Die Welt ist zum Verändern da, nicht zum Ertragen.
Früher war die Zukunft besser. Heute scheint keiner zu glauben, dass es unseren Kindern mal besser gehen wird. Muss das so sein? Muss es nicht! Der Soziologe und erprobte Zukunftsarchitekt Harald Welzer entwirft uns eine gute, eine mögliche Zukunft: Darin gibt es Städte ohne Autos, Schulen ohne Gebäude, die Menschen erhalten ein Grundeinkommen, und Grenzen gibt es auch nicht mehr. Erfrischend und ermutigend zeigt Welzer: Die vielbeschworene Alternativlosigkeit ist in Wahrheit nur Phantasielosigkeit. Alles kann tatsächlich anders sein. Man braucht nur eine Vorstellung davon, wie es sein sollte. Und man muss es machen.
Früher war die Zukunft besser. Heute scheint keiner zu glauben, dass es unseren Kindern mal besser gehen wird. Muss das so sein? Muss es nicht! Der Soziologe und erprobte Zukunftsarchitekt Harald Welzer entwirft uns eine gute, eine mögliche Zukunft: Darin gibt es Städte ohne Autos, Schulen ohne Gebäude, die Menschen erhalten ein Grundeinkommen, und Grenzen gibt es auch nicht mehr. Erfrischend und ermutigend zeigt Welzer: Die vielbeschworene Alternativlosigkeit ist in Wahrheit nur Phantasielosigkeit. Alles kann tatsächlich anders sein. Man braucht nur eine Vorstellung davon, wie es sein sollte. Und man muss es machen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.04.2019Legolize it!
Harald Welzer erklärt seinen Lesern, wie die Welt besser wird und warum Spielzeugsteine dabei
helfen können. Es ist eine Art optimistisches Trostbuch – und eine Provokation für die „lieben Ökos“
VON CORD ASCHENBRENNER
Zu den Ökos zählt Harald Welzer sich selbst jedenfalls nicht. Der habilitierte Sozialpsychologe, Gründer der gemeinnützigen Stiftung Futurzwei, bescheinigt der Ökologiebewegung in seinem neuen Buch eine „erstaunlich genügsame Selbstzufriedenheit“. Die zeige sich darin, die Welt, so wie sie ist, plus ein wenig grüner Kosmetik und „Postwachstumsökonomie“ ganz gut zu finden. Die Grünen hätten nicht einmal eine eigene Ästhetik, stattdessen bevorzugten sie Bilder wie aus der Margarinereklame: „gut gelaunter kinderreicher Mittelstand auf grünen Wiesen unter Windrädern“. Das, „liebe Ökos, reicht nicht“, schreibt Welzer. Eine andere Zukunft müsse her.
Mit solchen Provokationen macht man sich nicht überall Freunde, aber das will Harald Welzer vermutlich auch nicht. Er will anecken wie einer der alten Grünen aus deren Frühzeit; sein Buch stellt die so gültigen wie offenbar unumstößlichen gesellschaftlichen Überzeugungen infrage: immerwährendes Wirtschaftswachstum, eine entsprechend weiter wachsende Mobilität für jeden zu jeder Zeit, die ständige Verfügbarkeit von Waren und Dienstleistungen.
Manches klingt dabei radikal, manches ist sarkastisch-polemisch, so wenn Welzer seiner inständigen Verachtung für Kreuzfahrten Ausdruck verleiht. Meistens kommt Welzer schön widerständig rüber, wie er selbst es vielleicht ausdrücken würde. Wohl um nicht wie der Professor für „Transformationsdesign“ (wo es um die Gestaltung von ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungsprozessen geht) zu klingen, der er auch ist, greift Harald Welzer hin und wieder in den Topf für Alltagssprache: „Scheißarbeit“, „die sicherste Gesellschaft ever“ oder auch „cooles Prinzip“.
