«Zu Fuß?» «Zu Fuß.» «Allein?» «Allein.» Christiane Hoffmanns Vater floh Anfang 1945 aus Schlesien. 75 Jahre später geht die Tochter denselben Weg, 550 Kilometer nach Westen. Sie kämpft sich durch Hagelstürme und sumpfige Wälder. Sie sitzt in Kirchen, Küchen und guten Stuben. Sie führt Gespräche - mit anderen Menschen und mit sich selbst. Sie sucht nach der Geschichte und ihren Narben. Ein sehr persönliches, literarisches Buch über Flucht und Heimat, über die Schrecken des Krieges und über das, was wir verdrängen, um zu überleben. Die renommierte Schauspielerin Martina Gedeck hat es auf eindrucksvolle Weise eingelesen.
(1 mp3-CD. Laufzeit: 08 Std. 20 Min.)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.03.2022Das Schweigen der Familie gebiert Albträume
Christiane Hoffmann begibt sich auf eine lange Wanderung, um Geister der Vergangenheit zu bannen
Im Amerikanischen heißt es, man könne zwar einen Menschen aus seiner angestammten Gegend entfernen, nicht aber jene Gegend aus dem betreffenden Menschen. Die Familienmemoiren der langjährigen Auslandskorrespondentin - und seit Januar 2021 stellvertretenden Regierungssprecherin - Christiane Hoffmann beweisen, dass dieser Grundsatz Geltung auch über Generationen hinweg hat. Psychologen sprechen von telescoping: Wie die Tuben eines Fernrohrs oder Mikroskops bewegen sich die Erinnerungen von Eltern und Kindern ineinander. Und seltsamerweise beeinflussen die Traumata der Vorfahren Nachgeborene umso intensiver, je weniger sie familiär besprochen werden. Genau wie mit einem Fernrohr oder einem Mikroskop sieht man mit der transgenerationalen Erinnerung das psychologisch Nahe und das historisch Ferne schärfer, auch dramatischer. Das Schweigen der Familie gebiert Albträume. Aus winzigen Andeutungen, Symptomen und Tics der Eltern bilden sich Ahnungen. Aber auch der Wunsch, zu verstehen, entsteht, das Verlangen nach einer Art Kompensation. Die Geister der Vergangenheit sollen im eigenen Seelenleben zur Ruhe kommen.
Christiane Hoffmann ist die Tochter von Eltern und Enkelin von Großeltern, die durch den Zweiten Weltkrieg und durch die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus Schlesien - nach den Beschlüssen der Alliierten in Teheran, Jalta und Potsdam - auf vielfältige Weise traumatisiert wurden. Sie ist in Hamburg geboren und in Wedel aufgewachsen. Aber aufgrund der "spukhaften Fernwirkung" historischer Verletzungserfahrungen ist sie in gewisser Weise trotzdem ein Kriegskind. Man könnte sie als eine Kriegsenkelin bezeichnen.
Ihr Buch beschreibt eindringlich, wie das telescoping in ihrer kindlichen Psyche funktioniert hat. "Auch in meiner Kindheit wird ein dunkler sumpfiger Grund liegen, wie ein Moor, in dem man leicht versinken kann, man muss sehr gut achtgeben, auf den ausgeschilderten Wegen zu bleiben, immer vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause zu sein und nicht zu tief ins Schwarze zu schauen, es kann einen hinabziehen. Das ist die Gewissheit, dass man von heute auf morgen, von einer Stunde zur nächsten, von sechzehn auf siebzehn Uhr alles verlieren kann, Haus und Hof, Söhne, Brüder und Eltern, Heimat und sogar die Erinnerung." Die heute erfolgreiche und resiliente Erwachsene war ein ängstliches Kind. Und als ihr geliebter Vater 2018 stirbt, fasst sie den Entschluss zu der inneren und äußeren Reise, deren Logbuch jetzt vorliegt.
