Wer in den zwölf weißen Bänden von Christoph Ransmayrs Spielformen des Erzählens nach dem klassischen Ton großer Erzählungen sucht, wird jene 13 Geschichten entdecken, die nun erstmals in einem Band versammelt sind. Die Entdeckungsreise führt von Irland in den Transhimalaya, aus dem oberösterreichischen Bergland zu den Bürgerkriegsschauplätzen Sri Lankas oder in die Sahara, in den Frieden afrikanischer Nebelwälder und ins Südchinesische Meer.
Das Leben selbst bestimmt den verführerischen Rhythmus der Erzählungen, das Entstehen und die Vergänglichkeit, der Aufbruch in die Welt und die Heimkehr ins Vertraute. In Christoph Ransmayrs Worten, durch seinen scharfen Blick, verwandelt sich die Welt in eine, die farbenprächtiger, detailreicher und ein wenig größer zu sein scheint, als wir sie kennen.
Das Leben selbst bestimmt den verführerischen Rhythmus der Erzählungen, das Entstehen und die Vergänglichkeit, der Aufbruch in die Welt und die Heimkehr ins Vertraute. In Christoph Ransmayrs Worten, durch seinen scharfen Blick, verwandelt sich die Welt in eine, die farbenprächtiger, detailreicher und ein wenig größer zu sein scheint, als wir sie kennen.
»Wunderbares Hörbuch [...]. Wirklich einzigartig. Denn so wie niemand schreibt wie Christoph Ransmayr, so kann auch niemand wie er diese einmaligen Sprachwelten zum Ausdruck bringen. Ich bin - mit Verlaub - normalerweise eher kein Freund davon, wenn Schriftstellerinnen und Schriftsteller ihre Werke selber zu Gehör bringen. Aber in diesem Falle bin ich restlos hingerissen.« Klaus Prangenberg WDR 5 20240309
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.03.2024Des weißen Mannes Nemesis
Zum heutigen siebzigsten Geburtstag von Christoph Ransmayr erscheint ein Band mit Erzählungen
In Japan falten Schwertschmiede beim Fertigungsverfahren die erhitzten Klingenrohlinge immer wieder neu, um sie danach abermals auf dem Amboss zu bearbeiten: Dutzende, Hunderte Male, denn mit jedem weiteren derartigen Schmiedervorgang wird der Stahl durch Zufuhr von Kohlenstoff geschmeidiger - ein physikalischer Prozess. Das Resultat solch tagelanger Anstrengung ist eine Schwertklinge von einzigartiger Härte, die dennoch weniger leicht zerspringt - ein elastisches Wunderwerk für das Teufelszeug des Tötens. Beim Lesen von Christoph Ransmayr wird man an dieses Verfahren erinnert, nur dass seine Wunderwerke das Leben feiern. Aber sie resultieren aus einem vergleichbaren literarischen Prozess: wie da im Streben nach größtmöglicher Prägnanz der Ton vom Wörterschmied gehärtet wird. Und doch immer elastisch-elegant bleibt.
Ransmayrs neues Buch ist, nicht nur weil es als Titelbild eine Tonfigur im Brennofen zeigt (die Geschichte hinter dem Foto, kurz im Vorwort reportiert, ist eine für Ransmayr typische Episode), die ideale Illustration für dieses Verfahren. Diese jüngste Publikation bietet eine Auslese von Älterem. "Als ich noch unsterblich war" heißt der Band, und er versammelt dreizehn Erzählungen aus vier Jahrzehnten, von denen neun ursprünglich als Ansprachen gehalten wurden - zu den unterschiedlichsten Anlässen, die aber alle eines gemein hatten: Sie waren höchstpersönlich. Das merkt man ihnen an. Aber auch die drei anderen Geschichten sind von jener thematischen Schärfe und jenem makellosen Stilgefühl, die Ransmayr eigen sind. Das zeigte schon seine erste literarische Veröffentlichung, "Strahlender Untergang" aus dem Jahr 1982, die nun auch im neuen Buch enthalten ist: Als Vision eines eingefriedeten leeren Wüstenabschnitts, in dem ein Mann ausgesetzt wird, um dort exemplarisch zu verdorren, entfaltet sie einen Schrecken, der seine Rechtfertigung aus der Hybris des Menschen gegenüber der Natur bezieht und zugleich in betörend suggestiver Form erzählt wird.
