst. Zuerst verschwindet der Vater spurlos, dann, nachdem Abel ihm seine Liebe erklärt hat, der Jugendfreund, und schließlich bricht in seinem Heimatland auch noch ein Bürgerkrieg aus - seitdem sitzt er im Westen fest, und immer wieder nimmt er Anlauf, Herr über sein Schicksal zu werden...

Terézia Mora erhielt den Mara Cassens Preis 2004
Am Anfang hängt in einem abgetakelten Bahnhofsviertel ein Mann kopfüber von einem Klettergerüst. Sein Name ist Abel Nema, und man sagt ihm nach, ein Genie zu sein. Doch was nützt das, wenn sich einmal ein Leben derart verändert hat, daß sich nichts und niemand mehr am richtigen Ort befindet - am allerwenigsten man selbst. Zuerst verschwindet der Vater spurlos, dann, nachdem Abel ihm seine Liebe erklärt hat, der Jugendfreund, und schließlich bricht in seinem Heimatland auch noch ein Bürgerkrieg aus - seitdem sitzt er im Westen fest. Immer wieder nimmt er Anlauf, Herr über sein Schicksal zu werden, versucht sich als Lehrer und als Landstreicher, und am Schluß sogar als Ehemann. Er wird, und nicht nur einmal, geliebt, dennoch: »Eines Tages ist der talentierte Mensch, der ich bin, einfach verzweifelt.« Terézia Moras erster Roman ist angelegt als ein Prosa-Labyrinth von seltener Sprachkraft und einem ausgesuchten Reichtum an Bildern, der in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seinesgleichen sucht. Sie erzählt den Höllentrip eines entwurzelten und wortlosen Mannes, für den es am Ende doch eine Erlösung geben wird.
Autorenporträt
Terézia Mora, 1971 in Sopron/Ungarn, geboren, lebt seit 1990 in Berlin und ist Übersetzerin aus dem Ungarischen. Für ihre Erzählungen erhielt sie 1997 den Open-Mike-Literaturpreis, 1999 den Ingeborg-Bachmann-Preis und 2000 den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis. Für ihr bisheriges literarisches Werk sowie für ihre vielfältigen Aktivitäten als Übersetzerin und Vermittlerin zwischen dem deutschsprachigen und dem ungarischen Kulturraum wurde Terézia Mora 2010 mit dem Chamisso-Preis geehrt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.08.2004

Aus einer anderen Welt
Im Vergleich zu ihr sind alle anderen gleich: Die ungarisch-deutsche Schriftstellerin Terézia Mora hat ihren ersten Roman geschrieben

Und plötzlich spricht das Buch mit dir. Einfach so. Aus heiterem Himmel. Das ist ja nicht unbedingt angenehm. So eine allzu persönliche Sache zwischen Buch und Leser. Plötzlich. Aber was will man machen. Also: Abel Nema, schweigender Sprachenkünstler, Flüchtling aus Osteuropa, Deserteur und Held von Terézia Moras erstem Roman "Alle Tage", einem wahren Wunderbuch, also dieser Abel Nema ist gerade einer mörderischen Musikgruppe entkommen. Er war mit ihnen auf Tournee. Sie haben am Rande ihres letzten Konzertes jemanden ermordet aus Laune oder Notwendigkeit. Abel Nema steigt in der Nacht danach im schwarzen Nirgendwo eines Kohlfelds aus ihrem Auto und verschwindet.

