Über die Verbundenheit zu einer Insel und ihren Menschen, die alles überdauert
Zwischen Austernfischern und Regenpfeifern ist Nanning zu Hause: Amrum, die wilde Nordseeinsel mit ihren Sandbänken und den leuchtenden Heidekrautfeldern ist alles, was er kennt. Doch der Krieg geht auch an der kleinen Inselgemeinde nicht spurlos vorbei. Lebensmittel sind knapp, und solange der Vater nicht bei ihnen ist, muss Nanning sich um die hochschwangere Mutter und seine kleinen Geschwister kümmern. In den letzten Kriegsmonaten machen Nanning und sein bester Freund Hermann ein Spiel daraus, der kargen Natur Nahrung abzutrotzen: Sie jagen Kaninchen, treten Schollen und tauschen ihre Beute gegen das Notwendigste. Bis die Nachricht von Hitlers Tod die Inselgemeinde erreicht und die Gewissheit alter Ordnungen endgültig ins Wanken bringt.
»Amrum« erzählt voll wilder Schönheit davon, was Herkunft bedeutet, was sie aus einem macht - wie man lernt, den eigenen Weg zu gehen. Torben Kessler gibt dem Roman seine Stimme.
»Amrum ist der Fleck Erde, der mir vermittelt, dass ich zu Hause bin.« Hark Bohm
Zwischen Austernfischern und Regenpfeifern ist Nanning zu Hause: Amrum, die wilde Nordseeinsel mit ihren Sandbänken und den leuchtenden Heidekrautfeldern ist alles, was er kennt. Doch der Krieg geht auch an der kleinen Inselgemeinde nicht spurlos vorbei. Lebensmittel sind knapp, und solange der Vater nicht bei ihnen ist, muss Nanning sich um die hochschwangere Mutter und seine kleinen Geschwister kümmern. In den letzten Kriegsmonaten machen Nanning und sein bester Freund Hermann ein Spiel daraus, der kargen Natur Nahrung abzutrotzen: Sie jagen Kaninchen, treten Schollen und tauschen ihre Beute gegen das Notwendigste. Bis die Nachricht von Hitlers Tod die Inselgemeinde erreicht und die Gewissheit alter Ordnungen endgültig ins Wanken bringt.
»Amrum« erzählt voll wilder Schönheit davon, was Herkunft bedeutet, was sie aus einem macht - wie man lernt, den eigenen Weg zu gehen. Torben Kessler gibt dem Roman seine Stimme.
»Amrum ist der Fleck Erde, der mir vermittelt, dass ich zu Hause bin.« Hark Bohm
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.04.2024Eine Insel am Ende des Kriegs
"Amrum" heißt der erste Roman des Filmemachers Hark Bohm. Er erzählt die dramatische Geschichte einer Kindheit, die vielleicht seine eigene ist.
Von Tobias Rüther
Sie gingen als Friesen und kommen als Amerikaner wieder. Und sie sind da zwar auch immer noch Friesen, irgendwie: Aber jetzt stecken sie halt in den Uniformen der US Army.
Diese amerikanischen Friesen besetzen also die Insel hoch im Norden, von der sie stammen. Und auf der ihre Familien noch immer leben. Amrum, Mai 1945: Hitler hat sich in seinem Führerbunker umgebracht. Das Deutsche Reich hat kapituliert. Diese Nachrichten erreichen jetzt auch die Insel vor der Westküste von Schleswig - für die einen sind es gute, für die anderen schlechte. Die einen atmen auf, weil der Horror endlich vorbei ist. Die anderen, die gläubigen Nazis von Amrum, müssen jetzt zusehen, dass sie die Spuren ihres Horrors verwischen. Papiere werden verbrannt, Sprachregelungen gefunden. Es sind Nazis wie Hille Hagener, die Mutter des 10-jährigen Nanning. Dessen Vater Wilhelm wird sofort von den Besatzern verhaftet, er ist SS-Obersturmführer und Autor nationalsozialistischer Besinnungsliteratur. Nanning kennt seinen Vater kaum, liebt aber seine Mutter und würde alles für sie tun, aber er ahnt auch, nach und nach, in diesem Frühling 1945, dass da etwas nicht stimmt mit seiner Familie. Und von dieser Ahnung, dem Erwachen und Aufbrechen erzählt "Amrum", der erste Roman des Regisseurs und Schauspielers Hark Bohm. Eine Legende des deutschen Autorenfilms. Am 18. Mai wird Bohm 85 Jahre alt.