Nachdem sie das schlesische Dorf, aus dem ihre Familie stammt - Rosenthal/Rozyna in der polnischen Woiwodschaft Opole -, schon als Kind mit ihren Eltern mehrmals besucht hat, bricht sie im Januar 2020 zu dem Abenteuer auf, den Fußweg, den ihre Eltern, ihr Onkel und ihre Großmutter 1945 hinter sich brachten, noch einmal abzuwandern. Der Vertriebenenzug verließ 1945 das Reichsgebiet nicht. Heute führt die Strecke durch drei Staaten, aus der Gegend um die ehemals herzogliche Residenzstadt Brieg (heute polnisch: Brzeg) über die Oder und die deutsch-polnische Grenze, durch Zittau und dann das tschechische Nordsudetenland entlang bis in die Gegend zwischen Eger und Plauen, wo die bundesrepublikanische Nachkriegsgeschichte der Familie beginnen wird.
Christiane Hoffmanns Bericht von ihrer Fußreise ist eine Art Brief an den toten Vater. Als Adressat - und zeitweilig sogar als eine jener nur aus dem Augenwinkel beobachtbaren Halluzinationen, wie sie auf einsamen Wanderungen entstehen können - ist er in ihrem Buch durchgehend anwesend. Die Tochter sieht als Erwachsene jetzt ins Dunkel ihrer Kinderangst hinab. Aber es verschlingt sie nicht mehr. Das schwarze Loch Geschichte gibt sein Geheimnis, ansatzweise, jetzt sogar frei.
Worin besteht es? Einerseits darin, dass Hoffmann die Albträume und Ahnungen ihrer Kindheit verstehend in die eigene Leiblichkeit zurückholt. Im langen Gehen verbindet sie ihre zunehmende Entkräftung, ihre schmerzenden Gliedmaßen, ihre Wanderstumpfheit, Verwirrung und Angst mit dem Wenigen, was sie über den Treck ihrer Familie weiß. "Ich bin zufrieden damit, Eure Erschöpfung zu fühlen, gleichgültig und leer zu werden, heimatlos wie ihr, auch wenn es nur für einige Wochen ist." Das ist die Innenseite ihres Unternehmens, und sie schildert es in großer Authentizität. Nur in Passagen, wo sie sich allzu sehr um literarische Hochmodulation ihrer Erfahrung bemüht, gleitet ihr Bewusstseinsstrom gelegentlich in Kunsthandwerk ab, und es entstehen Sätze wie "Das wintergelbe Gras drückt sich in den Straßengraben wie eine Schar verängstigter Küken".
Vor allem die ausführlich und gekonnt wiedergegebenen Gespräche mit polnischen, tschechischen und deutschen Menschen, denen sie auf ihrem Weg begegnet, zeigen "Europa, so wie es wirklich ist". Das wirkliche Mitteleuropa besteht erstens aus dem beeindruckenden Aufbau- und Überlebenswillen der ehemaligen kommunistischen Untertanen und zweitens aus dem überraschend empathischen Verständnis vor allem der Neubürger von Schlesien/Slask für das Schicksal der deutschen Vertriebenen. Diese Einfühlungsfähigkeit überrascht weniger, wenn man bedenkt, dass die meisten Westpolen aus der heutigen Ukraine stammen und ihre Eltern ganz analoge Erfahrungen hinter sich haben.
Hoffmann begegnet auf ihrem Weg viel gutem Willen, überraschender Originalität und beeindruckendem Einfallsreichtum. Aber daneben auch viel politischer Verbohrtheit, Verschwörungsquatsch, PiS-Verhetztheit, auch Antisemitismus - oft in ein und derselben Person. Ihre Vaterbindung ermöglicht ihr auffällig eindrückliche Porträts von älteren, durch die Geschichte zerstörten Männern, das Beispiel der Mutter wiederum hat Hoffmanns Blick für die ebenso auffällige Realitätstüchtigkeit und Tatkraft vieler der polnischen und tschechischen Frauen geschärft, die sie wandernd und einkehrend kennenlernt.
Der Ausgang ihres Buchs ist offen, bis hin zu einem gewissen erzähltechnischen Zerflattern. Eine psychologische Schließung des transgenerationalen Traumas kann literarische Bearbeitung nicht leisten. Unterdessen und nachdem das Buch schon erschienen war, fügte sich dieser familienhistorischen Wanderungserzählung durch den Krieg in der Ukraine ein haarsträubender Schlusspunkt in der Realgeschichte an. Auf tieftraurige Weise ist es mit der neuerlichen europäischen Fluchtkatastrophe ein Buch zum historischen Moment geworden. STEPHAN WACKWITZ
Christiane Hoffmann: "Alles, was wir nicht erinnern". Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters.