Er verschwindet weiter und weiter, "jetzt kann ich überall hin", denkt er und begegnet der klaräugigen Mercedes, die ihn heiraten wird, und ihrem einäugigen Sohn Omar, in den er sich verlieben wird, und öffnet zum ersten Mal eine Maisdose. Ja, das ist so ein Roman, in dem ein Mensch zum ersten Mal eine Maisdose öffnet. Obwohl er in einer nicht allzu fernen Vergangenheit spielt. Aber in einer fremden Welt. In unserer. Der westlichen. Mit den Augen Abel Nemas gesehen. Einem Helden der Abwesenheit, der Fremdheit und der Scham. "Abel öffnet die erste Maisdose seines Lebens. Butterweiches Metall. Etwas unerklärlich Angenehmes." Es folgen Erinnerungen an sein im Tourneewagen vergessenes Gepäck, seinen beinahe abgelaufenen Reisepaß einer untergegangenen Föderation, und er gibt die Dose geöffnet zurück: "Als er dem Jungen die Dose übergab, fiel sein Blick auf die Zahlenreihe, die auf dem Deckel gedruckt war: 05. 08. 2004. Für einen Moment war ihm, als könnte das das heutige Datum sein." - Ähm, funktioniert das jetzt bei Ihnen auch? Steht da jetzt 08. 08. 2004 oder wann immer Sie diesen Artikel lesen? Wenn nicht, wäre das natürlich ärgerlich. Aber es ist noch nicht gesagt, daß es in Moras Erstaunlichkeitsbuch, wenn Sie es lesen, auch nicht funktioniert. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, daß es klappen wird. Daß dort, so war es bei mir, an dieser Maisdosenentdeckungsstelle in der Mitte des Buches genau das Datum aufleuchtet, an dem Sie das Buch lesen. Und dann den Satz: "Für einen Moment war ihm, als könnte das das heutige Datum sein." Fragen Sie mich nicht, wie sie das macht.

Man könnte sie selber fragen. Sie sitzt hier auf einem der zahllosen Café-Stühle am Wasserturm in Prenzlauer Berg im Schatten und wehrt Wespe auf Wespe ab. Der Zuckerstreuer auf dem Tisch ist mit einem Wespenstopper verstopft. Sie bestellt Milchkaffee und wedelt in der Luft. Die Kellnerin bringt eine Blunaflasche mit Zuckerwasser. Als Wespengrab. Terézia Mora erzählt, was sie gemacht hat, zwischen damals und heute. Damals, 1999, als sie den Bachmannpreis gewann und ihr erster, begeistert besprochener Erzählungsband "Seltsame Materie" erschien. Oder damals, 1997. Im Herbst. Der Park in der Villa im Majakowskiring in Pankow lag voller gelber Blätter, und die Zuhörer des Nachwuchs-Literatur-Wettbewerbs "open mike" lagen ohne Erwartung in ihren Sesseln und tranken Tee. Als Terézia Mora zum ersten Mal öffentlich las.

Sie hieß damals noch Terézia Kriedemann, und als sie die kleine Bühne betrat und begann, war alles anders. Da war dieser Ton. Das hörte man gleich. Die dunkle Stimme. Der dunkle Text. Der große, große Ernst. Das war schön und fremd und neu und poetisch. "Großvater ist tot", begann sie, und die Jungs in den Sesseln setzten sich aufrecht, Lektoren und Agenten drängten sich nach ihrer Lesung ins Gespräch mit ihr, aber ein Lektor des Rowohlt-Verlags wich wie ein Eiskunstlauftrainer nach der Kür nicht von ihrer Seite und flüsterte, als sie schließlich den Preis gewann: "Hab' ich's dir nicht gesagt", und gab ihr, obwohl es damals nur diese eine Erzählung gab, einen Vertrag.