Die gegenwärtige Realität, also die mittlerweile weltumspannende Lebens- und Wirtschaftsweise, betrachtet Welzer nur als einen „Vorschlag“, entstanden aus der kapitalistischen Weltordnung. Es könnte also auch anders sein. Diesen Vorschlag einfach in die Zukunft zu verlängern bedeute, etwas anzunehmen, was nicht mehr annehmbar ist. Oder auch, sich auf ein Experiment einzulassen, das ganz sicher scheitern wird. Es besteht darin, herauszufinden, ob man in einer endlichen Welt unendlich expandieren kann, wie es das kapitalistische Wachstumsmodell vorsieht. Oder, einfacher ausgedrückt, zu schauen, wie lange die Erde dem allgegenwärtigen Raubbau an allem noch standhält. Unsere Lebensweise sei „eine Illusion, und zwar eine gefährliche“.
Die Menschheit, schreibt Welzer, lebt in einem Wahnsystem, dem die allermeisten zustimmen, einfach, weil sie dabei sein wollen: beim Fliegen, Smartphonen und Immer-von-allem-das-Neueste-Haben, als gute Verbraucher von der Wiege bis zur Bahre. Materiell fehlt es den Bewohnern dieses Wahnsystems an nichts, mental-emotional aber sehr wohl – Welzer erkennt üble Laune, Missstimmung, Genörgel überall, womit er, betrachtet man den deutschen Teil der Menschheit, zweifellos recht hat.
Dabei gäbe es Gründe, die Gegenwart zu schätzen: der liberale Rechtsstaat, die lange Zeit ohne Krieg in Mitteleuropa, die hohe Lebenserwartung, Bildung, Gesundheit, Wohlstand – es schlägt sehr viel positiv zu Buche, was Welzer auch nicht verschweigt. Der Kapitalismus habe „ein erfolgreiches zivilisatorisches Projekt“ ermöglicht. Gleichzeitig aber basiert das ganze System eben auf dem hemmungslosen Verbrauch nicht erneuerbarer Ressourcen, was jeder wissen könnte, aber zu wenige wissen wollen.
Um den Wahn hinter sich zu lassen und das Projekt Zivilisation weiterzuentwickeln, schlägt Welzer gut sozialwissenschaftlich einen „Pfadwechsel“ vor. Keine Abschaffung des Kapitalismus, keine Ökodiktatur, stattdessen eine „modulare Revolution“, die machbar für jeden ist, der „vor dem Desaster abbiegen“ will, wie Welzer schreibt: die „kleinstmögliche Zustandsveränderung“ statt der großen Utopie, erreichbar für jeden, der guten Willens ist und bereit, nicht nur in Legislaturperioden, Konjunkturzyklen und vorgeblichen Abhängigkeiten zu denken. Im Grunde ist das eine Variation des alten Slogans „Think globally, act locally“, den sich einst die Umweltbewegung auf die Fahne geschrieben hatte.
Welzer setzt stattdessen auf das Bild unbegrenzt kombinierbarer Legosteine, mit denen sich bauen und umbauen lässt, ohne Aufwand und fantasieanregend, wie sich Ältere erinnern werden. Mit Legosteinen, wohlgemerkt nur den alten Originalsteinen, könnte „alles in jedem Augenblick auch anders sein“. Das ist die schnell erreichbare, ja simple Utopie, die Welzer vorschwebt und die sich auch ohne die etwas gewollt wirkende Lego-Metapher skizzieren ließe.
17 Legosteine braucht Welzer, um eine bessere Welt zu bauen, mit einer „gerechten Wirtschaft, die eine Kindheit ohne Entbehrungen“ (Lego 1) ermöglicht, wie Welzer Papst Franziskus zitiert, ohne die „ganz und gar depperte fossile Mobilität“ (9), mit mehr „solidarischen Vergemeinschaftungen“ (8) wie der Freiwilligen Feuerwehr oder Frauenhäusern, um Empathie, Hilfeleistung und Unterstützung einzuüben, eine menschenfreundlichere Welt, in der „Gutmensch“ kein Schimpfwort ist (12).
Dem resignativen Einwand, Veränderung im notwendigen Maß sei Einzelnen unmöglich, begegnet Welzer am Ende seines Buches gleich selbst: Man könne die Verbesserung der Welt nicht delegieren, sondern sei eben selbst gefragt. Mit Beispielen eines „neuen Realismus“ etwa aus den Bereichen Migration, Digitalisierung, Arbeit und Wirtschaft (wo Welzer vehement die Internalisierung der Herstellungskosten fordert, also die Einrechnung der sozialen und Umweltkosten etwa eines T-Shirts aus Asien).