C. H. Beck Verlag, München 2022. 279 S., Abb., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Christiane Hoffmann begibt sich auf eine lange Wanderung, um Geister der Vergangenheit zu bannen
Im Amerikanischen heißt es, man könne zwar einen Menschen aus seiner angestammten Gegend entfernen, nicht aber jene Gegend aus dem betreffenden Menschen. Die Familienmemoiren der langjährigen Auslandskorrespondentin - und seit Januar 2021 stellvertretenden Regierungssprecherin - Christiane Hoffmann beweisen, dass dieser Grundsatz Geltung auch über Generationen hinweg hat. Psychologen sprechen von telescoping: Wie die Tuben eines Fernrohrs oder Mikroskops bewegen sich die Erinnerungen von Eltern und Kindern ineinander. Und seltsamerweise beeinflussen die Traumata der Vorfahren Nachgeborene umso intensiver, je weniger sie familiär besprochen werden. Genau wie mit einem Fernrohr oder einem Mikroskop sieht man mit der transgenerationalen Erinnerung das psychologisch Nahe und das historisch Ferne schärfer, auch dramatischer. Das Schweigen der Familie gebiert Albträume. Aus winzigen Andeutungen, Symptomen und Tics der Eltern bilden sich Ahnungen. Aber auch der Wunsch, zu verstehen, entsteht, das Verlangen nach einer Art Kompensation. Die Geister der Vergangenheit sollen im eigenen Seelenleben zur Ruhe kommen.
Christiane Hoffmann ist die Tochter von Eltern und Enkelin von Großeltern, die durch den Zweiten Weltkrieg und durch die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus Schlesien - nach den Beschlüssen der Alliierten in Teheran, Jalta und Potsdam - auf vielfältige Weise traumatisiert wurden. Sie ist in Hamburg geboren und in Wedel aufgewachsen. Aber aufgrund der "spukhaften Fernwirkung" historischer Verletzungserfahrungen ist sie in gewisser Weise trotzdem ein Kriegskind. Man könnte sie als eine Kriegsenkelin bezeichnen.
Ihr Buch beschreibt eindringlich, wie das telescoping in ihrer kindlichen Psyche funktioniert hat. "Auch in meiner Kindheit wird ein dunkler sumpfiger Grund liegen, wie ein Moor, in dem man leicht versinken kann, man muss sehr gut achtgeben, auf den ausgeschilderten Wegen zu bleiben, immer vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause zu sein und nicht zu tief ins Schwarze zu schauen, es kann einen hinabziehen. Das ist die Gewissheit, dass man von heute auf morgen, von einer Stunde zur nächsten, von sechzehn auf siebzehn Uhr alles verlieren kann, Haus und Hof, Söhne, Brüder und Eltern, Heimat und sogar die Erinnerung." Die heute erfolgreiche und resiliente Erwachsene war ein ängstliches Kind. Und als ihr geliebter Vater 2018 stirbt, fasst sie den Entschluss zu der inneren und äußeren Reise, deren Logbuch jetzt vorliegt.
Nachdem sie das schlesische Dorf, aus dem ihre Familie stammt - Rosenthal/Rozyna in der polnischen Woiwodschaft Opole -, schon als Kind mit ihren Eltern mehrmals besucht hat, bricht sie im Januar 2020 zu dem Abenteuer auf, den Fußweg, den ihre Eltern, ihr Onkel und ihre Großmutter 1945 hinter sich brachten, noch einmal abzuwandern. Der Vertriebenenzug verließ 1945 das Reichsgebiet nicht. Heute führt die Strecke durch drei Staaten, aus der Gegend um die ehemals herzogliche Residenzstadt Brieg (heute polnisch: Brzeg) über die Oder und die deutsch-polnische Grenze, durch Zittau und dann das tschechische Nordsudetenland entlang bis in die Gegend zwischen Eger und Plauen, wo die bundesrepublikanische Nachkriegsgeschichte der Familie beginnen wird.
Christiane Hoffmanns Bericht von ihrer Fußreise ist eine Art Brief an den toten Vater. Als Adressat - und zeitweilig sogar als eine jener nur aus dem Augenwinkel beobachtbaren Halluzinationen, wie sie auf einsamen Wanderungen entstehen können - ist er in ihrem Buch durchgehend anwesend. Die Tochter sieht als Erwachsene jetzt ins Dunkel ihrer Kinderangst hinab. Aber es verschlingt sie nicht mehr. Das schwarze Loch Geschichte gibt sein Geheimnis, ansatzweise, jetzt sogar frei.
