Der Roman folgt dem Schicksal dreier Esten während des Zweiten Weltkriegs und danach: Roland, einem prinzipientreuen estnischen Freiheitskämpfer, seinem machthungrigen Cousin Edgar und dessen Frau Juudit. Estland zur Zeit der deutschen Besatzung: Während sich Roland versteckt hält, weil er immer noch an die estnische Befreiung glaubt, versucht Edgar ins Zentrum der Machthaber vorzustoßen. Seine Frau Juudit verliebt sich in einen hohen deutschen Offizier, nicht ahnend, dass ihr Mann über genau diesen Offizier die Karriereleiter emporklettern möchte. Nach dem Krieg werden die Karten neu gemischt, Estland steht unter der Besatzung der Sowjets, und wieder ist es Edgar, der hofft, auch bei den Kommunisten eine wichtige Rolle zu spielen.
Wanja Mues spricht Roland, Julia Nachtmann leiht Juudit ihre Stimme, Jörg Pohl übernimmt den Part von Edgar, und Birte Schnöink spricht Evelin.
Hier finden Sie Zusatzmaterial zum Roman
Wanja Mues spricht Roland, Julia Nachtmann leiht Juudit ihre Stimme, Jörg Pohl übernimmt den Part von Edgar, und Birte Schnöink spricht Evelin.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Tilman Spreckelsen lobt die für die gekürzte Hörfassung von Sofi Oksanens Roman vorgenommene Aufteilung der Stimmen auf vier Sprecher. Die Story um die deutsche Besatzung 1941 in Estland, um estnische Kriegs- und Nachkriegeschichte und um deren Wirkung auf den Einzelnen, namentlich zwei Cousins, scheint Spreckelsen durch die Vierteilung der Perspektive zu gewinnen. Grund dafür ist für ihn die Güte der Sprecher, die den Abstand zwischen den Blickwinkeln auf ein und dasselbe Geschehen spürbar machen, wie der Rezensent erklärt, ohne den Rahmen des Romans zu sprengen. Auch die Schwierigkeit, Oksanens bilderreiche poetische Sprache umzusetzen, ohne dem Kitsch anheimzufallen, meistern die Sprecher laut Spreckelsen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Geschichtsspagat: Sofi Oksanens Estland-Roman "Als die Tauben verschwanden" erzählt eine Dreiecksgeschichte in Zeiten wechselnder politischer Allianzen
Genossen und Nationalisten, Kollaborateure und Partisanen, Nazi-Schergen und Waldbrüder, Schubladen mit doppeltem Boden, konspirative Tagebücher, Geheimcodes und -schriften, Spione, Gefangenenlager, morbide Erotik in Wehrmachtsuniform: Dies ist der Stoff, aus dem der Roman von Sofi Oksanen, Tochter einer estnischen Mutter und eines finnischen Vaters, gemacht ist, der den zweiten Teil eines geplanten Estland-Quartetts bildet. Bereits in ihrem preisgekrönten Bestseller "Fegefeuer" von 2008 hatte Oksanen das Schicksal des baltischen Staates während der sowjetischen Besatzung anhand von zwei Frauenleben verfolgt. Nun erzählt sie eine Dreiecksgeschichte in Zeiten wechselnder politischer Allianzen.
Estland wurde zwischen 1939 und 1944 dreimal überfallen. Der Hitler-Stalin-Pakt hatte zunächst die Russen auf den Plan gerufen. Der deutsche Russland-Feldzug wiederum kehrte die Machtverhältnisse nur ein Jahr später um. Wer sich nun mit den Deutschen verbündete, konnte das sowohl mit der Bekämpfung der bolschewistischen Gefahr begründen als auch mit nationalistischen Hoffnungen. Nur fünf Tage lang war Estland während des Kriegs unabhängig. Danach übernahm wieder die Rote Armee und transformierte das kleine baltische Land in einen sowjetischen Vasallenstaat.
Unübersichtliche Zeiten erfordern nicht unbedingt unübersichtliche Erzählformen, aber die verschachtelte Thrillerkonstruktion mit einem Quantum Suspense bietet sich an, um folgende Handlung zu erzählen: Die ungleichen Cousins Roland und Edgar sind Hauptakteure von "Als die Tauben verschwanden" - ein Titel, in dem die Hungersnot während des Kriegs angesprochen ist. Der eine integer, erdverbunden und nationalistisch. Der andere opportunistisch, erst musternazistisch, dann -kommunistisch. Während Roland im Kampf gegen die Bolschewisten mit der historischen Untergrundorganisation der "Waldbrüder" Deportationen vereitelt, wendet Edgar sein Fähnlein nach dem Wind. Und zwar so kaltschnäuzig, dass ihm jeder Karriereschritt jeweils mühelos gelingt. Erst macht er Eindruck als Informant der Nationalsozialisten und später als Handschriftenexperte für den KGB.
