Nach dem Unfall sind Zeit und Welt aus den Fugen. 263 Tage liegt Felix Winter im Koma, exakt die Anzahl jener Tage, die seine Mutter vor elf Jahren mit ihm schwanger war. Dann erleben die Menschen um ihn herum ein Wunder: An einem prächtigen Sommertag kehrt er zurück ins Leben. Und nennt sich von nun an anders, nämlich Anders. Er hat keinerlei Erinnerung mehr an die Zeit vor dem Unfall oder an den Unfall selbst ... und es gibt jemanden, der alles dafür tun wird, dass das so bleibt. Andreas Steinhöfel liest selbst: gewohnt genial und ungekürzt!
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.12.2014Ein Muster in der Haut der Welt
Andreas Steinhöfels „Anders“ ist ein aufregendes, aufrechtes Buch über die Freiheit und Unabhängigkeit
der Kindheit. In dem die Kinder als Flammen der Zukunft entgegenstreben
Kackvieh, sagt der alte Stack missbilligend zu Romy, er scheucht sie vom Tisch, nimmt eine Küchenrolle, reißt ein Blatt ab und wischt den Batzen grün-weißen Hennenschiss, den sie eben produzierte, von der Zeitung, die auf dem Tisch liegt. Eckhard Stack, 73 Jahre. Romy ist seine letzte Henne, sie hat Schreckliches durchgemacht, als damals das Hühnerhaus niedergebrannt wurde, all die andern Hennen sind jämmerlich gestorben. Romy heißt nach Romy Schneider, natürlich, der Lieblingsschauspielerin von Stacks toter Frau.
Der Tod ist allgegenwärtig in diesem Buch, das so intensiv vom Leben erzählt wie wenige sonst in der letzten Zeit. Tod durch Krankheit, gewaltsamer Tod, Todesahnung und Todesdrohung und Todeslust. Sich sinken lassen im Fluss, bis die Luft ausgeht und man nicht mehr nach oben kommt. In dem bekackten Zeitungsartikel geht es um eine wunderbare Rückkehr aus einem kleinen Tod, der Schüler Felix Winter ist aus einem langen Koma aufgewacht, 263 Tage – eine Primzahl –, in das er nach einem Autounfall fiel. Nun will er nicht mehr Felix heißen, sondern Anders.
Das Nahtoderlebnis hat ihn verändert. Das Glück, das sein Name signalisierte, ist ihm suspekt geworden. Er ist unnahbarer geworden, unabhängig und unberechenbar, aber auch sensitiver als die gewöhnlichen Menschen es sind. Man nimmt, wie er nun mit anderen umgeht und Kontakt aufnimmt, mit Freunden, Mitschülern, den Eltern, als befremdlich und bedrohlich wahr: „Welchen Zustand ich auch einnehme: In ihm kann ich die mich erfüllenden Farben und Töne bündeln zu Nadeln aus gleißendem Licht. In diesem Licht lese ich Menschen, und mit den Nadelspitzen steche ich ein Muster in die Haut der Welt.“
Von diesen Erfahrungen, in denen Rationalität sich mit transzendenten, gar psychedelischen Momenten zusammentut, hatte man in den Sechzigern geträumt, im Kreis um Ronald D. Laing zum Beispiel. Eine neue Art der Kommunikation, des Zusammenspiels der Menschen, in dem die alten Ordnungen auf den Kopf gestellt werden. Ein Junge, der sich einen eigenen Namen gibt, der Menschen ihre Krankheiten auf den Kopf zusagt, ihre Zukunft verheißt. Ein Schrecken für alle Helikoptereltern. Anders klettert auf eine riesige Blutbuche, von der aus man die kleine Stadt im Lahntal sehen kann. Er stürzt und fällt viele Meter hinunter, landet zerkratzt und blutig am Boden. „Der Vater reagiert darauf zuerst erschreckt, dann heimlich erfreut. Er klagt nicht und erhebt keine Vorwürfe, er bewahrt Ruhe, er sanktioniert nicht. Tief empfundene, wahre Sorge um das Kind ist einer der Gründe . . . geboren aus dem Wissen, dass das Aufstehen nur erlernen kann, wer zuvor gefallen ist.“
Es ist ein Buch vom Leben, das heißt, ein Buch, das vom Wandel lebt. Man kann die Zustände und Befindlichkeiten der Menschen nicht konservieren, für immer, das Leben ist immer nur Metamorphose. Von Veränderungen, die es ausmacht, erzählt Andreas Steinhöfel nicht zielstrebig, sondern punktuell, in einzelnen Momenten und Andeutungen, aus denen keine Summe sich ergeben wird. Man kann sich in diesem Buch verlaufen, den kleinsten Veränderungen nachspüren, und die Freiheit des Erzählens entspricht der Freiheit des Handelns. Die dunkelste, grausamste, unbegreiflichste Geschichte – sie lässt alles von Hans-Christian Andersen weit hinter sich – handelt von einer kleinen Nixe, die aus der Tiefe heraufgelockt und von Menschen getötet wird, wofür ihre Mutter härteste Rache nimmt . . .
