Lebt es noch oder isst Du es schon?
Karen Duve gehörte nicht eben zur Gesundheitsfraktion. Bratwürstchen und Gummibären wanderten genauso in ihren Einkaufswagen wie Schokolade und Curryketchup in 1-L-Plastikflaschen. Doch dann zog sie mit jemandem zusammen, der schnell den Spitznamen Jiminy Grille erhielt - nach dem personifizierten Gewissen der Holzpuppe Pinocchio. Denn Jiminy schrie auf, wenn Karen Duve nach der "Grillhähnchenpfanne für 2,99" griff. Und Karen Duve musste einräumen, dass das Leben der "Grillhähnchenpfanne" vor ihrer Schockfrostung wohl eher unerfreulich gewesen war. So stellten sich vor der Tiefkühltheke schnell grundlegende Fragen: Darf man Tiere eigentlich essen? Und wenn Tiere nicht, warum dann Pflanzen? Wo beginnt die menschliche Empathie, und warum?
Irgendwann wollte Karen Duve es wirklich wissen: Jeweils zwei Monate lang testet sie seitdem Ernährungsweisen mit moralischem Anspruch: Biologisch-organisch, vegetarisch, vegan und am Ende sogar frutarisch, also nur das, was die Pflanze freiwillig spendet. Schonungslos und mit der ihr eigenen knochentrockenen Komik setzt sie sich jenseits aller Ideologien mit der Frage auseinander: Wie viel gönne ich mir auf Kosten anderer?
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Karen Duve gehörte nicht eben zur Gesundheitsfraktion. Bratwürstchen und Gummibären wanderten genauso in ihren Einkaufswagen wie Schokolade und Curryketchup in 1-L-Plastikflaschen. Doch dann zog sie mit jemandem zusammen, der schnell den Spitznamen Jiminy Grille erhielt - nach dem personifizierten Gewissen der Holzpuppe Pinocchio. Denn Jiminy schrie auf, wenn Karen Duve nach der "Grillhähnchenpfanne für 2,99" griff. Und Karen Duve musste einräumen, dass das Leben der "Grillhähnchenpfanne" vor ihrer Schockfrostung wohl eher unerfreulich gewesen war. So stellten sich vor der Tiefkühltheke schnell grundlegende Fragen: Darf man Tiere eigentlich essen? Und wenn Tiere nicht, warum dann Pflanzen? Wo beginnt die menschliche Empathie, und warum?
Irgendwann wollte Karen Duve es wirklich wissen: Jeweils zwei Monate lang testet sie seitdem Ernährungsweisen mit moralischem Anspruch: Biologisch-organisch, vegetarisch, vegan und am Ende sogar frutarisch, also nur das, was die Pflanze freiwillig spendet. Schonungslos und mit der ihr eigenen knochentrockenen Komik setzt sie sich jenseits aller Ideologien mit der Frage auseinander: Wie viel gönne ich mir auf Kosten anderer?
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.01.2011Stark sein, wenn der Duft von Bratwurst in die Nase steigt
Nicht länger auf Kosten gequälter Kreaturen leben: Nach der viel diskutierten Streitschrift von Jonathan Safran Foer gegen die Massentierhaltung schildert Karen Duve, wie ihr geschah, als sie versuchte, ein besserer Mensch zu werden.
Deutschland hat wieder einen Lebensmittelskandal: krebserregende Dioxine in Eiern. Mastbetriebe wurden geschlossen, Bauern fürchten um ihre Existenz, Verbraucher um ihre Gesundheit. Was bis gestern noch gesichert schien, hat ein einziger Futterhersteller durch Profitgier aufs Spiel gesetzt.