Worin besteht es? Einerseits darin, dass Hoffmann die Albträume und Ahnungen ihrer Kindheit verstehend in die eigene Leiblichkeit zurückholt. Im langen Gehen verbindet sie ihre zunehmende Entkräftung, ihre schmerzenden Gliedmaßen, ihre Wanderstumpfheit, Verwirrung und Angst mit dem Wenigen, was sie über den Treck ihrer Familie weiß. "Ich bin zufrieden damit, Eure Erschöpfung zu fühlen, gleichgültig und leer zu werden, heimatlos wie ihr, auch wenn es nur für einige Wochen ist." Das ist die Innenseite ihres Unternehmens, und sie schildert es in großer Authentizität. Nur in Passagen, wo sie sich allzu sehr um literarische Hochmodulation ihrer Erfahrung bemüht, gleitet ihr Bewusstseinsstrom gelegentlich in Kunsthandwerk ab, und es entstehen Sätze wie "Das wintergelbe Gras drückt sich in den Straßengraben wie eine Schar verängstigter Küken".
Vor allem die ausführlich und gekonnt wiedergegebenen Gespräche mit polnischen, tschechischen und deutschen Menschen, denen sie auf ihrem Weg begegnet, zeigen "Europa, so wie es wirklich ist". Das wirkliche Mitteleuropa besteht erstens aus dem beeindruckenden Aufbau- und Überlebenswillen der ehemaligen kommunistischen Untertanen und zweitens aus dem überraschend empathischen Verständnis vor allem der Neubürger von Schlesien/Slask für das Schicksal der deutschen Vertriebenen. Diese Einfühlungsfähigkeit überrascht weniger, wenn man bedenkt, dass die meisten Westpolen aus der heutigen Ukraine stammen und ihre Eltern ganz analoge Erfahrungen hinter sich haben.
Hoffmann begegnet auf ihrem Weg viel gutem Willen, überraschender Originalität und beeindruckendem Einfallsreichtum. Aber daneben auch viel politischer Verbohrtheit, Verschwörungsquatsch, PiS-Verhetztheit, auch Antisemitismus - oft in ein und derselben Person. Ihre Vaterbindung ermöglicht ihr auffällig eindrückliche Porträts von älteren, durch die Geschichte zerstörten Männern, das Beispiel der Mutter wiederum hat Hoffmanns Blick für die ebenso auffällige Realitätstüchtigkeit und Tatkraft vieler der polnischen und tschechischen Frauen geschärft, die sie wandernd und einkehrend kennenlernt.
Der Ausgang ihres Buchs ist offen, bis hin zu einem gewissen erzähltechnischen Zerflattern. Eine psychologische Schließung des transgenerationalen Traumas kann literarische Bearbeitung nicht leisten. Unterdessen und nachdem das Buch schon erschienen war, fügte sich dieser familienhistorischen Wanderungserzählung durch den Krieg in der Ukraine ein haarsträubender Schlusspunkt in der Realgeschichte an. Auf tieftraurige Weise ist es mit der neuerlichen europäischen Fluchtkatastrophe ein Buch zum historischen Moment geworden. STEPHAN WACKWITZ
Christiane Hoffmann: "Alles, was wir nicht erinnern". Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters.
C. H. Beck Verlag, München 2022. 279 S., Abb., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.05.2022Fröhliche Vernachlässigung
Christiane Hoffmann hat auf den Spuren der Flucht ihres Vaters
eine therapeutische Wanderung von Ost nach West unternommen
VON KURT KISTER
Ich beginne diesen Text mit dem wichtigsten Wort des Buches von Christiane Hoffmann: ich. Das zweitwichtigste Wort ist du, und mit du meint Hoffmann ihren Vater, der 2018 gestorben ist. Sein Tod war für die Autorin der letzte Anlass, eine lange Wanderung durch das heutige Polen und Tschechien zu machen. Zu Fuß und allein, wie man im Laufe des Buches immer wieder gesagt bekommt, weil so viele Menschen, denen Hoffmann unterwegs begegnet, danach fragen. Sie läuft genau den Weg, den ihr Vater als Neunjähriger im Winter 1945 zurücklegen musste; mit seiner Mutter war er Teil eines Flüchtlingstrecks aus dem Heimatdorf Rosenthal in Schlesien, heute das polnische Różyna. Die Deutschen flohen vor den russischen Truppen; ihre Flucht endete nach sechs Wochen und 550 Kilometern in Klinghart im Sudetenland, heute Křižovatka in Tschechien, nahe der Grenze zu Sachsen.