"Amrum" erzählt also vom 10-jährigen Nanning Hagener, von seiner hochschwangeren Mutter, seinem Freund Hermann, seiner aufrechten Tante Ena und seinem nach Amerika ausgewanderten Onkel Theo, der jetzt als G. I. auf die Insel zurückkehrt. Der Roman erzählt das alles in einem einsilbigen, leisen, leidenschaftlichen Ton, aus dem man immer wieder das norddeutsche Timbre Bohms herauszuhören glaubt. Ein Timbre, das man, hat man es einmal gehört, ebenso wenig vergisst wie Bohms markante Physiognomie. Der Mann sah halt immer so aus wie die Geschichten, die er in seinen Filmen erzählt hat, sie handelten meist von Idealisten im Kampf gegen das System. Von Aufrechten, von Aufbrechern, davon, dass mit Vernunft und Leidenschaft die Sachen schon gut ausgehen werden und dass aber die zur Verantwortung gezogen werden müssen, die sie in den Sand gesetzt haben.
Dass Hark Bohm Geschichten inszenieren und spielen kann, wusste man schon immer: Sein Film "Nordsee ist Mordsee" von 1976, die Geschichte von Uwe und Dschingis, die mit dem geklauten Segelboot etwas Besseres als den Tod finden, ist der deutsche Filmklassiker des internationalen Coming-of-Age-Genres. Wann immer der Regisseur Bohm dann aber auch selbst vor der Kamera auftrat, wie in so gut wie allen entscheidenden Fassbinder-Filmen beispielsweise - dann waren das zwar meist Nebenrollen. Die Eindringlichkeit aber, die Bohm seinen Figuren verlieh, wirkte nach. Im Laufe der Zeit waren oft Juristen, Direktoren unter diesen Figuren, Leute mit Autorität (Bohm war im echten Leben auch Filmprofessor in Hamburg). Leute, die man mehr respektiert als liebt. Bohm hat es seinem Publikum nie leicht gemacht.
Die Entstehungsgeschichte des ersten Romans in der langen Karriere des Hark Bohm ist aber auch nicht leicht zu erzählen. Denn Hark Bohm ist sehr krank. Und das hat die Fertigstellung seines literarischen Debüts erschwert. Vor einiger Zeit, als es Bohm noch besser ging, hat er ein Drehbuch geschrieben, das aus den Erinnerungen an seine Kindheit auf Amrum schöpft. Die Geschichte wird jetzt fürs Kino verfilmt von Fatih Akin, die Dreharbeiten haben in dieser Woche begonnen, Diane Kruger wird dabei sein, Laura Tonke, Lisa Hagmeister, Detlev Buck. Mit Fatih Akin hat Bohm schon oft zusammengearbeitet, bei dessen Romanadaptionen wie "Der goldene Handschuh" und "Tschick" oder der NSU-Geschichte "Aus dem Nichts". Und jetzt wollten die beiden also die Geschichte von Nanning erzählen.
Das Drehbuch zu "Amrum" bekam in der Frühphase dieses neuen Projekts Arnulf Conradi in die Hände, der gemeinsam mit Elisabeth Ruge vor 30 Jahren den Berlin Verlag gründete. Conradi las begeistert - und erklärte seinem Freund Hark sofort: Aus der Geschichte musst du auch einen Roman machen! Und so begann Bohm, an einem literarischen Text zu schreiben, aufbauend auf den Dialogen, die er für seine Geschichte von Nanning, hinter der sich seine eigene verbarg, schon geschrieben hatte.