Dass Tausende von Hühnern, denen man das mit Abfällen aus der Biodiesel-Herstellung verseuchte Futter vorgesetzt hatte, vorsorglich geschlachtet wurden, erregt hingegen niemanden. Die deutsche Landwirtschaft, so heißt es, brauche bessere Kontrollen. Das mag stimmen. Vielleicht aber braucht sie auch noch etwas ganz anderes, nämlich ein grundsätzlich anderes System. Denn von einer Landwirtschaft, für die "artgerecht" ein Fremdwort ist, die Tiere nur als Rädchen einer Produktionsmaschine für Eier, Milch und Wurst begreift, die möglichst kostengünstig funktionieren will, damit sie vor der Konkurrenz bestehen und dem Kunden jeden Wunsch jederzeit durch Dumpingpreise im Supermarkt erfüllen kann, ist kein plötzlich gesteigertes Verantwortungsbewusstsein zu erwarten.
Die Konsumenten bestätigen ihr schließlich beim täglichen Einkauf, dass sie auch so einverstanden sind - ansonsten würden sie nicht zu den zu Schleuderpreisen verkauften Lebensmitteln greifen. Dass diese nicht immer mit sauberen Mitteln arbeitet, weiß jeder, der zu Hause einen Fernseher oder Internet hat - und zwar schon vor dem Dioxin-Skandal.
Auch Karen Duve hat es gewusst. Sie kannte die Schreckensbilder aus Legehennen- und Hühnerfarmen, sie kannte die Berichte über Gammelfleisch. Sie ahnte, dass es besser wäre, beim Einkauf auf die "Hähnchen-Grillpfanne" für 2,99 Euro zu verzichten: "Irgendwo in der Peripherie meines Bewusstseins wusste ich, dass die Bedingungen, unter denen dieses Huhn einmal gelebt hatte, wohl eher unfreundlich waren." Doch es schmeckt ihr, also greift Karen Duve zu. Bis ihre neue Mitbewohnerin, die sich nur von Bio-Produkten ernährt, sie eines Tages beim Einkaufen mit berechtigten Vorwürfen konfrontiert. Die Autorin gelobt, nicht länger Diskrepanz walten zu lassen zwischen dem, was sie weiß, und dem, was sie einkauft. Ob sich diese in dem Buch beschriebene Szene in Wahrheit so zugetragen hat oder nicht, ist dabei gar nicht entscheidend. Wichtig ist, was offenbar aus einer Bewusstwerdung folgte: Duves Entscheidung, ein besserer Mensch zu werden.
Sie startet einen Selbstversuch: Zwei Monate lang wird sie nur noch Lebensmittel essen, die das EU-Bio-Siegel tragen; zwei Monate wird sie ganz auf Fleisch verzichten; dann zwei Monate als Veganerin leben und sich danach als Frutarierin ernähren - auch wenn sie erst einmal googeln muss, was das ist: Frutarier sind Menschen, die nur solche Pflanzenteile essen, deren Ernte nicht die gesamte Pflanze zerstört - Salat, Kartoffeln oder Wurzeln sind also nicht erlaubt, Äpfel, Sonnenblumenkerne und Tomaten aber schon. Was sie dabei erlebt, hat Karen Duve in einem großartigen Buch aufgeschrieben. Nach der viel diskutierten Streitschrift "Tiere essen" von Jonathan Safran Foer (F.A.Z. vom 13. August 2010) liegt mit "Anständig essen" nun ein ähnlich aufrüttelndes Plädoyer gegen die Massentierhaltung vor.