Ransmayr hat dieses Geschehen in gebundene Rede gefasst - eine Versform, die später in seinem Roman "Der fliegende Berg" und zuletzt auch im Lyrikzyklus "Unter einem Zuckerhimmel" wiederkehren sollte. Inhaltlich wiederum nahm sie ein Leitmotiv vorweg, das man im Gegensatz zu Kiplings "white man's burden" als des weißen Mannes Nemesis bezeichnen könnte: "Er räkelte sich / dehnte sich / auf dem Rücken ihm fremder Kulturen / und erklärte das Fremde zum Rohstoff / und Baumaterial der eigenen Zivilisation. / Er bedient sich / der zweckmäßigsten Formen des Denkens, / errichtete so Industrien / und gelegentlich Weltreiche, / und alles geriet ihm zur Herrschaft." Sechsunddreißig Jahre später heißt es dann in Ransmayrs "Mädchen im gelben Kleid": "Wohin immer ein Afrikareisender sich auf diesem Kontinent wandte, selbst wenn er nur unterwegs war, um weiße Nashörner, Elefanten, Hyänen oder Leoparden zu bestaunen (oder zu jagen) - mußte er auf die Spuren Europas stoßen, auf eine zertrampelte Bühne der Grausamkeit, dazu aber auch: auf die Quellgebiete des europäischen Reichtums." Ransmayr schmiedet seinen Rohstoff immer wieder neu.
In seinem Werk hängt alles zusammen: die journalistischen Arbeiten, die ihn um die ganze Welt führten (vor allem im Auftrag von Hans Magnus Enzensbergers Zeitschrift "Transatlantik"), und die Kopfgeburten seiner Romane, die aber so lebendig erzählt sind, dass sie wie erlebt wirken - der Erstling "Die Schrecken des Eises und der Finsternis" (1984) entstand nicht aus Reiseeindrücken von arktischen Regionen, in denen die Handlung angesiedelt ist, sondern im Kartensaal der Österreichischen Nationalbibliothek, wie Ransmayr hier in seiner Erzählung "Floßfahrt" berichtet. Jahre später reiste er dann doch noch mit einem russischen Eisbrecher zum Franz-Josef-Land, und davon wiederum hat er im "Atlas eines ängstlichen Mannes" berichtet, seinem Lebensbuch von 2012, das auf der Schwelle des Todes geschrieben wurde und all jene Geschichten versammelte, die dem damals noch nicht Sechzigjährigen auf den Nägeln brannten, von denen er aber fürchtete, sie nicht mehr auserzählen zu können. So machte Ransmayr daraus kurze Preziosen, und als er wider Erwarten dem Tod doch noch von der Schippe sprang, entwickelte er daraus seine Überzeugung vom Erzählen als "Arznei gegen die Sterblichkeit" - einen Begriff, den er zwar schon 1999 geprägt, damals aber noch buchstäblich gemeint hatte: In Hongkong war ihm mit Morgentau vermischte Jade als lebensverlängerndes Remedium angeboten worden.
"Als ich noch unsterblich war" bietet einige Erzählungen, die auch in den "Atlas" gepasst hätten, und wie dieser ist die neue Publikation von Ransmayr viel mehr als eine Sammlung: Sie ist eine Offenbarung. Auch seiner selbst. Wir erfahren etwa in zwei Geschichten vom Tod der Eltern: Ransmayrs Mutter starb nach langer Krankheit im Frieden mit sich und der Welt, sein Vater ohne jede Vorankündigung im Krieg mit seiner Umgebung. Beiden setzt der Sohn unvergessliche Denkmäler.