Bis Bohms Gesundheit die Arbeit am Manuskript bald aber nicht mehr zuließ. Der Roman sollte trotzdem unbedingt fertig werden. Auf Vermittlung von Elisabeth Ruge, die mittlerweile eine Literaturagentur leitet, kam dann der Schriftsteller Philipp Winkler ("Hool") ins Spiel. Gemeinsam mit Hark Bohm und unterstützt von dessen Ehefrau Natalia, begann dann ein kollektiver literarischer Schreibprozess, in dem Winkler, nach intensiven Gesprächen mit Bohm, nach einem gemeinsamen Besuch der beiden auf Amrum, für die Zwischenräume und Hintergründe, die Tiefen und Details der Geschichte sorgte. Um das Gerüst der Dialoge herum, die Bohm für sein Drehbuch geschrieben hatte. Wenn man mit Winkler über diese Arbeit spricht, dann klingt es so, als hätte ihm Bohm mit seinen Erzählungen die Hand beim Schreiben geführt. Im gedruckten Text jedenfalls ist zwischen Bohms Dialogen und Winklers Passagen kein Tonwechsel zu erkennen.
In dieser Geschichte von Nanning und seiner Familie sind gleich mehrere andere angelegt. Einmal die Geschichte eines Kriegsendes in der deutschen Provinz. Und auch wenn Amrum wie eine weit entfernte Insel wirkt, ist dieses Ende doch repräsentativ. Hunger. Der Opa, der heimlich Feindsender hört. Ein toter englischer Kampfpilot am Strand. Denunziation noch in den letzten Minuten des Tausendjährigen Reichs. Die ersten Vertriebenen, die aus dem Osten ankommen. Die HJ exerziert weiter. Im Volksempfänger singt eben noch Ilse Werner, dann wird sie unterbrochen: "Es wird soeben gemeldet, dass unser Führer Adolf Hitler, im Befehlsstand der Reichskanzlei bis zum letzten Atemzug kämpfend, gefallen ist."
Da schlägt, schreibt Bohm, der "Blitz" in die Küche der Hageners ein. Die Mutter erstarrt, die Tante wirft das letzte Brikett, das sie noch haben, in den Ofen, reißt das Führerbild von der Wand und wirft es hinterher in die Glut. Die Schwestern schreien sich an. Nanning steht dazwischen. So oft ist dieses Kriegsende und das, was darauf folgte, als "Stunde null" beschrieben worden, für den Amrumer Jungen hat sie wirklich geschlagen, mit zehn Jahren. Er muss eine Lösung finden. Er liebt die Mutter. Die Mutter liebt Adolf Hitler.
Das ist die erste Geschichte, die "Amrum" erzählt. Die zweite handelt von der nordfriesischen Auswanderung in die Vereinigten Staaten, die noch bis in die Sechzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts anhielt - eine Auswanderung aus Armut. Erst mit dem wachsenden Tourismus auf Amrum und Föhr änderten sich die Verhältnisse dort. Wie arm die Inseln waren, mag man kaum glauben, wenn man Amrum und Föhr heute sieht, deutsche Traumreiseziele mit reetgedeckten Häusern und endlos weißen Stränden und Tee und Rosinenstuten. Dass es deutsche "Wirtschaftsflüchtlinge" noch gegeben hat, als das "Wirtschaftswunder" anderswo im Westen schon angebrochen war, ist in Vergessenheit geraten (jedenfalls auf dem "Festland", würden die Leute von Amrum und Föhr sagen). Bohms Roman holt diese Tatsache wieder ins kulturelle Gedächtnis zurück. Und wäre sie dort bis heute fester verankert, dann würde dieser Begriff vielleicht nicht mehr so leichtfertig benutzt, um Menschen abzustempeln, die aus Not aus ihrer Heimat fliehen, um in Deutschland etwas Besseres zu finden.
Dort, wo der Gerechtigkeitssinn des Regisseurs Hark Bohm sich sonst oft laut und deutlich in dessen Filmen gemeldet hat, ist der Roman aber viel leiser. Diese Verbindung beispielsweise zwischen der Flucht damals und der von heute muss man schon selbst ziehen. Die Männer von Little Amrum auf Long Island, von denen Nanning nur aus Erzählungen hört, bis er sie dann in ihren Army-Uniformen mit eigenen Augen sieht: Für den Zehnjährigen ist das mehr eine Abenteuergeschichte aus einer sagenumwobenen Ferne der Selbstbestimmung und Freiheit. "Amrum" lässt Kinder Kinder sein, und das merkt man nicht nur daran, wie der Roman auf Nanning blickt, der seine Mutter liebt, die stahlharte Nationalsozialistin. Man spürt es auch im Humor der Dialoge. Nanning hat auch einen kleinen Bruder, der Macker genannt wird, eine ziemliche Nervensäge für den älteren der beiden. "Zum Geburtstag möcht' ich 'n Messer", sagt Macker einmal am Mittagstisch.