Nur die Kinder machen Hoffnung in diesem Buch. „Ich hatte ganz vergessen“, sagt der alte Stack zu Anders, „wie hell ihr seid. Das Licht im Dunkel der Welt. Wirklich, so ist es, ihr strebt der Zukunft als Flammen entgegen: voller Hoffnung, mit dem Glauben an Veränderung. Mir ist dieses Licht abhandengekommen . . .“
FRITZ GÖTTLER
Andreas Steinhöfel: Anders. Illustrationen Peter Schössow. Carlsen (Königskinder) 2014. 236 Seiten, 16,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Andreas Steinhöfels „Anders“ ist ein aufregendes, aufrechtes Buch über die Freiheit und Unabhängigkeit
der Kindheit. In dem die Kinder als Flammen der Zukunft entgegenstreben
Kackvieh, sagt der alte Stack missbilligend zu Romy, er scheucht sie vom Tisch, nimmt eine Küchenrolle, reißt ein Blatt ab und wischt den Batzen grün-weißen Hennenschiss, den sie eben produzierte, von der Zeitung, die auf dem Tisch liegt. Eckhard Stack, 73 Jahre. Romy ist seine letzte Henne, sie hat Schreckliches durchgemacht, als damals das Hühnerhaus niedergebrannt wurde, all die andern Hennen sind jämmerlich gestorben. Romy heißt nach Romy Schneider, natürlich, der Lieblingsschauspielerin von Stacks toter Frau.
Der Tod ist allgegenwärtig in diesem Buch, das so intensiv vom Leben erzählt wie wenige sonst in der letzten Zeit. Tod durch Krankheit, gewaltsamer Tod, Todesahnung und Todesdrohung und Todeslust. Sich sinken lassen im Fluss, bis die Luft ausgeht und man nicht mehr nach oben kommt. In dem bekackten Zeitungsartikel geht es um eine wunderbare Rückkehr aus einem kleinen Tod, der Schüler Felix Winter ist aus einem langen Koma aufgewacht, 263 Tage – eine Primzahl –, in das er nach einem Autounfall fiel. Nun will er nicht mehr Felix heißen, sondern Anders.