Just zum Machtwechsel kommt Edgar die Idee, sich mit Häftlingskleidung aus dem Konzentrationslager Klooga zu tarnen. In dieser Aufmachung wird er zum glaubwürdigen Nazi-Hasser, Spion und in den sechziger Jahren zum Propagandaschriftsteller. Dabei gibt es für den Leser allerlei Verstrickungen zu lösen. Und weil die Welt selten so typenrein besetzt ist wie oben beschrieben, kommen ein paar fatale Frauen ins Spiel. Sie haben in der Romananlage vor allem die Aufgabe, es den etwas schematisch geratenen männlichen Figuren schwerzumachen. Vor allem Juudit ist für den im Roman behaupteten Manichäismus von Gut und Böse sowie für den von naturverbundener Geradlinigkeit und kultureller Wankelmütigkeit "problematisch". Edgar ist verheiratet mit ihr, erfüllt aber nicht seine ehelichen Pflichten. Aus Lebenshunger beginnt Juudit eine Affäre mit dem SS-Hauptsturmführer Hellmuth Herz, den sie ursprünglich im Auftrag von Roland aushorchen soll. "Juudit stürzte, Hellmuth stürzte mit Juudit zusammen, ihre Körper stürzten ineinander, und die Tränen spülten sie fort." Hellmuths stramme Schenkel haben es gleichzeitig dem gehörnten Gatten angetan. Mehr als angedeutet wird im Roman die Homosexualität der Hauptfigur Edgar nicht. Sie wird damit zu einem denunziatorischen Element der Erzählung: Ein schwuler Mensch ohne Gewissen, zerrissen von falschem Begehren, leidend unter Anpassungssucht und eisernem Karrierewillen, das kann nur böse enden, was es nicht wirklich tut - zumindest nicht für Edgar.
Seine Frau Juudit hingegen geht zugrunde an dem moralischen Dauerspagat zwischen hedonistischer Lustbefriedigung, heldenhaftem Einsatz für die gute (Rolands) Sache und Loyalität zu ihrem gewissenlosen Ehemann, der ihr in der estnischen SSR zwar zu einigen Privilegien verhilft, diese jedoch nicht zu ihrer vollen Zufriedenheit ausschöpft ("Er würde niemals imstande sein, rattenfreies Hackfleisch zu beschaffen"). Sie schluckt Pervitin, die Abhärtungsdroge der deutschen Wehrmacht, und neigt dem Alkohol zu. Schließlich landet sie in den sechziger Jahren in einer Anstalt für psychisch Kranke.
Auch Rosali, die tugendhafte Verlobte Rolands, muss dran glauben. Sie weiß von Edgars Homosexualität und wird bereits zu Beginn des Romans ermordet. Damit hat Oksanen, vermutlich eher unbewusst, ihr für die romanimmanente Differenzierungsarbeit vorgesehenes Personal liquidiert. Bleiben die männlichen Antagonisten, ein bisschen Spionagewirrwarr und die positiv zu vermerkende Tatsache, dass Sofi Oksanen, die sich während der Ukraine-Krise immer wieder öffentlich gegen Russland positioniert hat, an ein weniger bekanntes Kapitel der jüngeren Zeitgeschichte heranführt. Man kann dieses neue Buch also als aktuellen Beitrag zur europäischen Verständigung lesen.
Man muss es deshalb nicht für einen literarisch großen Wurf halten. Oksanens Figuren leiden dafür einfach zu sehr an ihrer behaupteten Bedeutsamkeit, was ein Problem ist, wenn man den historischen Roman als großes psychologisches Verlebendigungsprojekt vergangener Gemengelagen begreift.
KATHARINA TEUTSCH
Sofi Oksanen: "Als die Tauben verschwanden". Roman.
Aus dem Finnischen von Angela Plöger. Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2014. 432 S., geb., 19,99 [Euro].
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»Eine großartig geschriebene Geschichte über drei Menschen mit unterschiedlichen Lebensentwürfen.« Cornelia Camen BuchMarkt 20140701