Welzers Buch ist manchmal hochgestimmt, schließlich geht es um eine Utopie, manchmal angenehm praktisch. Es ist eine Art optimistisches Trost- und Hausbuch für jene, die wissen oder zumindest ahnen, dass die digitalisierte, hypermobile, umfassend ökonomisierte Gegenwart keine erfreuliche Zukunft bietet.
Nicht die große Utopie
propagiert der Autor,
sondern einen „Pfadwechsel“
Die Menschheit – hier symbolisiert durch Legofiguren – hat die Chance, dem Desaster noch zu entgehen, meint Harald Welzer.
Foto: GRAHAM BARCLAY / Bloomberg
Harald Welzer:
Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie
für freie Menschen.
S. Fischer Verlag,
Frankfurt am Main 2019.
319 Seiten, 22 Euro.
E-Book: 18,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Harald Welzer erklärt seinen Lesern, wie die Welt besser wird und warum Spielzeugsteine dabei
helfen können. Es ist eine Art optimistisches Trostbuch – und eine Provokation für die „lieben Ökos“
VON CORD ASCHENBRENNER
Zu den Ökos zählt Harald Welzer sich selbst jedenfalls nicht. Der habilitierte Sozialpsychologe, Gründer der gemeinnützigen Stiftung Futurzwei, bescheinigt der Ökologiebewegung in seinem neuen Buch eine „erstaunlich genügsame Selbstzufriedenheit“. Die zeige sich darin, die Welt, so wie sie ist, plus ein wenig grüner Kosmetik und „Postwachstumsökonomie“ ganz gut zu finden. Die Grünen hätten nicht einmal eine eigene Ästhetik, stattdessen bevorzugten sie Bilder wie aus der Margarinereklame: „gut gelaunter kinderreicher Mittelstand auf grünen Wiesen unter Windrädern“. Das, „liebe Ökos, reicht nicht“, schreibt Welzer. Eine andere Zukunft müsse her.
Mit solchen Provokationen macht man sich nicht überall Freunde, aber das will Harald Welzer vermutlich auch nicht. Er will anecken wie einer der alten Grünen aus deren Frühzeit; sein Buch stellt die so gültigen wie offenbar unumstößlichen gesellschaftlichen Überzeugungen infrage: immerwährendes Wirtschaftswachstum, eine entsprechend weiter wachsende Mobilität für jeden zu jeder Zeit, die ständige Verfügbarkeit von Waren und Dienstleistungen.
Manches klingt dabei radikal, manches ist sarkastisch-polemisch, so wenn Welzer seiner inständigen Verachtung für Kreuzfahrten Ausdruck verleiht. Meistens kommt Welzer schön widerständig rüber, wie er selbst es vielleicht ausdrücken würde. Wohl um nicht wie der Professor für „Transformationsdesign“ (wo es um die Gestaltung von ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungsprozessen geht) zu klingen, der er auch ist, greift Harald Welzer hin und wieder in den Topf für Alltagssprache: „Scheißarbeit“, „die sicherste Gesellschaft ever“ oder auch „cooles Prinzip“.
Die gegenwärtige Realität, also die mittlerweile weltumspannende Lebens- und Wirtschaftsweise, betrachtet Welzer nur als einen „Vorschlag“, entstanden aus der kapitalistischen Weltordnung. Es könnte also auch anders sein. Diesen Vorschlag einfach in die Zukunft zu verlängern bedeute, etwas anzunehmen, was nicht mehr annehmbar ist. Oder auch, sich auf ein Experiment einzulassen, das ganz sicher scheitern wird. Es besteht darin, herauszufinden, ob man in einer endlichen Welt unendlich expandieren kann, wie es das kapitalistische Wachstumsmodell vorsieht. Oder, einfacher ausgedrückt, zu schauen, wie lange die Erde dem allgegenwärtigen Raubbau an allem noch standhält. Unsere Lebensweise sei „eine Illusion, und zwar eine gefährliche“.