Er hatte das richtige Gespür. Oder: Das hatten eigentlich alle. Er war nur der schnellste. Die Geschichten, die Mora dann schrieb und die in "Seltsame Materie" versammelt sind, sind dunkle Kindheitsgeschichten aus einer archaisch anmutenden Welt in einem ungarischen Dorf an der westlichen Grenze des Landes. Geschichten aus Moras Kindheit. Aus einer poetischen Erinnerung. An diese kleine große Kinderwelt in Ungarn. Die schauerliche, armselige, desolate Erwachsenenwelt. Terézia Mora wurde 1971 im ungarischen Sopron geboren, ihre Familie gehörte zur deutschen Minderheit. Ein Außenseiterleben. "Wer spricht, wie man in meiner Familie spricht, ist ein Faschist", heißt es in einer der Erzählungen. Und: "Sprechen fremd und beten nicht. Man dreht sich um zu uns und ist ganz still." 1990 verläßt Mora Ungarn, um in Berlin Hungarologie und Theaterwissenschaft zu studieren. Sie arbeitet als Produktionsassistentin beim Fernsehen und besucht die Drehbuchklasse der Filmakademie. Später wird sie ihr Geld vor allem mit Übersetzungen verdienen. Ihre größte Anerkennung bekam sie dafür, als sie vor zwei Jahren Péter Esterházys Hauptwerk "Harmonia Cælestis" ins Deutsche übertrug. Auch ein Theaterstück von ihr wurde vor gut einem Jahr bei der Ruhrtriennale uraufgeführt. Das fiel bei der Kritik jedoch durch. Als sie beim "open mike" ihre erste Erzählung liest, verdient sie ihr Geld eigentlich mit Drehbüchern, die sie fürs Fernsehen schreibt. Nur Krimis. "Für Komödien bin ich viel zu tragisch veranlagt."

Ja. Tragisch. Und ernst. Und irgendwie fern. Auch wenn man sich in einem Straßencafé so gegenübersitzt. Aus einer anderen Welt. Liest keine Zeitungen. Keine Feuilletons. Nie. Und nichts könnte unwahrscheinlicher sein, als daß Terézia Mora jetzt von einem Cluburlaub in der Dominikanischen Republik erzählt. All-Inclusive. Mit Caipi am Mittag. Tut sie aber. Aber dann fügt sich doch recht schnell alles halbwegs wieder zusammen, wenn sie von der jungen, weißen Frau erzählt, die der dunkelhäutige, faschistische dominikanische Machthaber, der sich die eigene Haut mit Kalk färbte, heiraten wollte und die sich ihm verweigerte und daraufhin sie und ihre Schwestern ermordet wurden und von den vier Widerstandskämpferinnen, die sich "die Schmetterlinge" nennen, und dem Tod eines Seesterns und deutschen Cluburlaubern, denen - "unglaublich" - ein Zweihundert-Seiten-Buch viel zu dick ist.

Terézia Mora ist eine altmodische Dichterin. Eine Geschichtenentdeckerin. Erzählerin. Altbekanntes erscheint bei ihr fremd. Fremdes nah. Aber immer rätselhaft und erstaunlich. Ihr Roman, der in dieser Woche erscheint, spielt im Westen. In einer westlichen Metropole. Aber er handelt vom Osten. Von der anderen Welt. Von der Flucht und der Unmöglichkeit des Ankommens. Von der Scham des Flüchtlings. Von der Scham des Andersseins. Der Suche nach einem Selbst-Bewußtsein. Es ist die Geschichte von Abel Nema. Dem Mann auf der Flucht: "Die Sache sei simpel, sagte Abel. Der Staat, in dem er geboren worden sei und den er vor fast zehn Jahren verlassen habe, sei in der Zwischenzeit in drei bis fünf Staaten gespalten worden. Und keiner dieser drei bis fünf sei der Meinung, jemandem wie ihm eine Staatsbürgerschaft schuldig zu sein. Dasselbe gelte für seine Mutter, die nun zur Minderheit gehöre und ebenfalls keinen Paß bekomme. Er könne hier nicht weg, sie könne von dort nicht weg. Man telefoniere. Einen Vater gäbe es auch, dieser besäße sogar die Bürgerschaft eines sechsten, also unabhängigen Nachbarstaates, allerdings sei er vor nicht ganz zwanzig Jahren verschwunden und seitdem unauffindbar. Ach so, und da er selbst einer Einberufung nicht Folge geleistet habe, gelte er bis auf weiteres als Deserteur."