"Spielformen des Erzählens" heißt eine Publikationsserie, die Ransmayr seit 1997 in unregelmäßigen Abständen fortführt - zwölf schmale Bücher umfasst sie bis heute -, und aus sechs davon stammen die Geschichten der neuen Zusammenstellung. Sie sind das Experimentierfeld des Schriftstellers, und was er an unvergesslichen Romanen geschaffen hat - "Die letzte Welt", "Morbus Kitahara" , "Cox oder Im Lauf der Zeit", "Der Fallmeister" -, ist eher Fingerübung für die "Spielformen" gewesen als umgekehrt. "Als ich noch unsterblich war" ist aus diesem Kernholz seines Schaffens geschnitzt.
"Ein einziges zu Buchstaben geronnenes Wort vermochte die geheimsten Gedanken seines Schreibers nicht bloß über Gebirge, Meere und Kontinente tragen, sondern ihn über die Zeit erheben und noch lesbar bleiben, wenn er selbst bereits seit Jahren oder Jahrhunderten wieder verstummt war", heißt es in der Titelgeschichte. Christoph Ransmayr, der heute in Wien oder im oberösterreichischen Toten Gebirge, den beiden Ruhepolen dieses rastlos Reisenden, seinen siebzigsten Geburtstag feiert, wird hoffentlich noch lange nicht verstummen. Ihm möge reichlich mit Morgentau vermischte Jade beschert werden. Und er uns jede Menge Geschichten erzählen. Das sollte für langes Leben reichen. ANDREAS PLATTHAUS
Christoph Ransmayr: "Als ich noch unsterblich war".
Erzählungen.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2024. 221 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zum heutigen siebzigsten Geburtstag von Christoph Ransmayr erscheint ein Band mit Erzählungen
In Japan falten Schwertschmiede beim Fertigungsverfahren die erhitzten Klingenrohlinge immer wieder neu, um sie danach abermals auf dem Amboss zu bearbeiten: Dutzende, Hunderte Male, denn mit jedem weiteren derartigen Schmiedervorgang wird der Stahl durch Zufuhr von Kohlenstoff geschmeidiger - ein physikalischer Prozess. Das Resultat solch tagelanger Anstrengung ist eine Schwertklinge von einzigartiger Härte, die dennoch weniger leicht zerspringt - ein elastisches Wunderwerk für das Teufelszeug des Tötens. Beim Lesen von Christoph Ransmayr wird man an dieses Verfahren erinnert, nur dass seine Wunderwerke das Leben feiern. Aber sie resultieren aus einem vergleichbaren literarischen Prozess: wie da im Streben nach größtmöglicher Prägnanz der Ton vom Wörterschmied gehärtet wird. Und doch immer elastisch-elegant bleibt.
Ransmayrs neues Buch ist, nicht nur weil es als Titelbild eine Tonfigur im Brennofen zeigt (die Geschichte hinter dem Foto, kurz im Vorwort reportiert, ist eine für Ransmayr typische Episode), die ideale Illustration für dieses Verfahren. Diese jüngste Publikation bietet eine Auslese von Älterem. "Als ich noch unsterblich war" heißt der Band, und er versammelt dreizehn Erzählungen aus vier Jahrzehnten, von denen neun ursprünglich als Ansprachen gehalten wurden - zu den unterschiedlichsten Anlässen, die aber alle eines gemein hatten: Sie waren höchstpersönlich. Das merkt man ihnen an. Aber auch die drei anderen Geschichten sind von jener thematischen Schärfe und jenem makellosen Stilgefühl, die Ransmayr eigen sind. Das zeigte schon seine erste literarische Veröffentlichung, "Strahlender Untergang" aus dem Jahr 1982, die nun auch im neuen Buch enthalten ist: Als Vision eines eingefriedeten leeren Wüstenabschnitts, in dem ein Mann ausgesetzt wird, um dort exemplarisch zu verdorren, entfaltet sie einen Schrecken, der seine Rechtfertigung aus der Hybris des Menschen gegenüber der Natur bezieht und zugleich in betörend suggestiver Form erzählt wird.