"Wozu das denn?"
"Dass ich 'n Messer hab."
Tante Ena scheucht die Jungs vor die Tür. "Und nu raus, die Tiere."
Überhaupt sind Nanning und sein Freund Hermann auf Abenteuer aus. Ihre Jagd nach Kaninchen in den Dünen, das geklaute Segelboot, mit dem die beiden auf Schollenfang gehen, ein lebensgefährlicher Lauf durchs Watt zur Nachbarinsel Föhr, nur für ein Glas Honig: Eigentlich sind all das Dramen des Hungers, für die beiden Jungen aber Aufbrüche ins Erwachsenwerden, rites de passage. Das ist die dritte Geschichte dieses Romans, von zwei Freunden, die gemeinsam groß werden, und die vierte ist, dass es Hark Bohms eigene Geschichte ist.
Ist sie das wirklich? Wenn man Arnulf Conradi fragt, den Freund Bohms, und Philipp Winkler, den Mitschreiber von "Amrum", dann sprechen die davon, wie Bohm, um seine Figuren zu erklären, aus eigenen Erinnerungen schöpft, Fotos von damals zeigt, Winkler mit nach Amrum nimmt (genau wie er Fatih Akin dorthin mitnahm, um Schauplätze zu zeigen). Und Arnulf Conradi weiß sogar, wie Hermann in Wirklichkeit heißt, denn Hark sei mit ihm bis heute befreundet (und er sei auch nach Amerika ausgewandert, aber zurückgekehrt). Aber wenn man dann weiter nachfasst, ob Bohm hier eine Art Selbstvergewisserung versucht habe, der Blick zurück, dann sprechen beide: vom "Stoff". Es sei der Stoff, der ihren Freund Hark gereizt habe. Und ob der aus eigenen Erinnerungen gewebt sei, darum sei es gar nicht gegangen.
Hark Bohm hat auf drei Fragen nach seinem Debütroman schriftlich antworten können.
Wenn Sie zurückschauen auf die Amrumer Jahre: Sehen Sie erst die Figuren in der Landschaft und dann die Landschaft, oder ist das untrennbar?
Wenn man als Kind an einem Ort wie Amrum aufwächst, wird der natürlich irgendwann zu einer Selbstverständlichkeit. Mit der Freundschaft ist das ebenso. Gleichzeitig wächst mit der Zeit aber auch das Gefühl, dass es etwas Besonderes ist, Amrumer zu sein, das Meer, der ewige Wind, die Vögel. Das geht ja aus dem Roman auch klar hervor. Die Freundschaft entsteht aus der Nähe, und die ist sowohl innerlich als auch äußerlich. In diesem Falle wohnte der Freund im Nachbarhaus, und ich teilte im Grunde viele seiner Gedanken. Wie wichtig so eine Freundschaft ist, merkt man als Kind meist erst, wenn sie auseinandergeht, wenn man fortmuss.
Denkt man an Hark Bohm, denkt man automatisch: Norddeutschland. Wie wichtig waren der Tonfall, der Dialekt, die Mentalität für Ihre Arbeit?
Das Lakonische des Norddeutschen war mir immer nahe, sowohl als Amrumer als auch als Hamburger. Darin liegt eine Nüchternheit, die ich stets als gut und ehrlich empfunden habe. Deshalb gibt es in meinen Filmen auch kein Pathos (hoffe ich jedenfalls). Und die Sprache und die Haltung hinter der Sprache, das macht, glaube ich, schon einen Teil meines Wesens aus und hat sich daher auch in den Filmen ausgedrückt.
"Amrum" begann als Drehbuch und wurde dann auch zum Roman - das ist eine Premiere. Ist das nach so einer großen Karriere noch einmal etwas Besonderes für Sie: ein Buch? Ein richtig amtliches Buch?