Das ist die Geschichte von Abel Nema, und als er sie Mercedes erzählt, beschließt sie sofort, ihn zu heiraten. "Jemand wie Mercedes kann unmöglich jemandem widerstehen, der so in der Bredouille steckt", heißt es und: "Das Zwielichtige, das Lächerliche und das Tragische. So ist es." Ja so ist es, und so ist das ganze Buch. Und voller schönster Seltsamkeiten. Am Anfang finden wir Abel Nema, wie er auf einem verwahrlosten Spielplatz kopfüber von einem Klettergerüst herunterbaumelt. Eine verwirrende Situation. Ein verwirrendes Leben. Das Seite für Seite entwirrt wird. In langen Schritten zurück durch sein Leben nach und vor der Flucht. Als er plötzlich die Erinnerung verlor. Sein ganzes Leben im Kopf verlor. Und sein Gehirn, fast leer, statt dessen Platz schuf für Sprachen. Neue Sprachen, unzählige neue Weltbenennungsmöglichkeiten: "So organisierte sich das Labyrinth in Abel Nemas bis dahin in allen Schulfächern gleichermaßen begabten und desinteressierten Verstand so lange um, was bis dahin eine Rolle gespielt hatte, das Gewusel von Erinnerung und Projektion, Vergangenheit und Zukunft, das die Gänge verstopfte und in den Zimmern lärmte, irgendwo verstaut war, in geheimen Wandschränken, und er, nun leer, bereit war zur Aufnahme einer einzigen Art von Wissen: von Sprache."

Es ist ein Roman über Sprachverlust und Spracherfindung. Moras eigene Sprache ist einmalig. Sie wägt jedes Wort und setzt es manchmal an wunderlichen Stellen ein. Sie liebt den Doppelpunkt. Unterbricht damit ihre Sätze immer wieder, stoppt den Fluß, um mit einer kleinen Satzlösung zu enden. Eine Liebesbeschreibung: "Und dann ganz überwältigt zu sein: von dieser Schönheit. Wie seine Haut strahlt, die Stirn, die Wangen, die Augenlider, die Lippen, spröde als er gekommen war, jetzt prall und feucht. Eines der schönsten Gesichter, das ich je gesehen habe."

Es wird gemordet und geliebt, wird viel geschwiegen und gehaßt. Abel Nema sieht und schweigt und spricht nur für die Wissenschaft. Die über ihn staunt. Als Wunder beklatscht. Ihm ist es gleich. Was ihn vorantreibt, ist die Liebe zu seinem besten Schulfreund. Dem er zur Abiturfeier seine Liebe gestand und der verschwunden ist. Ist die Liebe überhaupt. Die Angst vor der Armee. Vor dem Krieg. Eine Sehnsucht. Ein Vergessen-Wollen. Eine Suche.

Es ist ein kleines Welt-Buch ganz für sich.

Eine Szene, eine besonders grausame Gewaltszene in der Mitte des Buches hat sich Terézia Mora bis zum Schluß aufgehoben. Sie traute sich nicht. Sie wußte, was sie ihm antun mußte, dem Geliebten Abel Nemas. Schließlich schrieb sie es ganz zum Schluß. Am Abend ging sie auf ein Grillfest. Berichtete dem Grillenden von ihrer Qual. Der meinte nur: "So was wollen die Leute nicht lesen" und wendete das Fleisch.

Kann sein. Oder: nein. Das kann nicht sein. Die Leute wollen das lesen. Die Leute müssen das lesen. Ein Buch, das spricht. Fremd und neu. Über Mais und über das Leben.

Und mit dem Datum? Wie macht sie das? Wie geht das? Wer redet da mit mir? Ich habe sie nicht gefragt. Aber versuchen Sie es selber. Es funktioniert. Ganz sicher.

VOLKER WEIDERMANN

Terézia Mora: "Alle Tage". Roman. Luchterhand Literaturverlag 2004. 430 Seiten. 22,50 Euro.

Den Erzählungsband "Seltsame Materie" gibt es bei Rowohlt als Taschenbuch für 8,90 Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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