Ransmayr hat dieses Geschehen in gebundene Rede gefasst - eine Versform, die später in seinem Roman "Der fliegende Berg" und zuletzt auch im Lyrikzyklus "Unter einem Zuckerhimmel" wiederkehren sollte. Inhaltlich wiederum nahm sie ein Leitmotiv vorweg, das man im Gegensatz zu Kiplings "white man's burden" als des weißen Mannes Nemesis bezeichnen könnte: "Er räkelte sich / dehnte sich / auf dem Rücken ihm fremder Kulturen / und erklärte das Fremde zum Rohstoff / und Baumaterial der eigenen Zivilisation. / Er bedient sich / der zweckmäßigsten Formen des Denkens, / errichtete so Industrien / und gelegentlich Weltreiche, / und alles geriet ihm zur Herrschaft." Sechsunddreißig Jahre später heißt es dann in Ransmayrs "Mädchen im gelben Kleid": "Wohin immer ein Afrikareisender sich auf diesem Kontinent wandte, selbst wenn er nur unterwegs war, um weiße Nashörner, Elefanten, Hyänen oder Leoparden zu bestaunen (oder zu jagen) - mußte er auf die Spuren Europas stoßen, auf eine zertrampelte Bühne der Grausamkeit, dazu aber auch: auf die Quellgebiete des europäischen Reichtums." Ransmayr schmiedet seinen Rohstoff immer wieder neu.
In seinem Werk hängt alles zusammen: die journalistischen Arbeiten, die ihn um die ganze Welt führten (vor allem im Auftrag von Hans Magnus Enzensbergers Zeitschrift "Transatlantik"), und die Kopfgeburten seiner Romane, die aber so lebendig erzählt sind, dass sie wie erlebt wirken - der Erstling "Die Schrecken des Eises und der Finsternis" (1984) entstand nicht aus Reiseeindrücken von arktischen Regionen, in denen die Handlung angesiedelt ist, sondern im Kartensaal der Österreichischen Nationalbibliothek, wie Ransmayr hier in seiner Erzählung "Floßfahrt" berichtet. Jahre später reiste er dann doch noch mit einem russischen Eisbrecher zum Franz-Josef-Land, und davon wiederum hat er im "Atlas eines ängstlichen Mannes" berichtet, seinem Lebensbuch von 2012, das auf der Schwelle des Todes geschrieben wurde und all jene Geschichten versammelte, die dem damals noch nicht Sechzigjährigen auf den Nägeln brannten, von denen er aber fürchtete, sie nicht mehr auserzählen zu können. So machte Ransmayr daraus kurze Preziosen, und als er wider Erwarten dem Tod doch noch von der Schippe sprang, entwickelte er daraus seine Überzeugung vom Erzählen als "Arznei gegen die Sterblichkeit" - einen Begriff, den er zwar schon 1999 geprägt, damals aber noch buchstäblich gemeint hatte: In Hongkong war ihm mit Morgentau vermischte Jade als lebensverlängerndes Remedium angeboten worden.
"Als ich noch unsterblich war" bietet einige Erzählungen, die auch in den "Atlas" gepasst hätten, und wie dieser ist die neue Publikation von Ransmayr viel mehr als eine Sammlung: Sie ist eine Offenbarung. Auch seiner selbst. Wir erfahren etwa in zwei Geschichten vom Tod der Eltern: Ransmayrs Mutter starb nach langer Krankheit im Frieden mit sich und der Welt, sein Vater ohne jede Vorankündigung im Krieg mit seiner Umgebung. Beiden setzt der Sohn unvergessliche Denkmäler.
"Spielformen des Erzählens" heißt eine Publikationsserie, die Ransmayr seit 1997 in unregelmäßigen Abständen fortführt - zwölf schmale Bücher umfasst sie bis heute -, und aus sechs davon stammen die Geschichten der neuen Zusammenstellung. Sie sind das Experimentierfeld des Schriftstellers, und was er an unvergesslichen Romanen geschaffen hat - "Die letzte Welt", "Morbus Kitahara" , "Cox oder Im Lauf der Zeit", "Der Fallmeister" -, ist eher Fingerübung für die "Spielformen" gewesen als umgekehrt. "Als ich noch unsterblich war" ist aus diesem Kernholz seines Schaffens geschnitzt.