Ein Geschichtsbuch ist das nicht; nicht einmal eines jener autohistorischen Wanderbücher, in denen mehr oder weniger empfindsame Menschen die ehemalige Grenze zur DDR, die Reichsstraße 1 von Aachen nach Königsberg oder den Weg der napoleonischen Truppen nach Moskau zurücklegen und dabei Geschichte und Geschichten nacherzählen. Hoffmanns Buch ist eigentlich eine Selbsttherapie; es wechselt formal zwischen einem Monolog einer in sich hineinhorchenden, allmählich älter werdenden Tochter, der sich an den toten Vater richtet, und der subjektiven Reportage einer genau beobachtenden Reporterin, die vor allem durch die Wiedergabe von Gelegenheitsgesprächen Atmosphärisches heraufbeschwört, das hin und wieder große Geschichte erklärt.
Hoffmann war lange Zeit eine sehr respektierte Reporterin und Korrespondentin bei der FAZ, später beim Spiegel. Vor ein paar Monaten wechselte sie als stellvertretende Regierungssprecherin, nominiert von den Grünen, die Seiten. Früher stellte sie die Fragen und schrieb über die Antworten und deren Umstände. Heute ist sie eine Verballobbyistin der Ampelregierung und gibt Antworten auf die Fragen anderer. Identitäten können sich ändern.
Die Unsicherheit über die eigene Identität, die Suche nach Heimat keineswegs nur im geografischen Sinne, das Abtasten von Gefühlen und familiären Prägungen – dies alles ist für Hoffmanns therapeutische Wanderung von Ost nach West bedeutend. Sie wurde 1967 geboren und gehört damit gerade noch der ersten Generation der Nachkriegskinder an.
Sie hat, wie viele aus dieser Generation, die Erfahrung gemacht, dass Eltern, Großeltern und andere sogenannte Zeitzeugen sehr oft nicht das erzählen konnten oder wollten, was den Kindern geholfen hätte, sich und die Älteren zu verstehen.
Die besten Passagen dieses Buches widmen sich der eskapistischen Sprachlosigkeit, dem hin und wieder hilflosen Bemühen, aber auch der fröhlichen Vernachlässigung, die es in Deutschland, in Polen, in Tschechien gab und gibt, wenn von „damals“ die Rede ist oder sein sollte. Selbst ihr Vater, der zu verstehen schien, wonach seine Tochter suchte, bot nur begrenzte Hilfe. Andererseits, auch das wird in dem Bekenntnisbuch deutlich, ist Christiane Hoffmann eine im guten Sinne des Wortes penetrante Suchende, auch weil sie offenbar mit dem Zweifeln sehr vertraut ist.
Die erfahrene, eloquente Reporterin tritt immer dann zutage, wenn es um Kriegs- und Nachkriegsgeschichte geht und darum, wie sich das große Unheil in Dörfern, Familien, einzelnen Menschen niedergeschlagen hat. Hoffmann kann als ehemalige Iran- und Russlandkorrespondentin auch seriöse Völkerpsychologie, die sich zumeist in den Wahrnehmungen einzelner Menschen widerspiegelt –wie waren die Russen, was denken die Polen über die Deutschen, wie fühlen sich die Deutschen, die lange nach Flucht und Vertreibung mit dem Reisebus für ein paar Tage zurückkamen?
Immer wieder spürt man eine gewisse Grundskepsis der Autorin über die Macht der Vernunft angesichts von Nationalismus, Schulddebatten oder auch nur fahrlässigem Desinteresse. Durch den russischen Angriff auf die Ukraine, der zum Zeitpunkt des Abschlusses des Buches noch in der Zukunft lag, wird manches an Hoffmanns Analyse, aber auch manches an ihren Gefühlen bestärkt und bestätigt.