Als Bio-Neukundin stellt die Autorin zunächst erfreut fest, dass sie so gut wie jedes liebgewonnene Lebensmittel (bei Duve sind das vor allem Kekse, Schokolade, Fleisch und fetter Käse) auch mit Bio-Siegel kaufen kann. Das vergleichsweise übersichtliche Markenangebot in Bio-Läden empfindet sie sogar als psychische Erleichterung. Und schlägt trotz der hohen Preise ungehemmt zu - sie blickt schließlich entbehrungsreichen Monaten entgegen. Schnell sind vier Kilo mehr auf der Waage. Duves Fazit: "Auch mit Bio-Ernährung kann man fett werden. Man muss es sich nur leisten können." Duve belässt es jedoch nicht einfach dabei, anders einzukaufen. Sie will sich damit konfrontieren, was in deutschen Landwirtschaftsbetrieben vor sich geht, studiert Veröffentlichungen von Tierschutzorganisationen und Schriften des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Sie recherchiert im Internet und bricht sogar in eine Legehennenfarm ein. Da sie in ihrem Garten in Brandenburg gern den eigenen Hühnern beim Herumrennen, Aufplustern, Scharren und Picken zuschaut, gilt dem Federvieh ihr besonderes Interesse. Was sie herausfindet, lässt schaudern. Bei Käfighaltung ist in Deutschland die sogenannte Kleingruppenhaltung vorgeschrieben. Das klingt besser, als es ist: Bis zu sechzig Hühner sitzen in einem Käfig; der Platz, der jedem zusteht, ist so groß wie ein DIN-A4-Blatt plus Postkarte. Es gibt Sitzstangen in einer bestimmten Höhe, die eine Einladung zum Afterpicken ist - ein unter Hühnern in Gefangenschaft verbreitetes Aggressionsverhalten; oftmals ziehen sich die Tiere dabei gegenseitig die Eingeweide aus dem Bauch. Zum Glück gibt es die Bodenhaltung, denkt der Leser entrüstet, und wird wie Karen Duve schnell enttäuscht: Sind Hühner zu Tausenden zusammengepfercht, kann sich keine Rangordnung bilden. Jedes Huhn hackt deshalb auf jedes andere ein. Die Sterblichkeitsrate in Boden-, Freiland-, aber auch in Bio-Haltung liegt bei 11,8 Prozent - in einer Halle mit 20000 Hühnern sterben also täglich bis zu sieben Tiere. Nach einem Jahr voller Stress, Schmerzen, Turbofutter, schlechter Gesundheit und Bewegungsmangel werden die überlebenden Tiere umgebracht. Um sie zu betäuben, hängt man sie an den Füßen auf und zieht sie mit dem Kopf durch ein unter Strom gesetztes Wasserbad. Da viele Hühner aufgeregt flattern, verlassen viele nur unzureichend oder gar nicht betäubt das Wasser und erleben den maschinell durchgeführten Kehlenschnitt mit.
Angesichts der von ihr recherchierten Ungeheuerlichkeiten fällt Karen Duve der Abschied vom Fleisch nicht besonders schwer. Und auch zum veganen Leben ist es nur noch ein kleiner Schritt - für Duve ist Veganismus die einzig konsequente Daseinsform, wenn man Umweltzerstörung und Grausamkeit am Tier tatsächlich vermeiden will. Soweit die Theorie. Denn trotz des moralischen Überlegenheitsgefühls, das sich auf ihrem Weg zu einem ethisch korrekten Leben einstellt, wird die Autorin sich für ihren Selbstversuch auch verfluchen: Wenn ihr bei Freunden der Duft von Bratwurst in die Nase steigt; wenn ihre Mutter etwas ganz Besonderes gekocht hat, das die Tochter nicht einmal kosten kann; in der Bäckerei, wo sie immer fragen muss, ob das Backblech nicht mit Butter eingeschmiert wurde; beim erfolglosen Versuch, sich an ein veganes, daunenloses Kissen, und ihr Maultier Bonzo an einen veganen Sattel aus Kunststoff zu gewöhnen - weil alles andere inkonsequent wäre, lässt sie das Reiten irgendwann sein. Wie im Fieberwahn schaut sie zu Beginn ihres acht Monate dauernden Selbstversuchs im Fernsehen jeden Tierfilm und jede Dokumentation über Mastbetriebe und genießt es, beim Einkauf nach dem leckersten Fleischersatz zu jagen. Am Ende aber ist sie geradezu süchtig nach Kochshows und fühlt sich dabei, als gucke sie heimlich einen Pornofilm. Vor allem das Dasein als Frutarierin macht ihr zu schaffen. Es ist eine Lebensform, für die sie zwar Verständnis, aber nicht genügend Überzeugung und Energie aufbringt.