Das Nahtoderlebnis hat ihn verändert. Das Glück, das sein Name signalisierte, ist ihm suspekt geworden. Er ist unnahbarer geworden, unabhängig und unberechenbar, aber auch sensitiver als die gewöhnlichen Menschen es sind. Man nimmt, wie er nun mit anderen umgeht und Kontakt aufnimmt, mit Freunden, Mitschülern, den Eltern, als befremdlich und bedrohlich wahr: „Welchen Zustand ich auch einnehme: In ihm kann ich die mich erfüllenden Farben und Töne bündeln zu Nadeln aus gleißendem Licht. In diesem Licht lese ich Menschen, und mit den Nadelspitzen steche ich ein Muster in die Haut der Welt.“
Von diesen Erfahrungen, in denen Rationalität sich mit transzendenten, gar psychedelischen Momenten zusammentut, hatte man in den Sechzigern geträumt, im Kreis um Ronald D. Laing zum Beispiel. Eine neue Art der Kommunikation, des Zusammenspiels der Menschen, in dem die alten Ordnungen auf den Kopf gestellt werden. Ein Junge, der sich einen eigenen Namen gibt, der Menschen ihre Krankheiten auf den Kopf zusagt, ihre Zukunft verheißt. Ein Schrecken für alle Helikoptereltern. Anders klettert auf eine riesige Blutbuche, von der aus man die kleine Stadt im Lahntal sehen kann. Er stürzt und fällt viele Meter hinunter, landet zerkratzt und blutig am Boden. „Der Vater reagiert darauf zuerst erschreckt, dann heimlich erfreut. Er klagt nicht und erhebt keine Vorwürfe, er bewahrt Ruhe, er sanktioniert nicht. Tief empfundene, wahre Sorge um das Kind ist einer der Gründe . . . geboren aus dem Wissen, dass das Aufstehen nur erlernen kann, wer zuvor gefallen ist.“
Es ist ein Buch vom Leben, das heißt, ein Buch, das vom Wandel lebt. Man kann die Zustände und Befindlichkeiten der Menschen nicht konservieren, für immer, das Leben ist immer nur Metamorphose. Von Veränderungen, die es ausmacht, erzählt Andreas Steinhöfel nicht zielstrebig, sondern punktuell, in einzelnen Momenten und Andeutungen, aus denen keine Summe sich ergeben wird. Man kann sich in diesem Buch verlaufen, den kleinsten Veränderungen nachspüren, und die Freiheit des Erzählens entspricht der Freiheit des Handelns. Die dunkelste, grausamste, unbegreiflichste Geschichte – sie lässt alles von Hans-Christian Andersen weit hinter sich – handelt von einer kleinen Nixe, die aus der Tiefe heraufgelockt und von Menschen getötet wird, wofür ihre Mutter härteste Rache nimmt . . .
Nur die Kinder machen Hoffnung in diesem Buch. „Ich hatte ganz vergessen“, sagt der alte Stack zu Anders, „wie hell ihr seid. Das Licht im Dunkel der Welt. Wirklich, so ist es, ihr strebt der Zukunft als Flammen entgegen: voller Hoffnung, mit dem Glauben an Veränderung. Mir ist dieses Licht abhandengekommen . . .“
FRITZ GÖTTLER
Andreas Steinhöfel: Anders. Illustrationen Peter Schössow. Carlsen (Königskinder) 2014. 236 Seiten, 16,90 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.01.2015Eine schwarze Aura muss nicht so bleiben
Nach Rico und Oskar: Mit "Anders" legt Andreas Steinhöfel ein Meisterwerk vor
Ein Junge hat einen Unfall, eigentlich sogar zwei Unfälle nacheinander, an denen paritätisch beide Elternteile beteiligt sind, und fällt ins Koma. Nach einem Dreivierteljahr wacht der nunmehr fast Zwölfjährige auf. Die Erinnerung an sein Leben vor dem Unfall scheint verschüttet, dafür verfügt er über eine Reihe neuer Fähigkeiten: Er ist offensichtlich zum Synästhetiker geworden, der Musik mit Farben und Gerüchen verknüpft. Er interessiert sich auf einmal für die exakten Wissenschaften und lässt seine bisherigen Lieblingsfächer aus dem sprachlich-musischen Bereich links liegen. Vor allem aber ist er plötzlich mit einem beinahe unheimlichen Talent zur Diagnose seiner Mitmenschen begabt. Er nimmt um jeden, der ihm begegnet, eine farbige Aura wahr, die ihm Aufschlüsse über die Verfasstheit seines Gegenübers gestattet - ist er zufrieden mit sich, ist er aggressiv, verliebt, verzweifelt, zerfressen vom Hass auf die Welt?