Selbst für Menschen, die solche Ich-Bücher respektive Autotherapien in Buchform nicht goutieren, könnte Hoffmanns Buch einen Versuch wert sein. Es ist nämlich auch ein Sachbuch – ein Sachbuch in dem Sinne, dass es sich mit Flucht und Zwangsmigration, mit dem immer noch nicht leichten Verhältnis Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarn und mit dem Umgang der Deutschen mit ihrer Geschichte beschäftigt.
Nur über gelegentliche groblyrische Sprachbilder muss man hinweglesen – ein zweibeiniges Ortschild, das der Autorin „zunickt“; ihre Vorliebe für Metaphern mit Riesen; die wiederholte Beschreibung, ein älterer Mensch sitze da, als sei er „gestern gestorben“.
Für jene anderen aber, die sich von solchen Büchern gerne „berühren“ lassen, die mit der Autorin fühlen und auch ihre Wanderschmerzen nacherleben, ist Christiane Hoffmanns Seelen-Sachbuch nahezu großartig. Man kann das Gefühl entwickeln, dabei zu sein. Und das ist im Zeitalter der Zeigefinger-Ratgeber, der buchgewordenen Betroffenheitsessays und der Ich-weiß-es-besser-Streitschriften nicht so schlecht.
Selbst ihr Vater, der zu verstehen
schien, wonach seine Tochter
suchte, bot nur begrenzte Hilfe
Immer wieder spürt man
eine Grundskepsis gegenüber
der Macht der Vernunft
Christiane Hoffmann: Alles, was wir nicht erinnern. Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters. Verlag C.H. Beck, München 2022. 280 Seiten, 22 Euro.
Eskapistische Sprachlosigkeit: Nach Westen Flüchtende aus den östlichen Gebieten des besiegten Nazi-Reiches 1945.
dpa
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Christiane Hoffmann hat auf den Spuren der Flucht ihres Vaters
eine therapeutische Wanderung von Ost nach West unternommen
VON KURT KISTER
Ich beginne diesen Text mit dem wichtigsten Wort des Buches von Christiane Hoffmann: ich. Das zweitwichtigste Wort ist du, und mit du meint Hoffmann ihren Vater, der 2018 gestorben ist. Sein Tod war für die Autorin der letzte Anlass, eine lange Wanderung durch das heutige Polen und Tschechien zu machen. Zu Fuß und allein, wie man im Laufe des Buches immer wieder gesagt bekommt, weil so viele Menschen, denen Hoffmann unterwegs begegnet, danach fragen. Sie läuft genau den Weg, den ihr Vater als Neunjähriger im Winter 1945 zurücklegen musste; mit seiner Mutter war er Teil eines Flüchtlingstrecks aus dem Heimatdorf Rosenthal in Schlesien, heute das polnische Różyna. Die Deutschen flohen vor den russischen Truppen; ihre Flucht endete nach sechs Wochen und 550 Kilometern in Klinghart im Sudetenland, heute Křižovatka in Tschechien, nahe der Grenze zu Sachsen.
Ein Geschichtsbuch ist das nicht; nicht einmal eines jener autohistorischen Wanderbücher, in denen mehr oder weniger empfindsame Menschen die ehemalige Grenze zur DDR, die Reichsstraße 1 von Aachen nach Königsberg oder den Weg der napoleonischen Truppen nach Moskau zurücklegen und dabei Geschichte und Geschichten nacherzählen. Hoffmanns Buch ist eigentlich eine Selbsttherapie; es wechselt formal zwischen einem Monolog einer in sich hineinhorchenden, allmählich älter werdenden Tochter, der sich an den toten Vater richtet, und der subjektiven Reportage einer genau beobachtenden Reporterin, die vor allem durch die Wiedergabe von Gelegenheitsgesprächen Atmosphärisches heraufbeschwört, das hin und wieder große Geschichte erklärt.
Hoffmann war lange Zeit eine sehr respektierte Reporterin und Korrespondentin bei der FAZ, später beim Spiegel. Vor ein paar Monaten wechselte sie als stellvertretende Regierungssprecherin, nominiert von den Grünen, die Seiten. Früher stellte sie die Fragen und schrieb über die Antworten und deren Umstände. Heute ist sie eine Verballobbyistin der Ampelregierung und gibt Antworten auf die Fragen anderer. Identitäten können sich ändern.