Sie haben ganz recht: Ein Buch ist etwas Besonderes für mich. Dieser Roman ist aus einem Drehbuch entstanden, das ist richtig, aber ich beeile mich zu sagen, dass ich das Buch nicht allein geschrieben habe. Ich bin Philipp Winkler für seine Arbeit sehr dankbar. Ich glaube sehr an das Erzählerische, sowohl im Film als auch im Roman. Wie geht's weiter? Das ist immer die Frage, die ich mir stelle, wenn ich an einem Drehbuch arbeite. Wie geht's zu Ende?
Hark Bohm, Philipp Winkler: "Amrum". Roman. Ullstein Verlag, 304 Seiten, 23,99 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Amrum" heißt der erste Roman des Filmemachers Hark Bohm. Er erzählt die dramatische Geschichte einer Kindheit, die vielleicht seine eigene ist.
Von Tobias Rüther
Sie gingen als Friesen und kommen als Amerikaner wieder. Und sie sind da zwar auch immer noch Friesen, irgendwie: Aber jetzt stecken sie halt in den Uniformen der US Army.
Diese amerikanischen Friesen besetzen also die Insel hoch im Norden, von der sie stammen. Und auf der ihre Familien noch immer leben. Amrum, Mai 1945: Hitler hat sich in seinem Führerbunker umgebracht. Das Deutsche Reich hat kapituliert. Diese Nachrichten erreichen jetzt auch die Insel vor der Westküste von Schleswig - für die einen sind es gute, für die anderen schlechte. Die einen atmen auf, weil der Horror endlich vorbei ist. Die anderen, die gläubigen Nazis von Amrum, müssen jetzt zusehen, dass sie die Spuren ihres Horrors verwischen. Papiere werden verbrannt, Sprachregelungen gefunden. Es sind Nazis wie Hille Hagener, die Mutter des 10-jährigen Nanning. Dessen Vater Wilhelm wird sofort von den Besatzern verhaftet, er ist SS-Obersturmführer und Autor nationalsozialistischer Besinnungsliteratur. Nanning kennt seinen Vater kaum, liebt aber seine Mutter und würde alles für sie tun, aber er ahnt auch, nach und nach, in diesem Frühling 1945, dass da etwas nicht stimmt mit seiner Familie. Und von dieser Ahnung, dem Erwachen und Aufbrechen erzählt "Amrum", der erste Roman des Regisseurs und Schauspielers Hark Bohm. Eine Legende des deutschen Autorenfilms. Am 18. Mai wird Bohm 85 Jahre alt.
"Amrum" erzählt also vom 10-jährigen Nanning Hagener, von seiner hochschwangeren Mutter, seinem Freund Hermann, seiner aufrechten Tante Ena und seinem nach Amerika ausgewanderten Onkel Theo, der jetzt als G. I. auf die Insel zurückkehrt. Der Roman erzählt das alles in einem einsilbigen, leisen, leidenschaftlichen Ton, aus dem man immer wieder das norddeutsche Timbre Bohms herauszuhören glaubt. Ein Timbre, das man, hat man es einmal gehört, ebenso wenig vergisst wie Bohms markante Physiognomie. Der Mann sah halt immer so aus wie die Geschichten, die er in seinen Filmen erzählt hat, sie handelten meist von Idealisten im Kampf gegen das System. Von Aufrechten, von Aufbrechern, davon, dass mit Vernunft und Leidenschaft die Sachen schon gut ausgehen werden und dass aber die zur Verantwortung gezogen werden müssen, die sie in den Sand gesetzt haben.
Dass Hark Bohm Geschichten inszenieren und spielen kann, wusste man schon immer: Sein Film "Nordsee ist Mordsee" von 1976, die Geschichte von Uwe und Dschingis, die mit dem geklauten Segelboot etwas Besseres als den Tod finden, ist der deutsche Filmklassiker des internationalen Coming-of-Age-Genres. Wann immer der Regisseur Bohm dann aber auch selbst vor der Kamera auftrat, wie in so gut wie allen entscheidenden Fassbinder-Filmen beispielsweise - dann waren das zwar meist Nebenrollen. Die Eindringlichkeit aber, die Bohm seinen Figuren verlieh, wirkte nach. Im Laufe der Zeit waren oft Juristen, Direktoren unter diesen Figuren, Leute mit Autorität (Bohm war im echten Leben auch Filmprofessor in Hamburg). Leute, die man mehr respektiert als liebt. Bohm hat es seinem Publikum nie leicht gemacht.