Das könnte eine Geschichte mit Schlagseite ins Esoterische werden. Tatsächlich ist Andreas Steinhöfels neuer Roman "Anders" meilenweit davon entfernt. Denn das Dasein des verunglückten Jungen ist nach dem Erwachen aus dem Koma trotz aller Aurenseherei und trotz der geradezu unheimlichen Selbstsicherheit, über die er nun verfügt, keineswegs besser als zuvor. Zwischen dem Jungen und seiner Umgebung liegt eine Distanz, die man dem Kind geradezu an seinen prüfend-grauen Augen ablesen kann, und die der Junge trotz vieler Anläufe lange Zeit nicht überwinden kann. Hinzu kommt, dass seine freimütig geäußerten Diagnosen über andere ihn nicht unbedingt beliebt machen.
Er droht zum Freak zu werden, vor allem in den Augen derer, die ihm nichts entgegenzusetzen haben - allen voran seine Mutter, für die "Beschützen" und "Kontrolle" synonym sind und die sich umso weniger damit abfinden kann, dass ihr Sohn ausgerechnet in der heimischen Garagenauffahrt verunglückte und ausgerechnet unter ihr Auto geriet. Amnesie, heißt es einmal, sei doch vielleicht ein "Geschenk", schließlich könne man sich dadurch "neu erfinden". Womit das bezahlt wird, und wo die Grenzen dieser Einladung zum Neustart sind, macht das Buch sehr deutlich.
"Anders" heißt der Roman, es ist der Name, den sich der aus dem Koma erwachte Felix selbst gibt, eben weil sich alles für ihn verändert hat. Neu ist auch der Publikationsort des Buches, das der langjährige Carlsen-Autor Steinhöfel im neuen Verlagsimprint "Königskinder" erscheinen ließ. Und wer von diesem Buch etwas Ähnliches wie Steinhöfels Erfolgstrilogie um die Berliner Kinder Rico und Oskar erwartet, wird sich ebenfalls auf etwas ganz anderes einstellen müssen. Das teilt sich von der ersten Seite an mit.
Sprachlich hält der Roman die Waage zwischen Erzählung und Reflexion. Er stellt seine Konstruiertheit aus (so liegt Felix exakt dieselbe Anzahl von Tagen im Koma, wie einst die Schwangerschaft seiner Mutter dauerte), stößt den Leser immer wieder mit der Nase auf Unerklärliches und durchbricht im nächsten Atemzug diese Stimmung durch ausgesprochen komische Passagen.
Es geht ums Ganze, wie sich rasch mitteilt, um Leben, Tod und Liebe, aber all das im Mikrokosmos einer kleinen Gemeinde an der Lahn, die ihre Protagonisten wie unter einer Glasglocke beieinanderhält, als ob das Wegziehen nicht furchtbar einfach wäre - ganz am Ende des Romans wird diese Möglichkeit dann auch dankbar genutzt für einen Neuanfang, der überfällig war.
Im symbolischen Zentrum des Buches steht eine abgründige Stelle in der Lahn, das Erler Loch, "ein Hohlraum im Flussboden, eine geologische Verwerfung, angeblich, oder bloß ein Spalt im felsigen Untergrund". Dort zu baden ist gefährlich - wegen der Strudel, die sich dort bilden, so lautet die nüchterne Erklärung; wegen der Nixe, die dort im tiefen Wasser ihr von den Menschen geraubtes Kind beweint und sich deshalb Menschenkinder greift, so lautet die phantasievolle örtliche Legende.
Meisterlich spielt Steinhöfel mit beiden Ebenen. Der Strudel gerät zum Bild für die Komazeit des Jungen, wird zur physischen Bedrohung und symbolisiert schließlich auch das verstörende Geheimnis, mit dem Felix kurz vor seinem Unfall durch die Straßen seiner Gemeinde laufen musste und das er als Anders verzweifelt zu rekonstruieren versucht.