Karen Duves Buch stellt in Frage, ob die Besonderheit und Intelligenz des Menschen tatsächlich eine ausreichende Berechtigung dafür ist, der Tierwelt Mitgefühl und Rechte zu verweigern. Es regt an darüber nachzudenken, ob Grausamkeit gegenüber Tieren nicht zu ächten ist, auch wenn sie innerhalb einer Norm stattfindet. "Wenn der Skandal alltäglich ist, ist es verführerisch zu denken, man bräuchte ihn deshalb nicht zu beachten. In Wirklichkeit heißt das aber, dass unser Alltag ein Skandal ist und dass etwas grundsätzlich falsch ist an der Art, wie wir leben", schreibt sie.
Manchmal ist ihr Ton lax, dann aber wieder scharf und wütend, was der Sache aber durchaus angemessen ist - das Buch ist kein wissenschaftlicher Aufsatz, auch wenn zweifelsohne zahlreiche wissenschaftliche Erkenntnisse darin eingeflossen sind. Es ist eher eine mit ebenso viel Selbstironie gespickte und deshalb auch amüsant zu lesende Langzeitreportage über den Versuch, den eigenen ethischen Ansprüchen gerecht zu werden.
Karen Duve scheitert, und sie scheitert wiederum auch nicht: Am Ende ist sie sich sicher, dass sie nicht die Radikalität der von ihr getesteten Lebensformen übernehmen wird. Sie wählt einen für ihre Person realistischen Kompromiss: Den Fleisch- und Milchkonsum auf ein Minimum reduzieren, möglichst Bio einkaufen, jedoch auf keinen Fall Produkte aus der Massentierhaltung, auch keine Daunen- und Lederwaren. Die Autorin nutzt damit eine Fähigkeit, die der Mensch den Tieren voraus hat. Sie übernimmt Verantwortung für das, was sie weiß und wählt. Es ist der erste Schritt, um ein System zu ändern.
KAREN KRÜGER.
Karen Duve: "Anständig essen". Ein Selbstversuch.
Galiani Verlag, Berlin 2010. 335 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nicht länger auf Kosten gequälter Kreaturen leben: Nach der viel diskutierten Streitschrift von Jonathan Safran Foer gegen die Massentierhaltung schildert Karen Duve, wie ihr geschah, als sie versuchte, ein besserer Mensch zu werden.
Deutschland hat wieder einen Lebensmittelskandal: krebserregende Dioxine in Eiern. Mastbetriebe wurden geschlossen, Bauern fürchten um ihre Existenz, Verbraucher um ihre Gesundheit. Was bis gestern noch gesichert schien, hat ein einziger Futterhersteller durch Profitgier aufs Spiel gesetzt.
Dass Tausende von Hühnern, denen man das mit Abfällen aus der Biodiesel-Herstellung verseuchte Futter vorgesetzt hatte, vorsorglich geschlachtet wurden, erregt hingegen niemanden. Die deutsche Landwirtschaft, so heißt es, brauche bessere Kontrollen. Das mag stimmen. Vielleicht aber braucht sie auch noch etwas ganz anderes, nämlich ein grundsätzlich anderes System. Denn von einer Landwirtschaft, für die "artgerecht" ein Fremdwort ist, die Tiere nur als Rädchen einer Produktionsmaschine für Eier, Milch und Wurst begreift, die möglichst kostengünstig funktionieren will, damit sie vor der Konkurrenz bestehen und dem Kunden jeden Wunsch jederzeit durch Dumpingpreise im Supermarkt erfüllen kann, ist kein plötzlich gesteigertes Verantwortungsbewusstsein zu erwarten.
Die Konsumenten bestätigen ihr schließlich beim täglichen Einkauf, dass sie auch so einverstanden sind - ansonsten würden sie nicht zu den zu Schleuderpreisen verkauften Lebensmitteln greifen. Dass diese nicht immer mit sauberen Mitteln arbeitet, weiß jeder, der zu Hause einen Fernseher oder Internet hat - und zwar schon vor dem Dioxin-Skandal.