Die Menschheit, schreibt Welzer, lebt in einem Wahnsystem, dem die allermeisten zustimmen, einfach, weil sie dabei sein wollen: beim Fliegen, Smartphonen und Immer-von-allem-das-Neueste-Haben, als gute Verbraucher von der Wiege bis zur Bahre. Materiell fehlt es den Bewohnern dieses Wahnsystems an nichts, mental-emotional aber sehr wohl – Welzer erkennt üble Laune, Missstimmung, Genörgel überall, womit er, betrachtet man den deutschen Teil der Menschheit, zweifellos recht hat.
Dabei gäbe es Gründe, die Gegenwart zu schätzen: der liberale Rechtsstaat, die lange Zeit ohne Krieg in Mitteleuropa, die hohe Lebenserwartung, Bildung, Gesundheit, Wohlstand – es schlägt sehr viel positiv zu Buche, was Welzer auch nicht verschweigt. Der Kapitalismus habe „ein erfolgreiches zivilisatorisches Projekt“ ermöglicht. Gleichzeitig aber basiert das ganze System eben auf dem hemmungslosen Verbrauch nicht erneuerbarer Ressourcen, was jeder wissen könnte, aber zu wenige wissen wollen.
Um den Wahn hinter sich zu lassen und das Projekt Zivilisation weiterzuentwickeln, schlägt Welzer gut sozialwissenschaftlich einen „Pfadwechsel“ vor. Keine Abschaffung des Kapitalismus, keine Ökodiktatur, stattdessen eine „modulare Revolution“, die machbar für jeden ist, der „vor dem Desaster abbiegen“ will, wie Welzer schreibt: die „kleinstmögliche Zustandsveränderung“ statt der großen Utopie, erreichbar für jeden, der guten Willens ist und bereit, nicht nur in Legislaturperioden, Konjunkturzyklen und vorgeblichen Abhängigkeiten zu denken. Im Grunde ist das eine Variation des alten Slogans „Think globally, act locally“, den sich einst die Umweltbewegung auf die Fahne geschrieben hatte.
Welzer setzt stattdessen auf das Bild unbegrenzt kombinierbarer Legosteine, mit denen sich bauen und umbauen lässt, ohne Aufwand und fantasieanregend, wie sich Ältere erinnern werden. Mit Legosteinen, wohlgemerkt nur den alten Originalsteinen, könnte „alles in jedem Augenblick auch anders sein“. Das ist die schnell erreichbare, ja simple Utopie, die Welzer vorschwebt und die sich auch ohne die etwas gewollt wirkende Lego-Metapher skizzieren ließe.
17 Legosteine braucht Welzer, um eine bessere Welt zu bauen, mit einer „gerechten Wirtschaft, die eine Kindheit ohne Entbehrungen“ (Lego 1) ermöglicht, wie Welzer Papst Franziskus zitiert, ohne die „ganz und gar depperte fossile Mobilität“ (9), mit mehr „solidarischen Vergemeinschaftungen“ (8) wie der Freiwilligen Feuerwehr oder Frauenhäusern, um Empathie, Hilfeleistung und Unterstützung einzuüben, eine menschenfreundlichere Welt, in der „Gutmensch“ kein Schimpfwort ist (12).
Dem resignativen Einwand, Veränderung im notwendigen Maß sei Einzelnen unmöglich, begegnet Welzer am Ende seines Buches gleich selbst: Man könne die Verbesserung der Welt nicht delegieren, sondern sei eben selbst gefragt. Mit Beispielen eines „neuen Realismus“ etwa aus den Bereichen Migration, Digitalisierung, Arbeit und Wirtschaft (wo Welzer vehement die Internalisierung der Herstellungskosten fordert, also die Einrechnung der sozialen und Umweltkosten etwa eines T-Shirts aus Asien).
Welzers Buch ist manchmal hochgestimmt, schließlich geht es um eine Utopie, manchmal angenehm praktisch. Es ist eine Art optimistisches Trost- und Hausbuch für jene, die wissen oder zumindest ahnen, dass die digitalisierte, hypermobile, umfassend ökonomisierte Gegenwart keine erfreuliche Zukunft bietet.
Nicht die große Utopie
propagiert der Autor,
sondern einen „Pfadwechsel“
Die Menschheit – hier symbolisiert durch Legofiguren – hat die Chance, dem Desaster noch zu entgehen, meint Harald Welzer.
