Anna Karenina ist die einfache Geschichte einer Dame der hohen russischen Gesellschaft, die an einen ungeliebten Mann verheiratet ist, sich in einen andern verliebt, ihren Gatten verlässt und sich schließlich, den vielerlei Konflikten ihrer Lage nicht mehr gewachsen, unter die Räder eines Zuges wirft.
Maupassant hätte daraus eine Studie von zwanzig Seiten gemacht, Altenberg eine Skizze von zwei Seiten. Tolstoi hat dreizehnhundert Seiten darüber geschrieben, und man hat den Eindruck, er hätte auch das Doppelte und Dreifache schreiben können. Es gibt Schilderer, die die Breite absolut nicht vertragen und sofort langweilig werden, wenn sie sich nur ein bisschen expandieren, und es gibt Seelenmaler, die überhaupt erst bei der Breite anfangen. Unter diese gehört Tolstoi. Er ist gar nicht geschwätzig, er sagt niemals etwas Entbehrliches, und er wiederholt sich nur dort, wo es ein Mangel an Realistik wäre, sich nicht zu wiederholen.
Maupassant hätte daraus eine Studie von zwanzig Seiten gemacht, Altenberg eine Skizze von zwei Seiten. Tolstoi hat dreizehnhundert Seiten darüber geschrieben, und man hat den Eindruck, er hätte auch das Doppelte und Dreifache schreiben können. Es gibt Schilderer, die die Breite absolut nicht vertragen und sofort langweilig werden, wenn sie sich nur ein bisschen expandieren, und es gibt Seelenmaler, die überhaupt erst bei der Breite anfangen. Unter diese gehört Tolstoi. Er ist gar nicht geschwätzig, er sagt niemals etwas Entbehrliches, und er wiederholt sich nur dort, wo es ein Mangel an Realistik wäre, sich nicht zu wiederholen.
Leo Tolstoj "Anna Karenina"
Das ist der Roman Greta Garbos: Keine Frau hat je einen Wronskij so angeschaut wie sie, keine hat je so gelitten, keine ist je so wunderbar unter einen Zug gefallen wie die Garbo, über keine weint man so wunderbar hemmungslos und schön wie über sie. Wer weiß, ob Tolstoj wirklich noch größer wäre, wenn ihn nicht immer seine moralischen Ideen dazu verlockten, das, was er so hinreißend darstellt, auszubalancieren durch das, was er für besser hält: So meint er hier, der unwiderstehlichsten aller Liebesbezauberungen (leider ist der Geliebte ein Hohlkopf, Gott ist blind, aber was soll die Garbo tun) einen Mann entgegenstellen zu müssen, der, wie weiland bei Rousseau, im Ackerbau das Ziel des menschlichen Geistes sieht und im Kinderkriegen das Glück der Frau. Die Frau heißt Kitty, und ein schlichter Bauer spricht dann den Sinn des Lebens aus. Die Garbo kümmert sich um das alles aber nicht, und die ganz Großen, auch wenn sie also zu wissen glauben, was gut wäre, werden dann doch eher noch größer, wo sie schildern, was sie am liebsten gar nicht sähen. Und wie Dantes Sprache schmilzt, wo er Francesca in der Hölle zeigt, so analysiert Tolstoj, eh er sie zugrundegehn läßt, die Garbo so eindringlich und dann doch durchdrungen von ihrer Schönheit, vom Recht ihrer Sinne und von der ruhigen Größe ihres Verlangens nach Glück, daß man kaum die unendliche Weite dieser schreibenden Seele wahrhaben möchte, wenn sie dann, nach soviel Glanz und Leid, behaupten mag, der Mensch sei doch noch ein andrer und wer nicht an den Ackerbau glaube, lande mit Recht unter der Eisenbahn. Richtig hassenswert sieht er dann aus in seiner ackerkrumenbraunen Rechtschaffenheit. Aber dann kommt uns wieder die Garbo in den Sinn, und wir sagen uns (und fangen noch einmal das Buch an): Wer das erfunden und geschrieben haben kann, dem ist alles vergeben. Soll er sich ruhig als Gott aufspielen - was ist das schon neben solchen Gestalten! (Leo Tolstoj: "Anna Karenina". Aus dem Russischen übersetzt von Fred Ottow. Deutscher Taschenbuch Verlag, München. 1024 S., br., 24,90 DM; ebenfalls bei Diogenes, Insel, Nymphenburger.) R.V.
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Die schöne Anna Karenina ist eine der unglücklichsten Ehebrecherinnen der Weltliteratur. Westphal liest Tolstois tragisches Meisterwerk mit richtigen Dosis Gefühl. (Hörzu)