Auch Karen Duve hat es gewusst. Sie kannte die Schreckensbilder aus Legehennen- und Hühnerfarmen, sie kannte die Berichte über Gammelfleisch. Sie ahnte, dass es besser wäre, beim Einkauf auf die "Hähnchen-Grillpfanne" für 2,99 Euro zu verzichten: "Irgendwo in der Peripherie meines Bewusstseins wusste ich, dass die Bedingungen, unter denen dieses Huhn einmal gelebt hatte, wohl eher unfreundlich waren." Doch es schmeckt ihr, also greift Karen Duve zu. Bis ihre neue Mitbewohnerin, die sich nur von Bio-Produkten ernährt, sie eines Tages beim Einkaufen mit berechtigten Vorwürfen konfrontiert. Die Autorin gelobt, nicht länger Diskrepanz walten zu lassen zwischen dem, was sie weiß, und dem, was sie einkauft. Ob sich diese in dem Buch beschriebene Szene in Wahrheit so zugetragen hat oder nicht, ist dabei gar nicht entscheidend. Wichtig ist, was offenbar aus einer Bewusstwerdung folgte: Duves Entscheidung, ein besserer Mensch zu werden.
Sie startet einen Selbstversuch: Zwei Monate lang wird sie nur noch Lebensmittel essen, die das EU-Bio-Siegel tragen; zwei Monate wird sie ganz auf Fleisch verzichten; dann zwei Monate als Veganerin leben und sich danach als Frutarierin ernähren - auch wenn sie erst einmal googeln muss, was das ist: Frutarier sind Menschen, die nur solche Pflanzenteile essen, deren Ernte nicht die gesamte Pflanze zerstört - Salat, Kartoffeln oder Wurzeln sind also nicht erlaubt, Äpfel, Sonnenblumenkerne und Tomaten aber schon. Was sie dabei erlebt, hat Karen Duve in einem großartigen Buch aufgeschrieben. Nach der viel diskutierten Streitschrift "Tiere essen" von Jonathan Safran Foer (F.A.Z. vom 13. August 2010) liegt mit "Anständig essen" nun ein ähnlich aufrüttelndes Plädoyer gegen die Massentierhaltung vor.
Als Bio-Neukundin stellt die Autorin zunächst erfreut fest, dass sie so gut wie jedes liebgewonnene Lebensmittel (bei Duve sind das vor allem Kekse, Schokolade, Fleisch und fetter Käse) auch mit Bio-Siegel kaufen kann. Das vergleichsweise übersichtliche Markenangebot in Bio-Läden empfindet sie sogar als psychische Erleichterung. Und schlägt trotz der hohen Preise ungehemmt zu - sie blickt schließlich entbehrungsreichen Monaten entgegen. Schnell sind vier Kilo mehr auf der Waage. Duves Fazit: "Auch mit Bio-Ernährung kann man fett werden. Man muss es sich nur leisten können." Duve belässt es jedoch nicht einfach dabei, anders einzukaufen. Sie will sich damit konfrontieren, was in deutschen Landwirtschaftsbetrieben vor sich geht, studiert Veröffentlichungen von Tierschutzorganisationen und Schriften des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Sie recherchiert im Internet und bricht sogar in eine Legehennenfarm ein. Da sie in ihrem Garten in Brandenburg gern den eigenen Hühnern beim Herumrennen, Aufplustern, Scharren und Picken zuschaut, gilt dem Federvieh ihr besonderes Interesse. Was sie herausfindet, lässt schaudern. Bei Käfighaltung ist in Deutschland die sogenannte Kleingruppenhaltung vorgeschrieben. Das klingt besser, als es ist: Bis zu sechzig Hühner sitzen in einem Käfig; der Platz, der jedem zusteht, ist so groß wie ein DIN-A4-Blatt plus Postkarte. Es gibt Sitzstangen in einer bestimmten Höhe, die eine Einladung zum Afterpicken ist - ein unter Hühnern in Gefangenschaft verbreitetes Aggressionsverhalten; oftmals ziehen sich die Tiere dabei gegenseitig die Eingeweide aus dem Bauch. Zum Glück gibt es die Bodenhaltung, denkt der Leser entrüstet, und wird wie Karen Duve schnell enttäuscht: Sind Hühner zu Tausenden zusammengepfercht, kann sich keine Rangordnung bilden. Jedes Huhn hackt deshalb auf jedes andere ein. Die Sterblichkeitsrate in Boden-, Freiland-, aber auch in Bio-Haltung liegt bei 11,8 Prozent - in einer Halle mit 20000 Hühnern sterben also täglich bis zu sieben Tiere. Nach einem Jahr voller Stress, Schmerzen, Turbofutter, schlechter Gesundheit und Bewegungsmangel werden die überlebenden Tiere umgebracht. Um sie zu betäuben, hängt man sie an den Füßen auf und zieht sie mit dem Kopf durch ein unter Strom gesetztes Wasserbad. Da viele Hühner aufgeregt flattern, verlassen viele nur unzureichend oder gar nicht betäubt das Wasser und erleben den maschinell durchgeführten Kehlenschnitt mit.