Die Entstehungsgeschichte des ersten Romans in der langen Karriere des Hark Bohm ist aber auch nicht leicht zu erzählen. Denn Hark Bohm ist sehr krank. Und das hat die Fertigstellung seines literarischen Debüts erschwert. Vor einiger Zeit, als es Bohm noch besser ging, hat er ein Drehbuch geschrieben, das aus den Erinnerungen an seine Kindheit auf Amrum schöpft. Die Geschichte wird jetzt fürs Kino verfilmt von Fatih Akin, die Dreharbeiten haben in dieser Woche begonnen, Diane Kruger wird dabei sein, Laura Tonke, Lisa Hagmeister, Detlev Buck. Mit Fatih Akin hat Bohm schon oft zusammengearbeitet, bei dessen Romanadaptionen wie "Der goldene Handschuh" und "Tschick" oder der NSU-Geschichte "Aus dem Nichts". Und jetzt wollten die beiden also die Geschichte von Nanning erzählen.
Das Drehbuch zu "Amrum" bekam in der Frühphase dieses neuen Projekts Arnulf Conradi in die Hände, der gemeinsam mit Elisabeth Ruge vor 30 Jahren den Berlin Verlag gründete. Conradi las begeistert - und erklärte seinem Freund Hark sofort: Aus der Geschichte musst du auch einen Roman machen! Und so begann Bohm, an einem literarischen Text zu schreiben, aufbauend auf den Dialogen, die er für seine Geschichte von Nanning, hinter der sich seine eigene verbarg, schon geschrieben hatte.
Bis Bohms Gesundheit die Arbeit am Manuskript bald aber nicht mehr zuließ. Der Roman sollte trotzdem unbedingt fertig werden. Auf Vermittlung von Elisabeth Ruge, die mittlerweile eine Literaturagentur leitet, kam dann der Schriftsteller Philipp Winkler ("Hool") ins Spiel. Gemeinsam mit Hark Bohm und unterstützt von dessen Ehefrau Natalia, begann dann ein kollektiver literarischer Schreibprozess, in dem Winkler, nach intensiven Gesprächen mit Bohm, nach einem gemeinsamen Besuch der beiden auf Amrum, für die Zwischenräume und Hintergründe, die Tiefen und Details der Geschichte sorgte. Um das Gerüst der Dialoge herum, die Bohm für sein Drehbuch geschrieben hatte. Wenn man mit Winkler über diese Arbeit spricht, dann klingt es so, als hätte ihm Bohm mit seinen Erzählungen die Hand beim Schreiben geführt. Im gedruckten Text jedenfalls ist zwischen Bohms Dialogen und Winklers Passagen kein Tonwechsel zu erkennen.
In dieser Geschichte von Nanning und seiner Familie sind gleich mehrere andere angelegt. Einmal die Geschichte eines Kriegsendes in der deutschen Provinz. Und auch wenn Amrum wie eine weit entfernte Insel wirkt, ist dieses Ende doch repräsentativ. Hunger. Der Opa, der heimlich Feindsender hört. Ein toter englischer Kampfpilot am Strand. Denunziation noch in den letzten Minuten des Tausendjährigen Reichs. Die ersten Vertriebenen, die aus dem Osten ankommen. Die HJ exerziert weiter. Im Volksempfänger singt eben noch Ilse Werner, dann wird sie unterbrochen: "Es wird soeben gemeldet, dass unser Führer Adolf Hitler, im Befehlsstand der Reichskanzlei bis zum letzten Atemzug kämpfend, gefallen ist."