Foto: GRAHAM BARCLAY / Bloomberg
Harald Welzer:
Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie
für freie Menschen.
S. Fischer Verlag,
Frankfurt am Main 2019.
319 Seiten, 22 Euro.
E-Book: 18,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.06.2019Wer braucht denn Künstliche Intelligenz
In der Schweiz liest man ihn schon überall: Harald Welzer versteht sich auf das Metier des Weltrettungsratgebers
Etwas läuft (und läuft und läuft) falsch in diesem Land: "ein Facharbeiter in der Autoindustrie verdient heute mehr als ein Professor an der Uni". Dabei schraubt so ein Professor, lies: Sozialpsychologe, nicht einfach fahrende Untersätze zusammen, sondern komplette Utopien, verpasst also der von all den "Supersize-Burgern" ("entfremdete Bedürfnisse") verfetteten "Hyperkonsumgesellschaft", die das Träumen verlernt, professoral gesagt: "die Produktivkraft Träumen ruiniert" habe, ein sozialökologisches Upgrade, zumindest in der Theorie, dafür inklusive Nachhaltigkeit (Umweltkosten einkalkulieren; Wachstum einstellen), Gerechtigkeit (die Gewinne einer "dienenden" Wirtschaft aufteilen) und Sinnerfüllung (ehrenamtlich tätig werden statt abhängen in Freizeitparks, auf Weihnachtsmärkten oder - Gipfel der Enthirnung - Kreuzfahrten).
Auch der Gassenhauer vom bedingungslosen Grundeinkommen wird wieder angestimmt, ohne ihm freilich Originelles beizusteuern: In Sachen Finanzierbarkeit muss eine Bezugnahme auf Richard David Precht ausreichen. Arbeit werde ohnehin allgemein überbewertet, erfahren wir, zumal heute Maschinen die "schlechte Arbeit" respektive "Scheißarbeit" übernehmen könnten. Sie müssten dann eben nur so besteuert werden, dass der erwirtschaftete Mehrwert nicht Kapitalisten zu Wanste schlage, sondern der Allgemeinheit. Wer in Vorleistung treten soll, um die Maschinen anzuschaffen und ihren Betrieb zu finanzieren (oder sie überhaupt zu konstruieren), wird nicht vorgerechnet, was ein wenig schwach ist, wenn sich eine Träumerei explizit als "neuer Realismus" ausgibt.
Warum der Facharbeiter bei Daimler oder BMW als überbezahlt gilt, ist freilich leicht zu klären, denn in der hier erträumten Zukunft "für freie Menschen" gibt es "weder Autos noch Autostraßen noch Ampelanlagen noch Zebrastreifen noch Parkplätze". Zumindest für die nach antikem Polis-Modell wieder "analog" gewordenen Städte gilt das; auf dem Land darf es durchaus einmal angehen, dass ein selbstfahrendes Monstrum "die Oma zum Einkaufen abholt oder zum Arzt fährt" (fällt wohl unter "Scheißarbeit"). Wer nun einwenden möchte, dass schon heutige Stadtbewohner oft mit dem Thema "keine Parkplätze" konfrontiert seien, hat den Ernst der Angelegenheit nicht erfasst, denn Welzer spricht mit dem heiligen Eifer und der Humorfreiheit des Propheten-Prediger-Revoluzzer-Pädagogen.
Und natürlich hat der Autor - wie in all seinen vorangegangenen Wälzern - analytisch in fast allem recht, so sehr, dass es beinahe schon nervt. Daher die Freude über kleine Widersprüche. Als Philippika gegen dreisten Neoliberalismus, zumal in seiner neusten Spielart "Plattform-Kapitalismus", ist das Buch jedenfalls ein Vergnügen: Wie Jeff Bezos oder Elon Musk abgewatscht werden, wie es dem verbreiteten "Konsumismus" und "Bequemismus" an den Kragen geht, wie "Bullshit-Jobs", politische Phantasielosigkeit (Tafelsilber verhökern), stumpfe Xenophobie, linke Gender- und rechte Identitätspolitik rhetorisch niedergewalzt werden, das hat Zug und Feuer.