Angesichts der von ihr recherchierten Ungeheuerlichkeiten fällt Karen Duve der Abschied vom Fleisch nicht besonders schwer. Und auch zum veganen Leben ist es nur noch ein kleiner Schritt - für Duve ist Veganismus die einzig konsequente Daseinsform, wenn man Umweltzerstörung und Grausamkeit am Tier tatsächlich vermeiden will. Soweit die Theorie. Denn trotz des moralischen Überlegenheitsgefühls, das sich auf ihrem Weg zu einem ethisch korrekten Leben einstellt, wird die Autorin sich für ihren Selbstversuch auch verfluchen: Wenn ihr bei Freunden der Duft von Bratwurst in die Nase steigt; wenn ihre Mutter etwas ganz Besonderes gekocht hat, das die Tochter nicht einmal kosten kann; in der Bäckerei, wo sie immer fragen muss, ob das Backblech nicht mit Butter eingeschmiert wurde; beim erfolglosen Versuch, sich an ein veganes, daunenloses Kissen, und ihr Maultier Bonzo an einen veganen Sattel aus Kunststoff zu gewöhnen - weil alles andere inkonsequent wäre, lässt sie das Reiten irgendwann sein. Wie im Fieberwahn schaut sie zu Beginn ihres acht Monate dauernden Selbstversuchs im Fernsehen jeden Tierfilm und jede Dokumentation über Mastbetriebe und genießt es, beim Einkauf nach dem leckersten Fleischersatz zu jagen. Am Ende aber ist sie geradezu süchtig nach Kochshows und fühlt sich dabei, als gucke sie heimlich einen Pornofilm. Vor allem das Dasein als Frutarierin macht ihr zu schaffen. Es ist eine Lebensform, für die sie zwar Verständnis, aber nicht genügend Überzeugung und Energie aufbringt.
Karen Duves Buch stellt in Frage, ob die Besonderheit und Intelligenz des Menschen tatsächlich eine ausreichende Berechtigung dafür ist, der Tierwelt Mitgefühl und Rechte zu verweigern. Es regt an darüber nachzudenken, ob Grausamkeit gegenüber Tieren nicht zu ächten ist, auch wenn sie innerhalb einer Norm stattfindet. "Wenn der Skandal alltäglich ist, ist es verführerisch zu denken, man bräuchte ihn deshalb nicht zu beachten. In Wirklichkeit heißt das aber, dass unser Alltag ein Skandal ist und dass etwas grundsätzlich falsch ist an der Art, wie wir leben", schreibt sie.
Manchmal ist ihr Ton lax, dann aber wieder scharf und wütend, was der Sache aber durchaus angemessen ist - das Buch ist kein wissenschaftlicher Aufsatz, auch wenn zweifelsohne zahlreiche wissenschaftliche Erkenntnisse darin eingeflossen sind. Es ist eher eine mit ebenso viel Selbstironie gespickte und deshalb auch amüsant zu lesende Langzeitreportage über den Versuch, den eigenen ethischen Ansprüchen gerecht zu werden.