"Ein einziges zu Buchstaben geronnenes Wort vermochte die geheimsten Gedanken seines Schreibers nicht bloß über Gebirge, Meere und Kontinente tragen, sondern ihn über die Zeit erheben und noch lesbar bleiben, wenn er selbst bereits seit Jahren oder Jahrhunderten wieder verstummt war", heißt es in der Titelgeschichte. Christoph Ransmayr, der heute in Wien oder im oberösterreichischen Toten Gebirge, den beiden Ruhepolen dieses rastlos Reisenden, seinen siebzigsten Geburtstag feiert, wird hoffentlich noch lange nicht verstummen. Ihm möge reichlich mit Morgentau vermischte Jade beschert werden. Und er uns jede Menge Geschichten erzählen. Das sollte für langes Leben reichen. ANDREAS PLATTHAUS
Christoph Ransmayr: "Als ich noch unsterblich war".
Erzählungen.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2024. 221 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.04.2024Utopie und Absturz
Erzählen ohne Scheu vor Pathos, darin besteht die Größe Christoph Ransmayrs. Ein neuer Band erschließt seinen Kosmos.
Unverkennbar klingt in all diesen Texten der Ransmayr-Ton durch: beobachtungsgenau, gedankenreich, immer zur weit ausschweifenden Assoziation fähig und willens. Selbst in den „kleinen“ Formen der Erzählung, der Anekdote, der Satire gibt es bei Ransmayr nichts Nachlässiges, Schludriges, auch nicht im in gebundener Rede Geschriebenen. So wie er in vielen Interviews nie locker daherschwadroniert, gibt es erst recht in seinem Schreiben alle Kategorien des Leichten, fröhlich Witzigen, gar Frivolen nicht.
Auch Ransmayrs Humor will sprachlich unzweifelhaftes Fundament, Sorgfalt in jeder Formulierung, genau gezogene Spannungsbögen. Dieser Autor scheut das Pathos nicht, wenn ihn sein Gedankenflug ins Hohe und Ferne führt und sein Blick von oben auf die Erde mit ihren tausendundein Menschenlebensarten fällt, sodass er ins Grundsätzliche von Fernweh und intensiver Nähe, von Utopie und Absturz gelangt. Mit diesem innerhalb seiner weit gesteckten Grenzen reich instrumentierten Erzählduktus hat Christoph Ransmayr in Romanen und großen Prosatexten international Riesenerfolg erreicht.
Sein aktueller Band „Als ich noch unsterblich war“ versammelt nun zwölf und eine Erzählung aus den Jahren zwischen 1982 und 2019. Den Text jenseits der zwölf führt Ransmayr in seinem Vorwort hintersinnig und zahlenmagisch ein: „13! Die verbotene Dreizehn. In den Mietshäusern der Wiener Gründerzeit wurde über Wohnungstüren, die der Reihenfolge nach die Zahl 13 tragen sollten, zur Abwendung jedes mit der Dreizehn verbundenen Unheils 12a gesetzt, bevor die Reihe über diese Tarnung hinweg zur 14 sprang.“
So angespitzt steigt man natürlich zuerst in die Erzählung 12a ein, deren Titel „Damen & Herren unter Wasser“ lautet und in eine kuriose Unterwasserwelt führt, in der Menschen wie der Ich-Erzähler aus ihrem einstigen Menschendasein an der Luft in die wässrige Existenz unter der Meeresoberfläche fliehen und nun als Kalmare, Prachtschnecken oder Fledermausfische dahinschwimmen, wobei ihnen erst einmal das Bewusstsein bleibt, einst ein Luft atmendes Menschendasein geführt zu haben.