Sympathisch ist auch der Ansatz des positiven Denkens: Wir sollen uns von immer bedrohlicheren Untergangsszenarien, so begründet sie sein mögen, nicht in depressive Apathie versetzen lassen, sondern in Ansehung all der positiven Entwicklungen, die es eben auch gibt, den Glauben daran erhalten, viele Fehler noch korrigieren zu können. Kunst als Geburtshelfer von Utopien zu begreifen ist keine ganz neue Idee, aber hier wird nicht dem alten Schiller Aufwartung gemacht, sondern postdramatischen Kollektiven wie "Rimini Protokoll" oder dem "Zentrum für politische Schönheit".
Anregendes steckt auch in Welzers praktischen Visionen, sosehr sie als "modulare Revolution" und "Weiterbauen am zivilisatorischen Projekt" leicht peinlich überverkauft wirken: Systematik ist in dem "Baukasten" nämlich nicht zu erkennen. Eine Kultur der Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft tut aber sicher ebenso not wie kostenloser Nahverkehr. Auch mehr Gemeinwohlökonomie schadet selten. Zudem kann der Autor auf die eigene Stiftung Futurzwei verweisen, die lebensnahe "Geschichten des Gelingens" sammelt. Als Modell für eine hierarchiefreie Gesellschaft nun ausgerechnet die Schweiz heranzuziehen, darf man als Privatmarotte verstehen: "In der Verwaltung der Uni, an der ich in der Schweiz lehre, kennen Leute aus der Verwaltung Bücher von mir." Damit bewiesen sei ein höheres "Zivilisierungsniveau". Ob eine Welt ganz ohne Grenzen sich allerdings so leicht einrichten ließe, wie der Autor annimmt, der bei freier Arbeitsmigration Staatsbürgerrechte durchaus den je "eigenen" Bürgern vorbehalten möchte und sich damit gehörige Probleme aufhalsen dürfte, das bleibe dahingestellt - ein schöner Wunsch, angesichts härter werdender Grenzregime, auch das.
Welzer gehört eben zu den Guten, sei es im Einsatz für Seenotrettung, die wohl nur Unmenschen ablehnen können, sei es bei der Betonung von globaler Verantwortung (Reichtum soll sich weltweit gerechter verteilen), dem (eher beiläufigen) Einfordern von Klimaschutz oder dem Plädoyer für mehr lokales Engagement. Freilich unterscheidet sich das Buch in dieser Hinsicht nur wenig von anderen Weltverbesserer-Manifesten. Was ihm dann aber doch einen eigenen, problematischen Charakter verleiht, ist der Umstand, dass sich der Autor von "Die smarte Diktatur" (2016) erneut an seinem Lieblingsfeindthema abarbeitet, der Digitalisierung, die als Inbegriff alles Schlechten, Hässlichen, Unwahren allenfalls zur Steuerung dienender Roboter akzeptiert wird. Wo aber Berechnung wertvollen Kontingenzerfahrungen den Garaus mache, entstehe "eine komplett ereignislose Welt". Und das ohne jeden Grund: "Wenn Stadt soziale Intelligenz ist, was sollen wir dann mit künstlicher?"
Man merkt überhaupt nach und nach, dass Welzers zukünftige Welt des aufgeklärten Kapitalismus stark der vergangenen ähnelt. Sich digital natives einmal nicht anzubiedern, tut durchaus wohl, aber wenn das digitale Neuland von weit außen pauschal und rentnerhaft verworfen wird - "Wie lange würden Menschen überleben, die nur Daten zu essen und zu trinken hätten? Eben" - dann tappt man in die AKK-Falle. Vermutlich würde nicht nur die Rezo-Fraktion, sondern selbst die neugrüne "Fridays for Future"-Jugend auf paternalistische Ideen wie "Systemabschaltungen" oder "Netzfreizeit" - "Die Leute müssen den Kopf wieder freikriegen, dann lernen sie auch wieder, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden" - verschnupft reagieren. Unbestritten aber dürfte Welzers wichtige Aufforderung sein, mit einem nachhaltigeren Lebensstil noch heute dort zu beginnen, wo es schon möglich ist, anstatt die nötige Weltrettung immer weiter aufzuschieben - nicht zuletzt durch die Lektüre oder das Verfassen von immer weiteren Weltrettungsratgebern.