Karen Duve scheitert, und sie scheitert wiederum auch nicht: Am Ende ist sie sich sicher, dass sie nicht die Radikalität der von ihr getesteten Lebensformen übernehmen wird. Sie wählt einen für ihre Person realistischen Kompromiss: Den Fleisch- und Milchkonsum auf ein Minimum reduzieren, möglichst Bio einkaufen, jedoch auf keinen Fall Produkte aus der Massentierhaltung, auch keine Daunen- und Lederwaren. Die Autorin nutzt damit eine Fähigkeit, die der Mensch den Tieren voraus hat. Sie übernimmt Verantwortung für das, was sie weiß und wählt. Es ist der erste Schritt, um ein System zu ändern.
KAREN KRÜGER.
Karen Duve: "Anständig essen". Ein Selbstversuch.
Galiani Verlag, Berlin 2010. 335 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.05.2011Sachbücher des
Monats Mai
Empfohlen werden nach einer monatlich erstellten Rangliste Bücher der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften sowie angrenzender Gebiete.
1. SÖNKE NEITZEL/HARALD WELZER: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, S. Fischer Verlag, 521 Seiten, 22,95 Euro
2. AVISHAI MARGALITH: Über Kompromisse und faule Kompromisse. Aus dem Englischen von Michael Bischoff, Suhrkamp Verlag, 252 Seiten, 22,90 Euro
3. KAREN DUVE: Anständig essen. Ein Selbstversuch, Galiani Verlag, 335 Seiten, 19,95 Euro
4.-5. ALAIN EHRENBERG: Das Unbehagen in der Gesellschaft. Übersetzt von Jürgen Schröder, Suhrkamp Verlag, 530 S., 29,90 Euro
DIETER HENRICH: Werke im Werden. Über die Genesis philosophischer Werke, C. H. Beck Verlag, 216 Seiten, 22,95 Euro
6. SIGMUND FREUD/MARTHA BERNAYS: Sei mein, wie ich mir’s denke. Die Brautbriefe. Band 1, hrsg. von Gerhard Fichtner, Ilse Grubrich-Simitis und Albrecht Hirschmüller, S. Fischer, 625 S., 48 Euro
7. JOACHIM RADKAU: Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, C. H. Beck Verlag, 782 Seiten, 29,95 Euro
8. IAN MORRIS: Wer regiert die Welt? Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden. Aus dem Englischen von K. Binder, W. Götting und A. Simon dos Santos, Campus Verlag, 656 S., 24,90 Euro
9.-10. TIM JACKSON: Wohlstand ohne Wachstum. Leben und Wirtschaften in einer endlichen Welt. Übersetzt von Eva Leipprant, Oekom Verlag, 272 Seiten, 22,95 Euro
BIRGIT SCHÖNAU: Circus Italia. Aus dem Inneren der Unterhaltungsdemokratie, Berlin Verlag, 219 Seiten, 18,90 Euro
Besondere Empfehlung des Monats Mai von Wolfgang Hagen:
ROBERT SPRUYTENBERG: Das LaSalle-Quartett, Gespräche mit Walter Levin, Edition Text & Kritik, 428 Seiten, 49,00 Euro
Die Jury: Rainer Blasius, Eike Gebhardt, Fritz Göttler, Wolfgang Hagen, Daniel Haufler, Otto Kallscheuer, Matthias Kamann, Petra Kammann, Guido Kalberer, Elisabeth Kiderlen, Jörg-Dieter Kogel, Hans Martin Lohmann, Ludger Lütkehaus, Herfried Münkler, Wolfgang Ritschl, Florian Rötzer, Johannes Saltzwedel, Albert von Schirnding, Jaques Schuster, Norbert Seitz, Eberhard Sens, Hilal Sezgin, Elisabeth von Thadden, Volker Ullrich, Andreas Wang, Uwe Justus Wenzel.
Redaktion: Andreas Wang (NDR Kultur)
Die nächste SZ/NDR/BuchJournal-
Liste der Sachbücher des Monats erscheint am 31. Mai.