Da schlägt, schreibt Bohm, der "Blitz" in die Küche der Hageners ein. Die Mutter erstarrt, die Tante wirft das letzte Brikett, das sie noch haben, in den Ofen, reißt das Führerbild von der Wand und wirft es hinterher in die Glut. Die Schwestern schreien sich an. Nanning steht dazwischen. So oft ist dieses Kriegsende und das, was darauf folgte, als "Stunde null" beschrieben worden, für den Amrumer Jungen hat sie wirklich geschlagen, mit zehn Jahren. Er muss eine Lösung finden. Er liebt die Mutter. Die Mutter liebt Adolf Hitler.
Das ist die erste Geschichte, die "Amrum" erzählt. Die zweite handelt von der nordfriesischen Auswanderung in die Vereinigten Staaten, die noch bis in die Sechzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts anhielt - eine Auswanderung aus Armut. Erst mit dem wachsenden Tourismus auf Amrum und Föhr änderten sich die Verhältnisse dort. Wie arm die Inseln waren, mag man kaum glauben, wenn man Amrum und Föhr heute sieht, deutsche Traumreiseziele mit reetgedeckten Häusern und endlos weißen Stränden und Tee und Rosinenstuten. Dass es deutsche "Wirtschaftsflüchtlinge" noch gegeben hat, als das "Wirtschaftswunder" anderswo im Westen schon angebrochen war, ist in Vergessenheit geraten (jedenfalls auf dem "Festland", würden die Leute von Amrum und Föhr sagen). Bohms Roman holt diese Tatsache wieder ins kulturelle Gedächtnis zurück. Und wäre sie dort bis heute fester verankert, dann würde dieser Begriff vielleicht nicht mehr so leichtfertig benutzt, um Menschen abzustempeln, die aus Not aus ihrer Heimat fliehen, um in Deutschland etwas Besseres zu finden.
Dort, wo der Gerechtigkeitssinn des Regisseurs Hark Bohm sich sonst oft laut und deutlich in dessen Filmen gemeldet hat, ist der Roman aber viel leiser. Diese Verbindung beispielsweise zwischen der Flucht damals und der von heute muss man schon selbst ziehen. Die Männer von Little Amrum auf Long Island, von denen Nanning nur aus Erzählungen hört, bis er sie dann in ihren Army-Uniformen mit eigenen Augen sieht: Für den Zehnjährigen ist das mehr eine Abenteuergeschichte aus einer sagenumwobenen Ferne der Selbstbestimmung und Freiheit. "Amrum" lässt Kinder Kinder sein, und das merkt man nicht nur daran, wie der Roman auf Nanning blickt, der seine Mutter liebt, die stahlharte Nationalsozialistin. Man spürt es auch im Humor der Dialoge. Nanning hat auch einen kleinen Bruder, der Macker genannt wird, eine ziemliche Nervensäge für den älteren der beiden. "Zum Geburtstag möcht' ich 'n Messer", sagt Macker einmal am Mittagstisch.
"Wozu das denn?"
"Dass ich 'n Messer hab."
Tante Ena scheucht die Jungs vor die Tür. "Und nu raus, die Tiere."
Überhaupt sind Nanning und sein Freund Hermann auf Abenteuer aus. Ihre Jagd nach Kaninchen in den Dünen, das geklaute Segelboot, mit dem die beiden auf Schollenfang gehen, ein lebensgefährlicher Lauf durchs Watt zur Nachbarinsel Föhr, nur für ein Glas Honig: Eigentlich sind all das Dramen des Hungers, für die beiden Jungen aber Aufbrüche ins Erwachsenwerden, rites de passage. Das ist die dritte Geschichte dieses Romans, von zwei Freunden, die gemeinsam groß werden, und die vierte ist, dass es Hark Bohms eigene Geschichte ist.
Ist sie das wirklich? Wenn man Arnulf Conradi fragt, den Freund Bohms, und Philipp Winkler, den Mitschreiber von "Amrum", dann sprechen die davon, wie Bohm, um seine Figuren zu erklären, aus eigenen Erinnerungen schöpft, Fotos von damals zeigt, Winkler mit nach Amrum nimmt (genau wie er Fatih Akin dorthin mitnahm, um Schauplätze zu zeigen). Und Arnulf Conradi weiß sogar, wie Hermann in Wirklichkeit heißt, denn Hark sei mit ihm bis heute befreundet (und er sei auch nach Amerika ausgewandert, aber zurückgekehrt). Aber wenn man dann weiter nachfasst, ob Bohm hier eine Art Selbstvergewisserung versucht habe, der Blick zurück, dann sprechen beide: vom "Stoff". Es sei der Stoff, der ihren Freund Hark gereizt habe. Und ob der aus eigenen Erinnerungen gewebt sei, darum sei es gar nicht gegangen.