Die Unsicherheit über die eigene Identität, die Suche nach Heimat keineswegs nur im geografischen Sinne, das Abtasten von Gefühlen und familiären Prägungen – dies alles ist für Hoffmanns therapeutische Wanderung von Ost nach West bedeutend. Sie wurde 1967 geboren und gehört damit gerade noch der ersten Generation der Nachkriegskinder an.
Sie hat, wie viele aus dieser Generation, die Erfahrung gemacht, dass Eltern, Großeltern und andere sogenannte Zeitzeugen sehr oft nicht das erzählen konnten oder wollten, was den Kindern geholfen hätte, sich und die Älteren zu verstehen.
Die besten Passagen dieses Buches widmen sich der eskapistischen Sprachlosigkeit, dem hin und wieder hilflosen Bemühen, aber auch der fröhlichen Vernachlässigung, die es in Deutschland, in Polen, in Tschechien gab und gibt, wenn von „damals“ die Rede ist oder sein sollte. Selbst ihr Vater, der zu verstehen schien, wonach seine Tochter suchte, bot nur begrenzte Hilfe. Andererseits, auch das wird in dem Bekenntnisbuch deutlich, ist Christiane Hoffmann eine im guten Sinne des Wortes penetrante Suchende, auch weil sie offenbar mit dem Zweifeln sehr vertraut ist.
Die erfahrene, eloquente Reporterin tritt immer dann zutage, wenn es um Kriegs- und Nachkriegsgeschichte geht und darum, wie sich das große Unheil in Dörfern, Familien, einzelnen Menschen niedergeschlagen hat. Hoffmann kann als ehemalige Iran- und Russlandkorrespondentin auch seriöse Völkerpsychologie, die sich zumeist in den Wahrnehmungen einzelner Menschen widerspiegelt –wie waren die Russen, was denken die Polen über die Deutschen, wie fühlen sich die Deutschen, die lange nach Flucht und Vertreibung mit dem Reisebus für ein paar Tage zurückkamen?
Immer wieder spürt man eine gewisse Grundskepsis der Autorin über die Macht der Vernunft angesichts von Nationalismus, Schulddebatten oder auch nur fahrlässigem Desinteresse. Durch den russischen Angriff auf die Ukraine, der zum Zeitpunkt des Abschlusses des Buches noch in der Zukunft lag, wird manches an Hoffmanns Analyse, aber auch manches an ihren Gefühlen bestärkt und bestätigt.
Selbst für Menschen, die solche Ich-Bücher respektive Autotherapien in Buchform nicht goutieren, könnte Hoffmanns Buch einen Versuch wert sein. Es ist nämlich auch ein Sachbuch – ein Sachbuch in dem Sinne, dass es sich mit Flucht und Zwangsmigration, mit dem immer noch nicht leichten Verhältnis Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarn und mit dem Umgang der Deutschen mit ihrer Geschichte beschäftigt.
Nur über gelegentliche groblyrische Sprachbilder muss man hinweglesen – ein zweibeiniges Ortschild, das der Autorin „zunickt“; ihre Vorliebe für Metaphern mit Riesen; die wiederholte Beschreibung, ein älterer Mensch sitze da, als sei er „gestern gestorben“.
Für jene anderen aber, die sich von solchen Büchern gerne „berühren“ lassen, die mit der Autorin fühlen und auch ihre Wanderschmerzen nacherleben, ist Christiane Hoffmanns Seelen-Sachbuch nahezu großartig. Man kann das Gefühl entwickeln, dabei zu sein. Und das ist im Zeitalter der Zeigefinger-Ratgeber, der buchgewordenen Betroffenheitsessays und der Ich-weiß-es-besser-Streitschriften nicht so schlecht.
Selbst ihr Vater, der zu verstehen
schien, wonach seine Tochter
suchte, bot nur begrenzte Hilfe
Immer wieder spürt man
eine Grundskepsis gegenüber
der Macht der Vernunft
Christiane Hoffmann: Alles, was wir nicht erinnern. Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters. Verlag C.H. Beck, München 2022. 280 Seiten, 22 Euro.
Eskapistische Sprachlosigkeit: Nach Westen Flüchtende aus den östlichen Gebieten des besiegten Nazi-Reiches 1945.
dpa
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