OLIVER JUNGEN
Harald Welzer: "Alles könnte anders sein". Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019. 320 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In der Schweiz liest man ihn schon überall: Harald Welzer versteht sich auf das Metier des Weltrettungsratgebers
Etwas läuft (und läuft und läuft) falsch in diesem Land: "ein Facharbeiter in der Autoindustrie verdient heute mehr als ein Professor an der Uni". Dabei schraubt so ein Professor, lies: Sozialpsychologe, nicht einfach fahrende Untersätze zusammen, sondern komplette Utopien, verpasst also der von all den "Supersize-Burgern" ("entfremdete Bedürfnisse") verfetteten "Hyperkonsumgesellschaft", die das Träumen verlernt, professoral gesagt: "die Produktivkraft Träumen ruiniert" habe, ein sozialökologisches Upgrade, zumindest in der Theorie, dafür inklusive Nachhaltigkeit (Umweltkosten einkalkulieren; Wachstum einstellen), Gerechtigkeit (die Gewinne einer "dienenden" Wirtschaft aufteilen) und Sinnerfüllung (ehrenamtlich tätig werden statt abhängen in Freizeitparks, auf Weihnachtsmärkten oder - Gipfel der Enthirnung - Kreuzfahrten).
Auch der Gassenhauer vom bedingungslosen Grundeinkommen wird wieder angestimmt, ohne ihm freilich Originelles beizusteuern: In Sachen Finanzierbarkeit muss eine Bezugnahme auf Richard David Precht ausreichen. Arbeit werde ohnehin allgemein überbewertet, erfahren wir, zumal heute Maschinen die "schlechte Arbeit" respektive "Scheißarbeit" übernehmen könnten. Sie müssten dann eben nur so besteuert werden, dass der erwirtschaftete Mehrwert nicht Kapitalisten zu Wanste schlage, sondern der Allgemeinheit. Wer in Vorleistung treten soll, um die Maschinen anzuschaffen und ihren Betrieb zu finanzieren (oder sie überhaupt zu konstruieren), wird nicht vorgerechnet, was ein wenig schwach ist, wenn sich eine Träumerei explizit als "neuer Realismus" ausgibt.
Warum der Facharbeiter bei Daimler oder BMW als überbezahlt gilt, ist freilich leicht zu klären, denn in der hier erträumten Zukunft "für freie Menschen" gibt es "weder Autos noch Autostraßen noch Ampelanlagen noch Zebrastreifen noch Parkplätze". Zumindest für die nach antikem Polis-Modell wieder "analog" gewordenen Städte gilt das; auf dem Land darf es durchaus einmal angehen, dass ein selbstfahrendes Monstrum "die Oma zum Einkaufen abholt oder zum Arzt fährt" (fällt wohl unter "Scheißarbeit"). Wer nun einwenden möchte, dass schon heutige Stadtbewohner oft mit dem Thema "keine Parkplätze" konfrontiert seien, hat den Ernst der Angelegenheit nicht erfasst, denn Welzer spricht mit dem heiligen Eifer und der Humorfreiheit des Propheten-Prediger-Revoluzzer-Pädagogen.
Und natürlich hat der Autor - wie in all seinen vorangegangenen Wälzern - analytisch in fast allem recht, so sehr, dass es beinahe schon nervt. Daher die Freude über kleine Widersprüche. Als Philippika gegen dreisten Neoliberalismus, zumal in seiner neusten Spielart "Plattform-Kapitalismus", ist das Buch jedenfalls ein Vergnügen: Wie Jeff Bezos oder Elon Musk abgewatscht werden, wie es dem verbreiteten "Konsumismus" und "Bequemismus" an den Kragen geht, wie "Bullshit-Jobs", politische Phantasielosigkeit (Tafelsilber verhökern), stumpfe Xenophobie, linke Gender- und rechte Identitätspolitik rhetorisch niedergewalzt werden, das hat Zug und Feuer.
Sympathisch ist auch der Ansatz des positiven Denkens: Wir sollen uns von immer bedrohlicheren Untergangsszenarien, so begründet sie sein mögen, nicht in depressive Apathie versetzen lassen, sondern in Ansehung all der positiven Entwicklungen, die es eben auch gibt, den Glauben daran erhalten, viele Fehler noch korrigieren zu können. Kunst als Geburtshelfer von Utopien zu begreifen ist keine ganz neue Idee, aber hier wird nicht dem alten Schiller Aufwartung gemacht, sondern postdramatischen Kollektiven wie "Rimini Protokoll" oder dem "Zentrum für politische Schönheit".