Hark Bohm hat auf drei Fragen nach seinem Debütroman schriftlich antworten können.
Wenn Sie zurückschauen auf die Amrumer Jahre: Sehen Sie erst die Figuren in der Landschaft und dann die Landschaft, oder ist das untrennbar?
Wenn man als Kind an einem Ort wie Amrum aufwächst, wird der natürlich irgendwann zu einer Selbstverständlichkeit. Mit der Freundschaft ist das ebenso. Gleichzeitig wächst mit der Zeit aber auch das Gefühl, dass es etwas Besonderes ist, Amrumer zu sein, das Meer, der ewige Wind, die Vögel. Das geht ja aus dem Roman auch klar hervor. Die Freundschaft entsteht aus der Nähe, und die ist sowohl innerlich als auch äußerlich. In diesem Falle wohnte der Freund im Nachbarhaus, und ich teilte im Grunde viele seiner Gedanken. Wie wichtig so eine Freundschaft ist, merkt man als Kind meist erst, wenn sie auseinandergeht, wenn man fortmuss.
Denkt man an Hark Bohm, denkt man automatisch: Norddeutschland. Wie wichtig waren der Tonfall, der Dialekt, die Mentalität für Ihre Arbeit?
Das Lakonische des Norddeutschen war mir immer nahe, sowohl als Amrumer als auch als Hamburger. Darin liegt eine Nüchternheit, die ich stets als gut und ehrlich empfunden habe. Deshalb gibt es in meinen Filmen auch kein Pathos (hoffe ich jedenfalls). Und die Sprache und die Haltung hinter der Sprache, das macht, glaube ich, schon einen Teil meines Wesens aus und hat sich daher auch in den Filmen ausgedrückt.
"Amrum" begann als Drehbuch und wurde dann auch zum Roman - das ist eine Premiere. Ist das nach so einer großen Karriere noch einmal etwas Besonderes für Sie: ein Buch? Ein richtig amtliches Buch?
Sie haben ganz recht: Ein Buch ist etwas Besonderes für mich. Dieser Roman ist aus einem Drehbuch entstanden, das ist richtig, aber ich beeile mich zu sagen, dass ich das Buch nicht allein geschrieben habe. Ich bin Philipp Winkler für seine Arbeit sehr dankbar. Ich glaube sehr an das Erzählerische, sowohl im Film als auch im Roman. Wie geht's weiter? Das ist immer die Frage, die ich mir stelle, wenn ich an einem Drehbuch arbeite. Wie geht's zu Ende?
Hark Bohm, Philipp Winkler: "Amrum". Roman. Ullstein Verlag, 304 Seiten, 23,99 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Hark Bohm und Philipp Winkler haben laut Rezensent Tobias Lentzler einen eindrücklichen Roman über das Ende des Zweiten Weltkriegs geschrieben. Die erste Hälfte spielt während des Kriegs, die Geschichte um eine regimetreue Mutter, und ihre drei Kinder, eines davon der zehn Jahre alte Nanning, basiert auf den Jugenderinnerungen des als Autorenfilmer bekannt gewordenen Bohm. Wo zunächst die Versuche Nannings im Zentrum stehen, die Familie mit Nahrungsmitteln zu versorgen, geht es in der zweiten Hälfte um den veränderten Blick des Jungen auf die Welt und auch um die plötzliche Ablehnung, die seine Familie erfahren muss, erzählt Lentzler. Er lobt besonders die Naturbeschreibungen, die sich gelegentlich auch zu Allegorien auf die Grausamkeit des Krieges fügten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Leser werden bei der Lektüre in diesem Sommer mit einem Roman belohnt, der vor allem wegen seiner genauen Naturbeschreibungen und jener Passagen, in denen der Krieg in diese scheinbare Idylle einbricht, lesenswert ist.« Tobias Lentzler Die Zeit 20240620