Den anderen bleibt da nur, sich mit der neuen Situation zu arrangieren und die eigenen Spielräume auszuloten. Denn auch davon erzählt dieser fabelhafte Roman: wie das Leben für niemanden einfach so weitergehen kann, der jemanden liebt, der sich von Grund auf geändert hat. Wie elterliche Fürsorge, die erdrückend geworden ist, nicht einfach in beleidigte Gleichgültigkeit umschlagen muss. Und wie man ein schuldig gewordenes Kind aus seiner Sackgasse holen kann, indem man es erst einmal in den Arm nimmt.
Ob das ein Kinderbuch ist, fragt man sich beim Lesen oft, ein Jugendbuch, ein Roman für Erwachsene? Wahrscheinlich kann man es in jedem Alter lesen, mit Anspannung, Bewunderung für den Autor und Zuneigung zu den Protagonisten, und schließlich sollte man zunächst all dies von Literatur erwarten. Daraus lernen aber können wohl Eltern am meisten. Wie man ein Kind ins Freie entlässt, beispielsweise, und wie man ihm dennoch das Leben retten kann, wenn es darauf ankommt.
TILMAN SPRECKELSEN
Andreas Steinhöfel: "Anders". Mit Bildern von Peter Schössow. Verlag Königskinder, Hamburg 2014. 240 S., geb., 16,90 [Euro]. Ab 12 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nach Rico und Oskar: Mit "Anders" legt Andreas Steinhöfel ein Meisterwerk vor
Ein Junge hat einen Unfall, eigentlich sogar zwei Unfälle nacheinander, an denen paritätisch beide Elternteile beteiligt sind, und fällt ins Koma. Nach einem Dreivierteljahr wacht der nunmehr fast Zwölfjährige auf. Die Erinnerung an sein Leben vor dem Unfall scheint verschüttet, dafür verfügt er über eine Reihe neuer Fähigkeiten: Er ist offensichtlich zum Synästhetiker geworden, der Musik mit Farben und Gerüchen verknüpft. Er interessiert sich auf einmal für die exakten Wissenschaften und lässt seine bisherigen Lieblingsfächer aus dem sprachlich-musischen Bereich links liegen. Vor allem aber ist er plötzlich mit einem beinahe unheimlichen Talent zur Diagnose seiner Mitmenschen begabt. Er nimmt um jeden, der ihm begegnet, eine farbige Aura wahr, die ihm Aufschlüsse über die Verfasstheit seines Gegenübers gestattet - ist er zufrieden mit sich, ist er aggressiv, verliebt, verzweifelt, zerfressen vom Hass auf die Welt?
Das könnte eine Geschichte mit Schlagseite ins Esoterische werden. Tatsächlich ist Andreas Steinhöfels neuer Roman "Anders" meilenweit davon entfernt. Denn das Dasein des verunglückten Jungen ist nach dem Erwachen aus dem Koma trotz aller Aurenseherei und trotz der geradezu unheimlichen Selbstsicherheit, über die er nun verfügt, keineswegs besser als zuvor. Zwischen dem Jungen und seiner Umgebung liegt eine Distanz, die man dem Kind geradezu an seinen prüfend-grauen Augen ablesen kann, und die der Junge trotz vieler Anläufe lange Zeit nicht überwinden kann. Hinzu kommt, dass seine freimütig geäußerten Diagnosen über andere ihn nicht unbedingt beliebt machen.
Er droht zum Freak zu werden, vor allem in den Augen derer, die ihm nichts entgegenzusetzen haben - allen voran seine Mutter, für die "Beschützen" und "Kontrolle" synonym sind und die sich umso weniger damit abfinden kann, dass ihr Sohn ausgerechnet in der heimischen Garagenauffahrt verunglückte und ausgerechnet unter ihr Auto geriet. Amnesie, heißt es einmal, sei doch vielleicht ein "Geschenk", schließlich könne man sich dadurch "neu erfinden". Womit das bezahlt wird, und wo die Grenzen dieser Einladung zum Neustart sind, macht das Buch sehr deutlich.