Anregendes steckt auch in Welzers praktischen Visionen, sosehr sie als "modulare Revolution" und "Weiterbauen am zivilisatorischen Projekt" leicht peinlich überverkauft wirken: Systematik ist in dem "Baukasten" nämlich nicht zu erkennen. Eine Kultur der Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft tut aber sicher ebenso not wie kostenloser Nahverkehr. Auch mehr Gemeinwohlökonomie schadet selten. Zudem kann der Autor auf die eigene Stiftung Futurzwei verweisen, die lebensnahe "Geschichten des Gelingens" sammelt. Als Modell für eine hierarchiefreie Gesellschaft nun ausgerechnet die Schweiz heranzuziehen, darf man als Privatmarotte verstehen: "In der Verwaltung der Uni, an der ich in der Schweiz lehre, kennen Leute aus der Verwaltung Bücher von mir." Damit bewiesen sei ein höheres "Zivilisierungsniveau". Ob eine Welt ganz ohne Grenzen sich allerdings so leicht einrichten ließe, wie der Autor annimmt, der bei freier Arbeitsmigration Staatsbürgerrechte durchaus den je "eigenen" Bürgern vorbehalten möchte und sich damit gehörige Probleme aufhalsen dürfte, das bleibe dahingestellt - ein schöner Wunsch, angesichts härter werdender Grenzregime, auch das.
Welzer gehört eben zu den Guten, sei es im Einsatz für Seenotrettung, die wohl nur Unmenschen ablehnen können, sei es bei der Betonung von globaler Verantwortung (Reichtum soll sich weltweit gerechter verteilen), dem (eher beiläufigen) Einfordern von Klimaschutz oder dem Plädoyer für mehr lokales Engagement. Freilich unterscheidet sich das Buch in dieser Hinsicht nur wenig von anderen Weltverbesserer-Manifesten. Was ihm dann aber doch einen eigenen, problematischen Charakter verleiht, ist der Umstand, dass sich der Autor von "Die smarte Diktatur" (2016) erneut an seinem Lieblingsfeindthema abarbeitet, der Digitalisierung, die als Inbegriff alles Schlechten, Hässlichen, Unwahren allenfalls zur Steuerung dienender Roboter akzeptiert wird. Wo aber Berechnung wertvollen Kontingenzerfahrungen den Garaus mache, entstehe "eine komplett ereignislose Welt". Und das ohne jeden Grund: "Wenn Stadt soziale Intelligenz ist, was sollen wir dann mit künstlicher?"
Man merkt überhaupt nach und nach, dass Welzers zukünftige Welt des aufgeklärten Kapitalismus stark der vergangenen ähnelt. Sich digital natives einmal nicht anzubiedern, tut durchaus wohl, aber wenn das digitale Neuland von weit außen pauschal und rentnerhaft verworfen wird - "Wie lange würden Menschen überleben, die nur Daten zu essen und zu trinken hätten? Eben" - dann tappt man in die AKK-Falle. Vermutlich würde nicht nur die Rezo-Fraktion, sondern selbst die neugrüne "Fridays for Future"-Jugend auf paternalistische Ideen wie "Systemabschaltungen" oder "Netzfreizeit" - "Die Leute müssen den Kopf wieder freikriegen, dann lernen sie auch wieder, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden" - verschnupft reagieren. Unbestritten aber dürfte Welzers wichtige Aufforderung sein, mit einem nachhaltigeren Lebensstil noch heute dort zu beginnen, wo es schon möglich ist, anstatt die nötige Weltrettung immer weiter aufzuschieben - nicht zuletzt durch die Lektüre oder das Verfassen von immer weiteren Weltrettungsratgebern.
OLIVER JUNGEN
Harald Welzer: "Alles könnte anders sein". Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019. 320 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das definitive Buch gegen schlechte Laune und Verdruss an der Gegenwart! In diesem Frühjahr wird nicht geputzt, da wird die Welt verbessert! Der Spiegel 20190309