Um den erzählenden Kalmar bildet sich eine aquarische Community von ehemaligen Lüftlern, die in ihrem früheren Leben dem Wässrigen verfielen oder ihm wie zum Beispiel durch exzessives Schwitzen verdächtig nahekamen. Ransmayrs Projektion, dass am Ende bei steigenden Meeresspiegeln und schmelzenden Eisschilden nur groteske Fluchten in Unterwasserwelten übrig bleiben, wirkt amüsant und angenehm sarkastisch, auch wenn sie insgesamt vielleicht etwas lang geraten ist. In der ersten Story dagegen, einer Kindheitserinnerung, löffelt der Knabe aus der Buchstabensuppe voller Staunen das Wort „Meer“.
Die vielleicht schönste Geschichte führt in die Schneelandschaft im „Niemandsland zwischen Tibet und Nepal“, das zwei westliche Rucksackträger durchwandern auf der Suche nach vorbuddhistischen Klöstern. Der Schnee liegt so tief, dass der Erzähler manchmal bis zur Hüfte einsinkt. Sie wollen zu einem Dorf an einem See, haben sich vorher mit Proviant einzudecken versucht bei Halbnomaden. Ihr Gastgeber schenkt ihnen auch ein Fläschchen mit Reisschnaps.
Die beiden stapfen im Schneemeer ihrem Ziel zu, hoffen, es bewohnt vorzufinden, was sich als Irrtum herausstellt. Der Erzähler bemerkt, dass ihnen ihr Gastgeber hinterher ist und mit Trinkgesten an den Reisschnaps erinnert. Als er die beiden erreicht und mit ihnen am Feuer sitzt, löst sich das Rätsel seiner Verfolgung. Er will unbedingt das Fläschchen wiederhaben: „Es war das einzige Gefäß aus Glas, das er besaß.“
Wie auch einige andere Texte aus diesem Band hat Ransmayr bei Preisverleihungen oder anderen öffentlichen Gelegenheiten die Glasflaschengeschichte als Rede gehalten. Denn für ihn gehören solche Anlässe zu den Möglichkeiten, einige „Spielarten“ des Erzählens anzuwenden, bis hin zu „einer der Urformen allen Erzählens – dem Gesang“. Selbstbewusst weist er auf Traditionen bis zu Homer zurück, denen er sich verpflichtet sieht. Denn die Vielfalt des Erzählens ist grenzenlos. Wo Ransmayr streng in der jeweiligen Geschichte bleibt und sich nicht zu allgemeineren, manchmal allzu beschwerten Nachdenklichkeiten verführen lässt, wirken die Texte unmittelbar und ziehen einen hinein in ihre jeweilige Welt, die laut Ransmayr der Schriftsteller ja immer neu und ganz erschaffen muss, soll sie ihre Wirkung entfalten.
Also begegnen wir über Dschungelpfade am Ruwenzori-Gebirge den sanft grunzenden Berggorillas in Afrika oder erleben im Hafen von Hongkong wundersame Rituale zu Ehren von Tin Hau, „der Schutzpatronin aller, die den Untergang zu fürchten hatten“. Dort weilte 1989 Ransmayr mit Hans Magnus Enzensberger, und noch war das Massaker am Tian’anmen-Platz in Peking nicht geschehen. Oder wir lauschen dem Trunkenbold in einem Pub in der irischen Grafschaft Cork, den seine wilde Fluch- und Schimpfrede so erfüllt, dass er sich vom Tresen abstößt und sie zu singen beginnt.
Dass bei Ransmayrs Prosaanspruch und -ausführung immer auch die Gefahr von edler Prägung auf marmornem Untergrund nicht fern ist, mag manche abschrecken und kaltlassen. Wer des ungeachtet Lust hat, weit in durch diese Weisen des Erzählens entstehende Weltregionen hinauszufahren, der wird nach der Lektüre von Christoph Ransmayrs 12 und einer Geschichte womöglich reich beladen zurückkehren in einen dann allerdings deutlich weniger funkelnden und deshalb prosaischen Alltag.
HARALD EGGEBRECHT
Er fühlt sich Traditionen
verpflichtet, die bis auf
Homer zurückgehen
Christoph Ransmayr:
Als ich noch unsterblich war. Erzählungen.