"Anders" heißt der Roman, es ist der Name, den sich der aus dem Koma erwachte Felix selbst gibt, eben weil sich alles für ihn verändert hat. Neu ist auch der Publikationsort des Buches, das der langjährige Carlsen-Autor Steinhöfel im neuen Verlagsimprint "Königskinder" erscheinen ließ. Und wer von diesem Buch etwas Ähnliches wie Steinhöfels Erfolgstrilogie um die Berliner Kinder Rico und Oskar erwartet, wird sich ebenfalls auf etwas ganz anderes einstellen müssen. Das teilt sich von der ersten Seite an mit.
Sprachlich hält der Roman die Waage zwischen Erzählung und Reflexion. Er stellt seine Konstruiertheit aus (so liegt Felix exakt dieselbe Anzahl von Tagen im Koma, wie einst die Schwangerschaft seiner Mutter dauerte), stößt den Leser immer wieder mit der Nase auf Unerklärliches und durchbricht im nächsten Atemzug diese Stimmung durch ausgesprochen komische Passagen.
Es geht ums Ganze, wie sich rasch mitteilt, um Leben, Tod und Liebe, aber all das im Mikrokosmos einer kleinen Gemeinde an der Lahn, die ihre Protagonisten wie unter einer Glasglocke beieinanderhält, als ob das Wegziehen nicht furchtbar einfach wäre - ganz am Ende des Romans wird diese Möglichkeit dann auch dankbar genutzt für einen Neuanfang, der überfällig war.
Im symbolischen Zentrum des Buches steht eine abgründige Stelle in der Lahn, das Erler Loch, "ein Hohlraum im Flussboden, eine geologische Verwerfung, angeblich, oder bloß ein Spalt im felsigen Untergrund". Dort zu baden ist gefährlich - wegen der Strudel, die sich dort bilden, so lautet die nüchterne Erklärung; wegen der Nixe, die dort im tiefen Wasser ihr von den Menschen geraubtes Kind beweint und sich deshalb Menschenkinder greift, so lautet die phantasievolle örtliche Legende.
Meisterlich spielt Steinhöfel mit beiden Ebenen. Der Strudel gerät zum Bild für die Komazeit des Jungen, wird zur physischen Bedrohung und symbolisiert schließlich auch das verstörende Geheimnis, mit dem Felix kurz vor seinem Unfall durch die Straßen seiner Gemeinde laufen musste und das er als Anders verzweifelt zu rekonstruieren versucht.
Den anderen bleibt da nur, sich mit der neuen Situation zu arrangieren und die eigenen Spielräume auszuloten. Denn auch davon erzählt dieser fabelhafte Roman: wie das Leben für niemanden einfach so weitergehen kann, der jemanden liebt, der sich von Grund auf geändert hat. Wie elterliche Fürsorge, die erdrückend geworden ist, nicht einfach in beleidigte Gleichgültigkeit umschlagen muss. Und wie man ein schuldig gewordenes Kind aus seiner Sackgasse holen kann, indem man es erst einmal in den Arm nimmt.
Ob das ein Kinderbuch ist, fragt man sich beim Lesen oft, ein Jugendbuch, ein Roman für Erwachsene? Wahrscheinlich kann man es in jedem Alter lesen, mit Anspannung, Bewunderung für den Autor und Zuneigung zu den Protagonisten, und schließlich sollte man zunächst all dies von Literatur erwarten. Daraus lernen aber können wohl Eltern am meisten. Wie man ein Kind ins Freie entlässt, beispielsweise, und wie man ihm dennoch das Leben retten kann, wenn es darauf ankommt.
TILMAN SPRECKELSEN
Andreas Steinhöfel: "Anders". Mit Bildern von Peter Schössow. Verlag Königskinder, Hamburg 2014. 240 S., geb., 16,90 [Euro]. Ab 12 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main