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Monats Mai
Empfohlen werden nach einer monatlich erstellten Rangliste Bücher der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften sowie angrenzender Gebiete.
1. SÖNKE NEITZEL/HARALD WELZER: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, S. Fischer Verlag, 521 Seiten, 22,95 Euro
2. AVISHAI MARGALITH: Über Kompromisse und faule Kompromisse. Aus dem Englischen von Michael Bischoff, Suhrkamp Verlag, 252 Seiten, 22,90 Euro
3. KAREN DUVE: Anständig essen. Ein Selbstversuch, Galiani Verlag, 335 Seiten, 19,95 Euro
4.-5. ALAIN EHRENBERG: Das Unbehagen in der Gesellschaft. Übersetzt von Jürgen Schröder, Suhrkamp Verlag, 530 S., 29,90 Euro
DIETER HENRICH: Werke im Werden. Über die Genesis philosophischer Werke, C. H. Beck Verlag, 216 Seiten, 22,95 Euro
6. SIGMUND FREUD/MARTHA BERNAYS: Sei mein, wie ich mir’s denke. Die Brautbriefe. Band 1, hrsg. von Gerhard Fichtner, Ilse Grubrich-Simitis und Albrecht Hirschmüller, S. Fischer, 625 S., 48 Euro
7. JOACHIM RADKAU: Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, C. H. Beck Verlag, 782 Seiten, 29,95 Euro
8. IAN MORRIS: Wer regiert die Welt? Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden. Aus dem Englischen von K. Binder, W. Götting und A. Simon dos Santos, Campus Verlag, 656 S., 24,90 Euro
9.-10. TIM JACKSON: Wohlstand ohne Wachstum. Leben und Wirtschaften in einer endlichen Welt. Übersetzt von Eva Leipprant, Oekom Verlag, 272 Seiten, 22,95 Euro
BIRGIT SCHÖNAU: Circus Italia. Aus dem Inneren der Unterhaltungsdemokratie, Berlin Verlag, 219 Seiten, 18,90 Euro
Besondere Empfehlung des Monats Mai von Wolfgang Hagen:
ROBERT SPRUYTENBERG: Das LaSalle-Quartett, Gespräche mit Walter Levin, Edition Text & Kritik, 428 Seiten, 49,00 Euro
Die Jury: Rainer Blasius, Eike Gebhardt, Fritz Göttler, Wolfgang Hagen, Daniel Haufler, Otto Kallscheuer, Matthias Kamann, Petra Kammann, Guido Kalberer, Elisabeth Kiderlen, Jörg-Dieter Kogel, Hans Martin Lohmann, Ludger Lütkehaus, Herfried Münkler, Wolfgang Ritschl, Florian Rötzer, Johannes Saltzwedel, Albert von Schirnding, Jaques Schuster, Norbert Seitz, Eberhard Sens, Hilal Sezgin, Elisabeth von Thadden, Volker Ullrich, Andreas Wang, Uwe Justus Wenzel.
Redaktion: Andreas Wang (NDR Kultur)
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Respekt hat Karen Krüger vor diesem Selbstversuch, Respekt auch vor dem realistischen Kompromiss, den Karen Duve nach den hier mal zornig, mal gelassen aufgeschriebenen Erfahrungen als Bio-Esserin, Vegetarierin, Veganerin und Frutarierin schließlich wählt: Wissen und Handeln so gut es geht zur Übereinstimmung zu bringen und Verantwortung zu übernehmen dem Tier gegenüber. Für Krüger ein großartiges Buch, auch weil Duve es zu einem immer wieder auch mit wissenschaftlichen Erkenntnissen bereichertem Plädoyer veredelt, das die Rezensentin aufrüttelt mit gut recherchierten Szenen aus der Welt der Massentierhaltung. Und weil es sie zu einer grundsätzlichen Frage führt: Ob nämlich wirklich nur der Fehler im System das Problem ist, wenn wieder mal ein Lebensmittelskandal die Runde macht, oder nicht doch das System selbst.
© Perlentaucher Medien GmbH
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