S. Fischer Verlag,
Frankfurt am Main 2024. 222 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Erzählen ohne Scheu vor Pathos, darin besteht die Größe Christoph Ransmayrs. Ein neuer Band erschließt seinen Kosmos.
Unverkennbar klingt in all diesen Texten der Ransmayr-Ton durch: beobachtungsgenau, gedankenreich, immer zur weit ausschweifenden Assoziation fähig und willens. Selbst in den „kleinen“ Formen der Erzählung, der Anekdote, der Satire gibt es bei Ransmayr nichts Nachlässiges, Schludriges, auch nicht im in gebundener Rede Geschriebenen. So wie er in vielen Interviews nie locker daherschwadroniert, gibt es erst recht in seinem Schreiben alle Kategorien des Leichten, fröhlich Witzigen, gar Frivolen nicht.
Auch Ransmayrs Humor will sprachlich unzweifelhaftes Fundament, Sorgfalt in jeder Formulierung, genau gezogene Spannungsbögen. Dieser Autor scheut das Pathos nicht, wenn ihn sein Gedankenflug ins Hohe und Ferne führt und sein Blick von oben auf die Erde mit ihren tausendundein Menschenlebensarten fällt, sodass er ins Grundsätzliche von Fernweh und intensiver Nähe, von Utopie und Absturz gelangt. Mit diesem innerhalb seiner weit gesteckten Grenzen reich instrumentierten Erzählduktus hat Christoph Ransmayr in Romanen und großen Prosatexten international Riesenerfolg erreicht.
Sein aktueller Band „Als ich noch unsterblich war“ versammelt nun zwölf und eine Erzählung aus den Jahren zwischen 1982 und 2019. Den Text jenseits der zwölf führt Ransmayr in seinem Vorwort hintersinnig und zahlenmagisch ein: „13! Die verbotene Dreizehn. In den Mietshäusern der Wiener Gründerzeit wurde über Wohnungstüren, die der Reihenfolge nach die Zahl 13 tragen sollten, zur Abwendung jedes mit der Dreizehn verbundenen Unheils 12a gesetzt, bevor die Reihe über diese Tarnung hinweg zur 14 sprang.“
So angespitzt steigt man natürlich zuerst in die Erzählung 12a ein, deren Titel „Damen & Herren unter Wasser“ lautet und in eine kuriose Unterwasserwelt führt, in der Menschen wie der Ich-Erzähler aus ihrem einstigen Menschendasein an der Luft in die wässrige Existenz unter der Meeresoberfläche fliehen und nun als Kalmare, Prachtschnecken oder Fledermausfische dahinschwimmen, wobei ihnen erst einmal das Bewusstsein bleibt, einst ein Luft atmendes Menschendasein geführt zu haben.
Um den erzählenden Kalmar bildet sich eine aquarische Community von ehemaligen Lüftlern, die in ihrem früheren Leben dem Wässrigen verfielen oder ihm wie zum Beispiel durch exzessives Schwitzen verdächtig nahekamen. Ransmayrs Projektion, dass am Ende bei steigenden Meeresspiegeln und schmelzenden Eisschilden nur groteske Fluchten in Unterwasserwelten übrig bleiben, wirkt amüsant und angenehm sarkastisch, auch wenn sie insgesamt vielleicht etwas lang geraten ist. In der ersten Story dagegen, einer Kindheitserinnerung, löffelt der Knabe aus der Buchstabensuppe voller Staunen das Wort „Meer“.
Die vielleicht schönste Geschichte führt in die Schneelandschaft im „Niemandsland zwischen Tibet und Nepal“, das zwei westliche Rucksackträger durchwandern auf der Suche nach vorbuddhistischen Klöstern. Der Schnee liegt so tief, dass der Erzähler manchmal bis zur Hüfte einsinkt. Sie wollen zu einem Dorf an einem See, haben sich vorher mit Proviant einzudecken versucht bei Halbnomaden. Ihr Gastgeber schenkt ihnen auch ein Fläschchen mit Reisschnaps.
Die beiden stapfen im Schneemeer ihrem Ziel zu, hoffen, es bewohnt vorzufinden, was sich als Irrtum herausstellt. Der Erzähler bemerkt, dass ihnen ihr Gastgeber hinterher ist und mit Trinkgesten an den Reisschnaps erinnert. Als er die beiden erreicht und mit ihnen am Feuer sitzt, löst sich das Rätsel seiner Verfolgung. Er will unbedingt das Fläschchen wiederhaben: „Es war das einzige Gefäß aus Glas, das er besaß.“
Wie auch einige andere Texte aus diesem Band hat Ransmayr bei Preisverleihungen oder anderen öffentlichen Gelegenheiten die Glasflaschengeschichte als Rede gehalten. Denn für ihn gehören solche Anlässe zu den Möglichkeiten, einige „Spielarten“ des Erzählens anzuwenden, bis hin zu „einer der Urformen allen Erzählens – dem Gesang“. Selbstbewusst weist er auf Traditionen bis zu Homer zurück, denen er sich verpflichtet sieht. Denn die Vielfalt des Erzählens ist grenzenlos. Wo Ransmayr streng in der jeweiligen Geschichte bleibt und sich nicht zu allgemeineren, manchmal allzu beschwerten Nachdenklichkeiten verführen lässt, wirken die Texte unmittelbar und ziehen einen hinein in ihre jeweilige Welt, die laut Ransmayr der Schriftsteller ja immer neu und ganz erschaffen muss, soll sie ihre Wirkung entfalten.
Also begegnen wir über Dschungelpfade am Ruwenzori-Gebirge den sanft grunzenden Berggorillas in Afrika oder erleben im Hafen von Hongkong wundersame Rituale zu Ehren von Tin Hau, „der Schutzpatronin aller, die den Untergang zu fürchten hatten“. Dort weilte 1989 Ransmayr mit Hans Magnus Enzensberger, und noch war das Massaker am Tian’anmen-Platz in Peking nicht geschehen. Oder wir lauschen dem Trunkenbold in einem Pub in der irischen Grafschaft Cork, den seine wilde Fluch- und Schimpfrede so erfüllt, dass er sich vom Tresen abstößt und sie zu singen beginnt.
Dass bei Ransmayrs Prosaanspruch und -ausführung immer auch die Gefahr von edler Prägung auf marmornem Untergrund nicht fern ist, mag manche abschrecken und kaltlassen. Wer des ungeachtet Lust hat, weit in durch diese Weisen des Erzählens entstehende Weltregionen hinauszufahren, der wird nach der Lektüre von Christoph Ransmayrs 12 und einer Geschichte womöglich reich beladen zurückkehren in einen dann allerdings deutlich weniger funkelnden und deshalb prosaischen Alltag.
HARALD EGGEBRECHT
Er fühlt sich Traditionen
verpflichtet, die bis auf
Homer zurückgehen
Christoph Ransmayr:
Als ich noch unsterblich war. Erzählungen.
S. Fischer Verlag,
Frankfurt am Main 2024. 222 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Unverkennbar ist der Christoph-Ransmayr-Sound, auch in diesem Erzählband, der Texte aus den Jahren 1982 bis 2019 versammelt laut Rezensent Harald Eggebrecht. Auch wo Ransmayr auf Humor abzielt, ist er auf sprachliche Genauigkeit bedacht, erläutert Eggebrecht, und ganz frei von Pathos ist sein Schreiben selten. Die 13 Texte, die der Band enthält, gefallen dem Rezensenten stets da am besten, wo sie sich streng dem Erzählen verpflichten und nicht allzu viele gedankliche Abschweifungen unternehmen. Der Rezensent skizziert die Handlung einiger dieser Geschichten, eine spielt in einer Unterwasserwelt, eine andere an einem irischen Kneipentresen. Allzu marmoriert und kulturbeflissen mag das alles dem einen oder anderen erscheinen, gesteht Eggebrecht ein, aber wer sich auf dieses Schreiben einlässt, blickt hinterher anders auf die Welt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Er kann Sätze von einer klaren Schönheit schreiben. Christoph Schröder Deutschlandfunk - Büchermarkt 20240410